Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 II 375



108 II 375

72. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Juni 1982 i.S. X. (Berufung)
Regeste

    Tod des Inhabers der elterlichen Gewalt bei einem Kind geschiedener
Eltern; Übertragung der elterlichen Gewalt auf den überlebenden Elternteil.

    1. Zuständig, ein Kind geschiedener Eltern nach dem Tod des Inhabers
der elterlichen Gewalt unter die elterliche Gewalt des überlebenden
Elternteils zu stellen, ist nicht nur der Richter (Art. 157 ZGB), sondern
auch die Vormundschaftsbehörde (Ergänzung der Rechtsprechung; E. 2).

    2. Hat jedoch die Vormundschaftsbehörde gestützt auf Art. 368 Abs. 1
ZGB bereits eine Vormundschaft errichtet und ein allfälliges Gesuch
des überlebenden Elternteils um Einsetzung in die elterliche Gewalt ein
erstes Mal abgewiesen, bleibt nur noch der Weg der Klage auf Abänderung
des Scheidungsurteils offen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die am 1. Februar 1970 geborene A. X. wurde bei der Scheidung
ihrer Eltern unter die elterliche Gewalt der Mutter gestellt. Nachdem
diese gestorben und das Mädchen unter Vormundschaft gestellt worden war,
reichte der Vater B. X. bei der zuständigen Vormundschaftsbehörde das
Begehren ein, die Vormundschaft sei aufzuheben und das Mädchen sei unter
seine elterliche Gewalt zu stellen.

    Die Vormundschaftsbehörde wies das Begehren am 9. November 1979 ab,
und der Regierungsstatthalter bestätigte diesen Entscheid am 10. Juni
1980/5. Februar 1981.

    B. X. zog die Sache an den Regierungsrat weiter, der am 26. Mai
1981 entschied, auf die Beschwerde werde nicht eingetreten. Gleichzeitig
überwies der Regierungsrat die Akten an das kantonale Obergericht. Mit
Entscheid vom 12. Oktober 1981 anerkannte dieses die Zuständigkeit der
Zivilgerichte, und am 22. Dezember 1981 entschied der Appellationshof
(II. Zivilkammer), auf die Appellation werde nicht eingetreten, da es an
einem erstinstanzlichen richterlichen Entscheid fehle.

    Gegen das Urteil des Appellationshofes hat B. X. beim Bundesgericht
sowohl staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV als auch
Berufung erhoben. Mit letzterer stellt er den Antrag, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei zur materiellen Beurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die staatsrechtliche Beschwerde ist durch Urteil vom 28. April 1982
abgewiesen worden, soweit darauf einzutreten war.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Strittig ist, wer bezüglich eines Kindes geschiedener Eltern zu
einer Übertragung der elterlichen Gewalt auf den überlebenden Elternteil
zuständig sei, wenn der Elternteil, dem der Scheidungsrichter das Kind
zugewiesen hatte, gestorben ist. Während die Vorinstanz dafür hält, eine
solche Anordnung könne nicht von der Vormundschaftsbehörde getroffen
werden, sondern falle ausschliesslich in die Kompetenz des Richters,
der mit einer Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils anzurufen sei,
stellt sich der Berufungskläger auf den Standpunkt, der Richter brauche
in einem solchen Fall nicht von Anfang an mit der Sache befasst zu sein;
es genüge, wenn - in Analogie zur Entziehung der elterlichen Gewalt
(Art. 314 Ziff. 1 ZGB) - eine richterliche Behörde als Rechtsmittelinstanz
angerufen werden könne.

    Zur Begründung ihrer Rechtsauffassung beruft sich die Vorinstanz
auf BGE 107 II 100 ff. Diesem Entscheid lag zugrunde, dass die letzte
kantonale richterliche Instanz erklärt hatte, der Abänderungsrichter,
bei dem der überlebende Elternteil die Zusprechung der elterlichen Gewalt
verlangt hatte, sei hiefür nicht zuständig. Das Bundesgericht führte dazu
aus, das neue Kindesrecht, insbesondere Art. 315a Abs. 3 ZGB, habe nichts
daran geändert, dass für die Übertragung der elterlichen Gewalt auf den
überlebenden Elternteil bei einem Kind geschiedener Eltern gestützt
auf Art. 157 ZGB auf Abänderung des Scheidungsurteils geklagt werden
könne. Ob die Zuständigkeit des Abänderungsrichters eine ausschliessliche
sei oder ob ein Kind auch durch die Vormundschaftsbehörde unter die
elterliche Gewalt des überlebenden Elternteils gestellt werden könne,
liess das Bundesgericht unter Äusserung gewisser Zweifel letztlich offen
(vgl. BGE 107 II 104 unten). Zu Unrecht glaubt die Vorinstanz deshalb,
aus dem erwähnten Entscheid eine ausschliessliche Zuständigkeit des
Abänderungsrichters ableiten zu können. Die Frage einer allfälligen
konkurrierenden Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde bleibt daher
zu prüfen.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 315a Abs. 3 ZGB können die vormundschaftlichen
Behörden die vom Scheidungsrichter getroffenen Kindesschutzmassnahmen in
bezug auf einen Elternteil ändern, sofern dadurch die Stellung des andern
nicht unmittelbar berührt wird. Das Bundesgericht hat in BGE 107 II 103
f. E. 3 festgehalten, dass diese Bestimmung die Übertragung der elterlichen
Gewalt vom einen auf den andern Elternteil nicht erfasse, auch nicht für
den Fall des Todes des Inhabers der elterlichen Gewalt. Anderer Auffassung
ist demgegenüber HEGNAUER, der die scheidungsrichterliche Kindeszuteilung
im Sinne von Art. 156 ZGB materiell als Kindesschutzmassnahme betrachtet
(vgl. "Kann die Vormundschaftsbehörde nach dem Tod des im Scheidungsurteil
bestimmten Inhabers der elterlichen Gewalt diese dem überlebenden
Elternteil übertragen?", in: ZVW 36/1981, S. 17; in diesem Sinne
auch HENKEL, Die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen gemäss Art. 307
rev. ZGB, Diss. Zürich 1977, S. 124 f.). Dieser Ansicht ist indessen nicht
beizupflichten. Dass der Scheidungsrichter die elterliche Gewalt einem
der beiden Elternteile faktisch entziehen muss, indem er sie dem andern
zuspricht, ist eine notwendige Folge davon, dass das schweizerische Recht
eine gemeinsame Ausübung der elterlichen Gewalt durch geschiedene Eltern
nicht kennt. Auch wenn beide Elternteile zur Pflege und Erziehung des
Kindes fähig sind, verliert einer davon bei der Scheidung zwangsläufig
die elterliche Gewalt. Es kann unter diesen Umständen nicht von einer
Kindesschutzmassnahme im Sinne der Art. 307 ff. ZGB gesprochen werden,
die bei einem Versagen des Inhabers der elterlichen Gewalt anzuordnen
ist. An der in BGE 107 II 103 f. E. 3 vertretenen Auffassung ist deshalb
festzuhalten.

    b) Ausgangspunkt für die Beurteilung des vorliegenden Falles ist der
Umstand, dass bei einem Kind geschiedener Eltern der Tod des Inhabers
der elterlichen Gewalt nicht ohne weiteres den Übergang dieser Gewalt
auf den andern Elternteil zur Folge hat (BGE 107 II 101 f. mit weiteren
Hinweisen). Zu beachten ist sodann, dass gemäss Art. 368 Abs. 1 ZGB jede
unmündige Person, die sich nicht unter der elterlichen Gewalt befindet,
unter Vormundschaft gehört. In Anwendung dieser Bestimmung bestellte
die Vormundschaftskommission... A. X. einen Vormund, nachdem ihre Mutter
gestorben war. Zu prüfen ist nun, ob daraus der Schluss gezogen werden
darf, die Vormundschaftsbehörde wäre auch befugt gewesen, das Kind statt
dessen unter die elterliche Gewalt seines Vaters, des Berufungsklägers,
zu stellen oder in diesem Sinne auf ihren ursprünglichen Entscheid
zurückzukommen. Die Antwort darauf hängt auch ihrerseits von der Tragweite
des Art. 157 ZGB ab.

    Gemäss Art. 157 ZGB ist die Abänderung eines rechtskräftigen
Scheidungsurteils dem Richter vorbehalten, und eine solche Änderung
stellt grundsätzlich auch die Übertragung der elterlichen Gewalt vom einen
geschiedenen Ehegatten auf den anderen dar. Wo der Elternteil gestorben
ist, dem der Scheidungsrichter die elterliche Gewalt zugesprochen hatte,
liegen indessen insofern besondere Verhältnisse vor, als die elterliche
Gewalt des verstorbenen Elternteils untergegangen und das Scheidungsurteil
dadurch ergänzungsbedürftig geworden ist. Von Bedeutung ist in einem
solchen Fall, dass keine sich widerstreitenden Interessen der beiden
einstigen Ehegatten mehr bestehen. Wenn eine Vormundschaftsbehörde ein Kind
statt unter Vormundschaft unter die elterliche Gewalt des überlebenden
Ehegatten stellt, was in der Regel im Vordergrund stehen dürfte und
worauf der überlebende Elternteil unter gewissen Voraussetzungen einen
Anspruch hat (BGE 107 II 104; 82 II 474 f.), werden dadurch einzig
die Interessen dieses Ehegatten und vor allem die Schutzinteressen des
Kindes selbst betroffen. Unter solchen Umständen ist die Übertragung der
elterlichen Gewalt nicht als unzulässiger Eingriff in ein rechtskräftiges
Scheidungsurteil zu werten.

    Für eine solche Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde spricht neben
der Zweckmässigkeit (einfacheres Verfahren; Eingreifen von Amtes wegen)
auch der Umstand, dass in einem ähnlichen Fall die Vormundschaftsbehörde
von Gesetzes wegen ausdrücklich kompetent erklärt wird, einem Elternteil
die elterliche Gewalt zu übertragen: Ein Kind unverheirateter Eltern steht
unter der elterlichen Gewalt der Mutter (Art. 298 Abs. 1 ZGB). Ist diese
gestorben, so hat die Vormundschaftsbehörde dem Kind einen Vormund zu
bestellen oder die elterliche Gewalt dem Vater zu übertragen, wobei sich
dieser Entscheid nach dem Wohl des Kindes zu richten hat (Art. 298 Abs. 2
ZGB). Es rechtfertigt sich, diese Regelung auch für das Kind geschiedener
Eltern gelten zu lassen.

    c) Zusammengefasst ist festzuhalten, dass der überlebende Elternteil
sowohl bei der Vormundschaftsbehörde als auch beim Abänderungsrichter
das Begehren stellen kann, es sei die im Scheidungsurteil dem nunmehr
verstorbenen Elternteil zugesprochene elterliche Gewalt auf ihn zu
übertragen. In dieser Frage ist die Zuständigkeit des Abänderungsrichters
mithin nicht eine ausschliessliche. Sie bleibt jedoch in jedem Fall
vorbehalten (BGE 107 II 104 f.). Unterbleibt aber ein Antrag des
überlebenden Elternteils, hat die Vormundschaftsbehörde von Amtes wegen
dafür zu sorgen, dass das minderjährige Kind nicht ohne gesetzlichen
Vertreter bleibt.

Erwägung 3

    3.- Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Y. hätte dennoch auf das im
Jahre 1979 gestellte Begehren des Berufungsklägers auf Übertragung der
elterlichen Gewalt nicht mehr eintreten dürfen. Dadurch, dass nach dem Tode
der im Scheidungsurteil zur Inhaberin der elterlichen Gewalt bestimmten
Mutter im Jahre 1973 von Amtes wegen ein Vormund bestellt worden war,
wurde die im Zusammenhang mit dem Scheidungsurteil aufgetretene Lücke
geschlossen. Die Anordnung einer Vormundschaft bedeutete aber - wie es auch
die Abweisung eines gleich nach dem Tod der früheren Ehefrau gestellten
Begehrens um Übertragung der elterlichen Gewalt bedeutet hätte - eine
Bestätigung der scheidungsrichterlichen Kindeszuteilung. Dies allerdings in
einschränkender Weise, weil aus einem solchen vormundschaftlichen Entscheid
auch der Schluss zu ziehen ist, dass der Berufungskläger nicht für geeignet
gehalten wird, seine Tochter zu pflegen und zu erziehen. Ist aber ein
Scheidungsurteil in dieser Weise durch die Vormundschaftsbehörde bestätigt
worden und will sich der überlebende der geschiedenen Ehegatten damit nicht
abfinden, so kann er nur noch Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils
erheben. Dadurch allein lässt sich ein der Rechtssicherheit abträglicher
konkurrierender Instanzenzug vermeiden. Nach dem von Amtes wegen
getroffenen Entscheid der Vormundschaftsbehörde, der in die Zeit vor
der Änderung des Kindesrechts fällt, musste daher dem Berufungskläger
auch unter neuem Recht ein erneuter Zugang zur Vormundschaftsbehörde
verschlossen bleiben. Auch unter neuem Recht bleibt in diesem Fall nur die
Abänderung des Scheidungsurteils offen. Aus dem Gesagten erhellt somit,
dass sich die Vorinstanz im Ergebnis zu Recht für unzuständig betrachtet
hat, das Begehren des Berufungsklägers materiell zu beurteilen.

    Ist nach dem Gesagten gegen einen ein Scheidungsurteil im Ergebnis
bestätigenden Entscheid der Vormundschaftsbehörde betreffend die
Übertragung der elterlichen Gewalt auf den überlebenden von zwei
geschiedenen Ehegatten nur eine Abänderungsklage gemäss Art. 157 ZGB
möglich, ist dem Standpunkt des Berufungsklägers, Art. 314 Ziff. 1 ZGB
(Vorbehalt des Weiterzugs an eine kantonale richterliche Behörde im
Falle der Entziehung der elterlichen Gewalt durch die vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde) sei auf den vorliegenden Fall sinngemäss anzuwenden,
von vornherein die Grundlage entzogen.