Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 II 372



108 II 372

71. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. September
1982 i.S. X. gegen Y. (Berufung) Regeste

    Regelung des Kinderbesuchsrechtes bei der Ehescheidung;
Erziehungsbeistandschaft (Art. 156, 308 ZGB).

    Voraussetzung für die Anordnung einer Erziehungsbeistandschaft im
Sinne von Art. 308 Abs. 2 ZGB zur Überwachung des Besuchsrechtes ist das
Vorhandensein einer erheblichen Gefährdung des Kindeswohls; eine solche
ist gegeben, wenn eine erhebliche Gefahr besteht, dass es im Zusammenhang
mit der Ausübung des Besuchsrechtes durch den von der elterlichen Gewalt
ausgeschlossenen Elternteil zu ernsthaften Auseinandersetzungen kommt,
und wenn das Kind gebrechlich oder besonders sensibel ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Zur Begründung des Begehrens um Anordnung einer vormundschaftlichen
Erziehungsaufsicht im Sinne von Art. 308 Abs. 2 ZGB wird im wesentlichen
ausgeführt, die Ausübung des Besuchsrechtes sei mit Schwierigkeiten
verbunden, weil die Klägerin die Kinder gegen den Beklagten
beeinflusse. Die geforderte Erziehungsaufsicht könne dazu beitragen,
eine gesunde Beziehung der Kinder zum Vater zu ermöglichen, da sie eine
allfällige negative Beeinflussung der Kinder neutralisieren helfe.

    Soweit die Schwierigkeiten bei der Ausübung des Besuchsrechtes mit der
angeblich negativen Beeinflussung der Kinder durch die Klägerin begründet
werden, verkennt der Beklagte, dass das Bundesgericht seinem Entscheid
den Sachverhalt zugrunde zu legen hat, der von der letzten kantonalen
Instanz festgestellt worden ist. Das angefochtene Urteil enthält nicht
den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin die Kinder gegen den
Vater beeinflusst hätte. Den Feststellungen der Vorinstanz kann lediglich
entnommen werden, dass gelegentlich Schwierigkeiten mit dem Besuchsrecht
auftauchten. Worin diese bestanden und worauf sie zurückzuführen waren,
wird nicht näher dargelegt. Die Vorinstanz hat die Anordnung einer
Erziehungsaufsicht mit der Begründung abgelehnt, der Umstand allein, dass
sich bei der Ausübung des Besuchsrechtes Schwierigkeiten ergeben könnten,
rechtfertige die Anordnung einer Erziehungsaufsicht nicht. Eine Minderheit
des Obergerichts hätte den Kindern der Parteien einen Erziehungsbeistand
im Sinne von Art. 308 Abs. 2 ZGB beigeben wollen, in der Meinung, dass
durch diese Massnahme die Ausübung des Besuchsrechtes, das mit Problemen
und Auseinandersetzungen zwischen den Parteien verbunden sei, wirksam
gewährleistet wäre.

    In der Berufungsantwort wird nicht bestritten, dass sich bei der
Ausübung des Besuchsrechtes Schwierigkeiten ergeben hätten. Es wird
anerkannt, dass insbesondere die beiden älteren Söhne eine gewisse
Abneigung gegen den Vater an den Tag legten. Diese Erscheinung wird
jedoch auf das eigene Verhalten des Beklagten zurückgeführt. Im übrigen
wird erklärt, dass sich die Klägerin zur allfälligen Errichtung einer
Erziehungsbeistandschaft zwecks Überwachung des Rechts auf persönlichen
Verkehr nicht negativ einstellen würde.

    Bei der Erziehungsbeistandschaft im Sinne von Art. 308 ZGB handelt es
sich um eine neue Massnahme, die anlässlich der Revision des Kindesrechts
eingeführt wurde. Sie geht über die Erziehungsaufsicht, für die heute in
Art. 307 Abs. 3 ZGB eine gesetzliche Grundlage besteht, insofern hinaus,
als der Erziehungsbeistand nicht bloss eine Aufsicht ausübt, sondern selber
eine aktive Rolle zu übernehmen hat. Voraussetzung für ihre Anordnung
ist eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls (vgl. BÜHLER/SPÜHLER,
N. 177/178 zu Art. 156 ZGB).

    Eine wichtige Befugnis, die dem Erziehungsbeistand übertragen werden
kann, bildet die Überwachung des persönlichen Verkehrs. Art. 308 Abs. 2
ZGB erwähnt diese Möglichkeit ausdrücklich. Sie kann besonders im Falle der
Scheidung oder Trennung einer Ehe angezeigt sein, weil dabei ein Elternteil
zwangsläufig der elterlichen Gewalt über die Kinder verlustig geht und
häufig eine Konfliktsituation mit dem andern Elternteil weiterbesteht. Eine
Erziehungsbeistandschaft zur Überwachung des Besuchsrechtes sollte
immer dann angeordnet werden, wenn eine erhebliche Gefahr besteht,
dass sich bei der Ausübung dieses Rechts durch den von der elterlichen
Gewalt ausgeschlossenen Elternteil Schwierigkeiten ergeben. Solche
Schwierigkeiten sind in aller Regel als Gefährdung des Kindeswohls zu
betrachten, die eine Erziehungsbeistandschaft rechtfertigen. Anlass zur
Anordnung dieser Massnahme besteht vor allem dann, wenn sich derartige
Schwierigkeiten bereits während des Scheidungsprozesses gezeigt haben
(vgl. BÜHLER/SPÜHLER, N. 179 zu Art. 156 ZGB).

    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil nur,
dass schon während des Scheidungsprozesses Schwierigkeiten mit dem
Besuchsrecht auftraten. Diese Tatsache wird auch in der Berufungsantwort
ausdrücklich anerkannt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Sache zur
Vervollständigung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen sei,
damit nähere Feststellungen über die Art und das Ausmass der erwähnten
Schwierigkeiten getroffen würden. Eine solche Rückweisung erscheint
jedoch als wenig sinnvoll, da sich die Feststellung der Vorinstanz auf
Grund der Akten leicht ergänzen lässt.

    Aus einem Schreiben des Leiters der Beratungsstelle der Pro Infirmis
an den Anwalt der Klägerin vom 12. November 1981 ergibt sich, dass sich
am 18. Oktober 1981, der zwischen den Parteien als Besuchstag vereinbart
worden war, alle drei Kinder weigerten, mit dem Beklagten fortzugehen
und den Sonntag mit ihm zu verbringen; ... der älteste Sohn weigere sich
überdies schon seit langer Zeit, den Vater zu besuchen, und müsse jedesmal
von neuem überzeugt werden, dass er dies mit den beiden Brüdern zusammen
tun müsse. Dem obergerichtlichen Protokoll über die Parteibefragung vom
13. November 1981 lässt sich sodann entnehmen, dass der Beklagte nach
übereinstimmenden Aussagen beider Parteien das Besuchsrecht im Jahre 1981
bis zu jenem Zeitpunkt erst zweimal hatte ausüben können. Die Klägerin
erklärte überdies, sie glaube nicht, dass das Besuchsrecht wieder einmal
richtig funktionieren werde. Auf Grund dieser Aktenstellen muss davon
ausgegangen werden, dass die während des Scheidungsprozesses aufgetretenen
Schwierigkeiten bei der Besuchsrechtsausübung ernsthafter Natur waren
und dass sich für die Zukunft eine schlechte Prognose aufdrängt. Die
Vorinstanz unterschätzte die sich daraus ergebende erhebliche Gefährdung
des Kindeswohls, wenn sie unter den gegebenen Umständen von der Anordnung
einer Erziehungsbeistandschaft glaubte absehen zu können. Eine solche
Massnahme ist in einem Fall wie dem vorliegenden angezeigt. Dafür spricht
auch, dass zwei der drei Kinder der Parteien geschädigt sind. Wie dem
angefochtenen Urteil entnommen werden kann, leidet der 1970 geborene
Sohn an motorischen Störungen und bedarf besonderer Therapie. Der 1973
geborene Sohn ist in verschiedener Hinsicht zurückgeblieben und besucht den
Sonderschul-Kindergarten im Zentrum für körperbehinderte Kinder ... Eine
Gefährdung des Kindeswohls durch Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit
der Ausübung des Besuchsrechtes ist um so eher anzunehmen, je sensibler
und gebrechlicher ein Kind ist. Ein Erziehungsbeistand kann in erheblichem
Masse dazu beitragen, durch entsprechende Kontakte mit den Eltern und den
Kindern die Situation zu entschärfen und durch entsprechende Festlegung der
Einzelheiten für eine möglichst reibungslose Abwicklung des Besuchsrechtes
zu sorgen. Eine solche Massnahme liegt nicht zuletzt auch im Interesse
beider Parteien.

    Einer Gutheissung der Berufung in diesem Punkt steht nicht etwa
entgegen, dass der Beklagte mit seiner Appellation an die Vorinstanz
lediglich die Anordnung einer Erziehungsaufsicht beantragt hatte. Es
ist unabhängig von den Parteianträgen von Amtes wegen zu prüfen,
welche Kindesschutzmassnahme angezeigt ist. Im vorliegenden Fall
ist dies eindeutig eine Erziehungsbeistandschaft, und nicht eine
Erziehungsaufsicht. Der vom Beklagten erst vor Bundesgericht entsprechend
präzisierte Antrag war daher zulässig...