Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 II 364



108 II 364

69. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Dezember 1982 i.S.
K. gegen K. (Berufung) Regeste

    Art. 151 ZGB.

    1. Für die Zusprechung einer Rente im Sinne von Art. 151 ZGB bleibt
auch dann Raum, wenn der angesprochene Ehegatte an der Zerrüttung nicht
vorwiegend schuldig und seine Scheidungsklage daher gutgeheissen worden
ist (E. 2a).

    2. Der Scheidungsrichter darf bei der Prüfung der Voraussetzungen für
die Zusprechung einer Rente im Sinne von Art. 151 ZGB nicht davon absehen,
das Verhalten der Parteien unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens zu
würdigen mit der Begründung, die Abklärung der Schuldfrage sei praktisch
nicht möglich und die tieferen Ursachen der Zerrüttung seien nach den
Erkenntnissen der Psychologie in den Charakteren der Parteien zu suchen,
die willentlicher Beeinflussung nicht zugänglich seien (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 11. November 1980 schied das Bezirksgericht
Arlesheim die Ehe der Eheleute K. in Gutheissung der Haupt- und
Abweisung der Widerklage gestützt auf Art. 142 ZGB. Es teilte die drei
Söhne Ivan, geboren 1961, Gabor, geboren 1964, und Boris, geboren 1968,
dem Beklagten zu und verpflichtete diesen, der Klägerin gemäss Art. 151
ZGB eine indexierte, gestaffelte Rente zu bezahlen, die bei Fr. 200.--
monatlich beginnen und sich je mit Erreichen der Volljährigkeit der drei
Söhne bis auf Fr. 800.-- monatlich erhöhen sollte.

    In teilweiser Gutheissung einer Appellation des Beklagten änderte das
Obergericht des Kantons Basel-Landschaft diesen Entscheid mit Urteil vom
16. April 1982 in dem Sinne ab, dass es die Scheidung auch in Gutheissung
der Widerklage aussprach und den Beklagten lediglich zur Bezahlung einer
aufgeschobenen Rente gemäss Art. 152 ZGB von Fr. 400.-- monatlich ab
1. August 1986 und von Fr. 600.-- monatlich ab 1. Juni 1991 verpflichtete.

    Gegen das obergerichtliche Urteil erhob der Beklagte Berufung an
das Bundesgericht, mit der er die Streichung der Bedürftigkeitsrente
beantragte. Mit Anschlussberufung verlangt die Klägerin die Zusprechung
einer Rente gemäss Art. 151 ZGB, entsprechend dem bezirksgerichtlichen
Urteil.

    Das Bundesgericht heisst die Anschlussberufung gut, hebt das
angefochtene Urteil auf und weist die Sache zu ergänzenden Feststellungen
und neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 151 Abs. 1 ZGB hat der schuldige Ehegatte dem
schuldlosen eine angemessene Entschädigung zu entrichten, sofern durch die
Scheidung dessen Vermögensrechte oder Anwartschaften beeinträchtigt werden.
Voraussetzung für die Zusprechung einer Rente im Sinne dieser Bestimmung
ist somit einerseits die Scheidungsschuld des pflichtigen, anderseits
die Schuldlosigkeit des berechtigten Ehegatten. Der Beklagte hält die
Frage des Verschuldens der Parteien schon aus prozessualen Gründen für
präjudiziert. Er macht geltend, die Aufhebung der Rente nach Art. 151
ZGB durch die Vorinstanz sei die logische Folge der Gutheissung seiner
Widerklage gewesen, womit ein überwiegendes Verschulden seinerseits
verneint worden sei. Indem die Klägerin vor Bundesgericht ausdrücklich
die Abweisung der Widerklage nicht mehr beantrage und die Bestätigung
des erstinstanzlichen Urteils nicht mehr verlange, entziehe sie ihrem
Begehren um Zusprechung einer Rente nach Art. 151 ZGB den Boden.

    Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Das Bundesgericht ist
in der Beurteilung der Schuldfrage frei, auch wenn der Scheidungspunkt
nicht mehr streitig ist. Es kann daher einem Ehegatten eine Rente gemäss
Art. 151 ZGB zusprechen, obwohl die Ehe vom kantonalen Richter aus einem
Grund geschieden wurde, der an sich die Zusprechung einer solchen Rente
ausschliessen würde (BGE 107 II 294 E. 1, 106 II 119/120 E. 2a). Abgesehen
davon hat die Bejahung des Klagerechts beider Ehegatten unter dem
Gesichtspunkt des Art. 142 Abs. 2 ZGB nicht notwendigerweise zur Folge,
dass Ansprüche aus Art. 151 ZGB zum vornherein entfallen. Während ein
Ehegatte erst dann als vorwiegend schuldig im Sinne von Art. 142 Abs. 2
ZGB bezeichnet werden kann, wenn sein Verschulden dasjenige des andern
Ehegatten zusammen mit allfälligen objektiven Zerrüttungsfaktoren an
kausaler Bedeutung übertrifft (BGE 92 II 140), genügt es für die Bejahung
der Scheidungsschuld im Sinne von Art. 151 ZGB, dass dem angesprochenen
Ehegatten eine erhebliche Verletzung ehelicher Pflichten vorgeworfen werden
kann, die - allenfalls zusammen mit andern Faktoren - zur Zerrüttung
beigetragen hat (BÜHLER/SPÜHLER, N. 15 zu Art. 151 ZGB). Selbst wenn
man nicht daran festhalten wollte, dass beim Vorhandensein objektiver
Zerrüttungsfaktoren schon ein verhältnismässig kleiner Unterschied im
Verschulden genügt, damit dem weniger belasteten Ehegatten Leistungen
aus Art. 151 ZGB zuerkannt werden können (vgl. die Kritik zu dieser
Rechtsprechung bei JERMANN, Die Unterhaltsansprüche des geschiedenen
Ehegatten nach Art. 151 Abs. 1 und Art. 152 ZGB, Diss. Bern 1980, S. 56),
bleibt daher auch bei Gutheissung der Scheidungsklage des angesprochenen
Ehegatten und bei Verwerfung der von der Gegenpartei erhobenen Einrede
des überwiegenden Verschuldens durchaus Raum für eine Entschädigungsrente.

    b) Die Vorinstanz hat die Anwendbarkeit von Art. 151 ZGB deswegen
verneint, weil ein messbares Verschulden nicht festgestellt werden
könne. Bei der Prüfung des Scheidungspunktes hat sie ausgeführt, es beginne
sich immer mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Zerrüttung einer Ehe
meistens auf ein Versagen beider Ehegatten zurückzuführen sei. Aus diesem
Grund sei auch die Abklärung der Schuldfrage äusserst problematisch. Oft
würden selbst die Parteien die wirklichen Gründe ihrer Ehekrise nicht
kennen. Erst recht sei es für den Richter schwierig, die eigentlichen
Zerrüttungsursachen zu ermitteln. Würden Zerrüttungsursachen grundsätzlich
als schuldhaft gewertet, so stehe das im Widerspruch zur psychologischen
Erkenntnis, dass die tieferen Gründe der Zerrüttung in den Charakteren
der Parteien zu suchen seien und dass Verhaltensweisen und Empfindungen
vielfach nicht willentlich gesteuert werden könnten. Erst recht sei es
schwierig, gegenseitiges Verschulden zu vergleichen und einen Massstab
zu finden, an dem es gemessen werden könne. Im vorliegenden Fall könne
der Beurteilung des Bezirksgerichts, dass der Beklagte an der Zerrüttung
vorwiegend schuldig sei, nicht gefolgt werden. Trotz der aussergewöhnlich
umfangreichen Erhebungen zum Scheidungspunkt lasse sich kein vollständiges
Bild der Ehe der Parteien geben. Erkennbar sei immerhin, dass in erster
Linie objektive Gründe zur Zerrüttung der Ehe geführt hätten. Zwar
dürften auch Verschuldensmomente eine Rolle spielen; doch lasse sich
nicht sagen, in welchem Ausmass dies der Fall sei. Jedenfalls seien die
Verschuldensmomente im Vergleich zu den objektiven Zerrüttungsursachen
von untergeordneter Bedeutung, weshalb die Ehe der Parteien auch in
Gutheissung der Widerklage zu scheiden sei.

    Damit ist die Vorinstanz indessen ihrer Aufgabe nicht
nachgekommen. Der Sachrichter darf sich im Scheidungsprozess nicht
mit einer derart pauschalen Betrachtungsweise begnügen, sondern er hat
die Zerrüttungsursachen im einzelnen festzustellen und zu ermitteln,
in welchem Grad sie für die Zerrüttung kausal sind. Nur so ist es dem
Bundesgericht als Berufungsinstanz möglich, die Rechtsfrage zu beurteilen,
ob und in welchem Masse die als kausal festgestellten Zerrüttungsfaktoren
der einen oder andern Partei zum Verschulden angerechnet werden müssen
(vgl. BGE 92 II 140). Indem die Vorinstanz die Ursachen der Zerrüttung
nicht im einzelnen ergründet hatte, hat sie nicht nur gegen Art. 51 Abs. 1
lit. c OG, sondern auch gegen Art. 151 ZGB verstossen, da sie der Klägerin
eine Rente ohne ernsthafte Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen versagte.

    Freilich verweist das Obergericht hinsichtlich der einzelnen
Vorfälle in der Ehe der Parteien "auf die sehr eingehenden Abklärungen
der Vorinstanz". Es ist aber fraglich, ob es sich die diesbezüglichen
Feststellungen des Bezirksgerichts wirklich zu eigen machen wollte,
lassen diese doch wohl keinen andern Schluss zu, als dass den Beklagten
ein erhebliches Verschulden am Scheitern der Ehe trifft. Vor allem
aber fehlt es an einer Auseinandersetzung mit diesen Vorfällen unter
dem Gesichtspunkt der Kausalität. Das Obergericht sagt selber, die vom
Bezirksgericht erwähnten Vorkommnisse gäben kein vollständiges Bild der
zu beurteilenden Ehe. Man weiss daher nicht, ob und in welchem Masse sie
zur Zerrüttung beigetragen haben.

    Wollte man den Verweis auf die Feststellungen des Bezirksgerichts
als genügend gelten lassen, so könnte der Vorinstanz jedenfalls
insoweit nicht gefolgt werden, als sie zum vornherein davon absieht,
das Verhalten der Parteien unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens zu
würdigen. Die dafür gegebene Begründung, die Abklärung der Schuldfrage
sei praktisch nicht möglich und die tieferen Ursachen der Zerrüttung
seien nach den Erkenntnissen der Psychologie in den Charakteren der
Parteien zu suchen, die willentlicher Beeinflussung nicht zugänglich
seien, ist mit dem geltenden Scheidungsrecht nicht vereinbar. Dieses
knüpft sowohl in Art. 142 Abs. 2 als auch in Art. 151 und 152 ZGB
an das Verschulden der Parteien an, beruht also insoweit nicht auf
dem Zerrüttungs-, sondern auf dem Verschuldensprinzip. Es geht somit
grundsätzlich von der Selbstverantwortlichkeit und dem freien Willen der
Ehegatten aus. Daran hat sich der Richter zu halten. Er darf vor seiner
zugegebenermassen schwierigen Aufgabe, das Verschulden der Ehegatten
am Scheitern der Ehe festzustellen, nicht kapitulieren, indem er die
vorhandenen Zerrüttungsfaktoren einfach als objektive bezeichnet. Das
gilt insbesondere, wenn die Zerrüttung auf angebliche Unvereinbarkeit der
Charaktere zurückgeführt wird (BGE 79 II 340/341; BÜHLER/SPÜHLER, N. 55 zu
Art. 142 ZGB). Die Vorinstanz weist selber darauf hin, dass charakterliche
Schwierigkeiten nicht gleichbedeutend mit Schuldlosigkeit der Parteien an
der Zerrüttung der Ehe seien; vielmehr frage sich, ob die Parteien ihre
bezüglich der Auswirkungen auf die Ehe negativen Charaktereigenschaften
soweit hätten zurückdämmen können, dass ein harmonisches Zusammenleben
dennoch ermöglicht worden wäre. Sie unterlässt es dann aber, das Verhalten
der Parteien unter diesem Gesichtspunkt zu bewerten. Die Tendenz des
Obergerichts, die Zerrüttung auf objektive Ursachen zurückzuführen
und von einer Abklärung der Schuldfrage abzusehen, mag de lege ferenda
vertretbar sein; praktisch hat sie zur Folge, dass kaum mehr ein Ehegatte
seinen gesetzlichen Anspruch auf eine Entschädigung im Sinne von Art. 151
ZGB durchsetzen könnte, was sich vor allem zum Nachteil der Ehefrauen
auswirken müsste. Das wäre untragbar. Solange das Unterhaltsrecht auf dem
Boden des Verschuldensprinzips steht, darf sich der Richter der Prüfung
der Schuldfrage nicht entziehen.

    c) Unter diesen Umständen ist die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Diese wird die Ursachen der Zerrüttung im einzelnen zu
ergründen und gestützt auf ihre Feststellungen einen neuen Entscheid
darüber zu fällen haben, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe der
Klägerin eine Rente nach Art. 151 ZGB zusteht. In diesem Sinne ist die
Anschlussberufung gutzuheissen.