Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 II 102



108 II 102

20. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. Juni 1982
i.S. Hegner gegen Pozzi (Berufung) Regeste

    Art. 28 und 31 OR. Aktienkauf, Täuschung.

    1. Anfechtung des Kaufvertrages wegen eines Willensmangels und Klage
auf Gewährleistung oder Schadenersatz wegen Nichterfüllung. Bedeutung
und Beginn der Frist zur Anfechtung. Voraussetzungen einer Genehmigung;
Beweislast (E. 2a und b).

    2. Im Falle einer Täuschung darf der Richter sich nicht damit begnügen,
die Entdeckung des Irrtums festzustellen, und auch nicht leichthin auf
eine vorbehaltlose Genehmigung des Vertrages schliessen (E. 2a und c).

Sachverhalt

    A.- Frau Pozzi war bis Mitte Juli 1977 Alleinaktionärin und
einzelzeichnungsberechtigte Verwaltungsratspräsidentin der SPO AG, deren
Grundkapital Fr. 50'000.-- betrug und in 500 Inhaberaktien zerlegt war.

    Am 2. Februar 1977 erhielt sie von Hegner ein Darlehen von
Fr. 50'000.--. Die Summe sollte zur Herstellung von Werkzeug für eine
von Schlatter entwickelte Kunststoffleiter verwendet werden, die am
19. Januar 1977 unter Nr. 644/77 zur Patentierung angemeldet wurde.
Hegner interessierte sich in der Folge für eine Beteiligung an der SPO AG,
wenn er insbesondere mit der kaufmännischen Leitung ihres Unternehmens
betraut werde. Gemäss Vertrag vom 14. Juli 1977 einigte er sich mit
Frau Pozzi dahin, dass diese sich verpflichtete, das Aktienkapital der
Gesellschaft auf Fr. 100'000.-- zu erhöhen und ihm 490 ihrer bisherigen
Aktien zum Preise von Fr. 100'000.-- zu verkaufen. Hegner leistete eine
Anzahlung von Fr. 20'000.-- und stellte Frau Pozzi für die Kapitalerhöhung
Fr. 50'000.-- zur Verfügung; den Restbetrag von Fr. 30'000.-- hatte er bis
Ende 1977 zu bezahlen. Er versprach ferner, für die zum weiteren Aufbau
der Gesellschaft erforderlichen Mittel bis zu höchstens Fr. 200'000.--
besorgt zu sein. Gemäss einer weiteren Abrede verkaufte Frau Pozzi "ihr
Patent Nr. 644/77" für Fr. 50'000.-- an die SPO AG, die den Betrag als
Darlehen schulden und verzinsen sollte.

    Dem Vertrag ging eine mit "Bestätigung und Zusicherung" überschriebene
Erklärung der Frau Pozzi vom 13. Juli voraus, dass das genannte Patent in
Ordnung und die Kunststoffleiter bis Ende Juli 1977 zum Verkauf bereit sei
und Hegner die kaufmännische Leitung sowie die Buchhaltung der Gesellschaft
zugesichert werde.

    B.- Am 11. Juli 1978 liess Hegner Frau Pozzi mitteilen, dass er
den Beteiligungsvertrag wegen Irrtums und absichtlicher Täuschung für
unverbindlich halte und seine Leistungen zurückverlange. Da Frau Pozzi
auf der Erfüllung des Vertrages beharrte, klagte er im Oktober 1979
gegen sie auf Feststellung der Unverbindlichkeit und auf Rückzahlung von
Fr. 70'000.-- nebst Zins. Er machte geltend, er sei von der Beklagten durch
täuschende Zusicherungen veranlasst worden, den Vertrag abzuschliessen
und erhebliche Mittel für die Gesellschaft aufzuwenden.

    Das Bezirksgericht Zürich und auf Appellation hin am 23. Dezember
1981 auch das Obergericht des Kantons Zürich wiesen die Klage ab.

    Die Berufung des Klägers wird vom Bundesgericht dahin gutgeheissen,
dass das Urteil des Obergerichts aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht fand, dass die massgeblichen tatsächlichen
Verhältnisse für den Entscheid über die Frage, ob ein Grundlagenirrtum
oder eine absichtliche Täuschung vorliege, in einem Beweisverfahren
abzuklären wären, sich ein solches Verfahren aber erübrige, da der
Kläger den Vertrag nach Entdeckung des angeblichen Willensmangels durch
konkludentes Verhalten genehmigt habe. Es nahm unter Hinweis auf Erwägungen
des Bezirksgerichts insbesondere an, der Kläger habe spätestens seit dem
28. Juli 1977 gewusst, dass die von der Firma Emmer in Mailand für die
SPO AG hergestellte Kunststoffleiter noch nicht für den Verkauf bereit
war. Gleichwohl habe er der Beklagten am 22. September 1977 ein weiteres
Darlehen von Fr. 50'000.-- versprochen und ihr in der Folge auch gewährt;
er habe sich zudem zusammen mit ihr verpflichtet, Schlatter je 30 Aktien
der SPO AG abzutreten. Dadurch habe er den Vertrag nachträglich genehmigt
und das Anfechtungsrecht verwirkt.

    a) Nach ständiger Rechtsprechung, die letztmals in BGE 107 II 421
E. 1 gerade für einen Aktienkauf bestätigt worden ist, kann der Käufer bei
unrichtiger Erfüllung entweder gemäss Art. 197 ff. OR auf Gewährleistung
klagen oder nach Art. 97 ff. OR Schadenersatz wegen Nichterfüllung
verlangen oder den Vertrag wegen eines Willensmangels im Sinne von
Art. 23 ff. OR anfechten. Entschliesst er sich für die Anfechtung, so
darf er bei seiner Erklärung, den Vertrag als nicht bestehend anzusehen
und daher nicht halten zu wollen, behaftet werden. Der Richter braucht
diesfalls nicht danach zu forschen, wie die gegenseitigen Verpflichtungen
der Vertragspartner unter den anderen Gesichtspunkten zu beurteilen
wären. Da der Käufer ein Gestaltungsrecht ausübt und das Schicksal des
Vertrages sich innerhalb eines Jahres endgültig entscheiden muss, kann
die Erklärung zudem grundsätzlich nicht mehr widerrufen werden. Sie darf
auch nicht von Bedingungen abhängig gemacht werden. Anders verhält es sich
nur, wenn der Kläger bloss eventuell, falls der Richter den Vertrag als
verbindlich betrachten sollte, daran ganz oder teilweise festhalten will;
sonst schliessen Klagen auf Erfüllung und solche wegen Willensmängeln
einander zum vorneherein aus (BGE 83 II 300 E. 1, 79 II 145/46, 27 II 518).

    Die Anfechtung wegen Grundlagenirrtums oder absichtlicher Täuschung
hängt nicht von den besonderen Voraussetzungen der Sachgewährleistung
ab. Art. 31 OR räumt dem dazu Berechtigten im Unterschied zu den
Vorschriften über die Beanstandung der gekauften Sache oder des
bestellten Werkes (Art. 201, 367 und 370 OR) ein volles Jahr Zeit ein;
er ist daher nicht verpflichtet, von der faktischen Möglichkeit, sich auf
einseitige Unverbindlichkeit des Vertrages zu berufen, sofort Gebrauch zu
machen. Es kann ihm namentlich bei falschen Angaben oder Zusicherungen
des Verkäufers nicht verwehrt werden, zunächst einen Überblick über
den Schaden zu gewinnen, der ihm allenfalls aus der Täuschung droht;
diesen Schwebezustand und die damit verbundene Ungewissheit muss sich der
Täuschende, der keine besondere Rücksicht verdient (OSER/SCHÖNENBERGER, N.
20 zu Art. 31 OR), gefallen lassen. Es genügt daher in der Regel, dass der
Anfechtungsberechtigte sich vor Ablauf der Frist auf den Willensmangel
beruft, mag in einer Verzögerung unter Umständen auch ein Verhalten
erblickt werden, das der Berechtigte sich im Rahmen der Art. 25 und 26 OR
entgegenhalten lassen muss (BGE 107 II 421, 83 II 23 E. 4, 79 II 146/47).

    Die Jahresfrist zur Anfechtung beginnt mit der Entdeckung
des Willensmangels zu laufen; lässt der Berechtigte sie unbenützt
verstreichen, so gilt der Vertrag gemäss Art. 31 Abs. 1 OR als durch
Schweigen genehmigt. Dies kann schon während der Jahresfrist angenommen
werden, wenn der Anfechtungsberechtigte durch positive Handlungen oder
durch eine ausdrückliche Willenserklärung deutlich zu verstehen gibt, dass
er sich mit dem mangelhaften Vertrag abgefunden hat. Eine Genehmigung
ist selbst nach einer Berufung auf Unverbindlichkeit noch möglich,
wenn die Gegenpartei einverstanden ist, dass der Vertrag aufrecht bleibe
(BGE 88 II 412, 84 II 625 E. c, 66 II 159). Im einen wie im andern Fall
setzt die Genehmigung aber eine sichere Kenntnis des Willensmangels
voraus; blosse unbestimmte, nicht näher belegte Zweifel genügen nicht
(BGE 82 II 426, 27 II 516/17). Im Falle der Täuschung ist neben der
Entdeckung des Irrtums zudem die Erkenntnis erforderlich, dass der
Mangel durch absichtliche falsche Vorspiegelungen verursacht worden ist
(OSER/SCHÖNENBERGER, N. 11, 19 und 21, sowie BECKER, N. 4, 7 und 10 zu
Art. 31 OR; vgl. ferner VON TUHR/PETER, OR I S. 331, GUHL/MERZ/KUMMER, OR
S. 125; BUCHER, OR Allg. Teil S. 188). Wo eine ausdrückliche Erklärung
fehlt, darf angesichts der Tragweite des Rechtsverzichts, der in einer
Genehmigung liegt, namentlich bei einer absichtlichen Täuschung nicht
leichthin auf vorbehaltsloses Einverständnis geschlossen werden. Ob eine
bestimmte Handlung des Anfechtungsberechtigten als eindeutiger Ausdruck
einer Genehmigung zu verstehen sei, beurteilt sich nach den Grundsätzen
der Vertrauenstheorie. Die Beweislast für die behauptete Genehmigung
trägt die Gegenpartei; dazu gehört auch der Nachweis, dass der Irrende den
Willensmangel bereits vor der als Genehmigung geltend gemachten Handlung
entdeckt habe (BGE 59 II 240).

    b) Das Obergericht folgerte aus Korrespondenzen der Beteiligten
vom Juni 1977, dass der Kläger damals sehr grosses Gewicht auf einen
baldmöglichen Vertrieb der Kunststoffleiter legte und dafür eine
verbindliche Zusicherung verlangte, er über offenbare Verzögerungen der
Entwicklungsarbeiten am Prototyp, der sich seit Mitte Juni 1977 angeblich
in der Endphase befand, aber unterrichtet war. Ähnlich äussert sich das
Obergericht bei der Würdigung der Zusicherungen, die in der schriftlichen
"Bestätigung" der Beklagten vom 13. Juli 1977 enthalten sind; es verweist
ausserdem auf die erheblichen finanziellen Mittel, welche der Kläger
für die Gesellschaft aufzubringen hatte, lässt schliesslich die Frage,
ob die von der Beklagten bestrittene "Bestätigung" rechtmässig zustande
gekommen sei, jedoch offen.

    Nach ihren Hinweisen auf Feststellungen des Bezirksgerichts hält die
Vorinstanz sodann für erwiesen, dass dem Kläger anlässlich seines Besuches
vom 28. Juli 1977 bei der Herstellerfirma Emmer in Mailand weder die
schwerwiegenden Mängel der Leiter noch die andauernden Entwicklungsarbeiten
entgangen sind. Das Bezirksgericht hielt dem Kläger ferner entgegen, er sei
am 22. September 1977 nach eigenen Angaben von den technischen Auskünften
Schlatters nicht befriedigt gewesen, weshalb er immer wieder erklärt habe,
dass die Konstruktion technisch nicht ausgereift sei, die Leiter folglich
nicht serienmässig hergestellt und vertrieben werden könne; am 4. November
habe er denn auch wiederholt, schon lange dieser Ansicht zu sein.

    Als der Kläger im September 1977 der Beklagten das zweite Darlehen
von Fr. 50'000.-- nicht nur versprach, sondern auch zur Verfügung stellte
und 30 Aktien der Gesellschaft an Schlatter abtrat, war somit nach den
angeführten Feststellungen der Vorinstanzen auch für ihn klar, dass die
Zusicherung der Beklagten, die Leiter sei Ende Juli 1977 zum Verkauf
bereit, inhaltlich so oder anders falsch war. Anderer Meinung konnte er
auch Mitte November 1977 nicht sein, als er der Beklagten schrieb, nach
wie vor bereit zu sein, sich im Sinne des Beteiligungsvertrages für die
Einräumung eines Bankkredites zu verwenden, und seine Bereitschaft drei
Tage später in einer Besprechung bestätigte. Dies gilt umsomehr, als er
in der Replik behauptete, ein französischer Grossverteiler habe im Herbst
1977 die damalige Ausführung der Leiter als primitiv, dilettantenhaft und
lächerlich bezeichnet. Nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht,
durfte das Obergericht daher ohne Verletzung von Bundesrecht folgern, der
Kläger habe im September und November 1977 "in Kenntnis" der fehlenden
Verkaufsmöglichkeit gehandelt, die ihm die Beklagte auf Ende Juli 1977
angeblich zugesichert hat. Es liegt insbesondere nichts dafür vor, dass
die Vorinstanz den Rechtsbegriff der Irrtumsentdeckung verkannt habe.

    c) Die Vorinstanz übergeht die Fragen, ob und wann der Kläger im Falle
einer Täuschung erkannt habe, dass sein Irrtum durch absichtliche falsche
Vorspiegelungen der Gegenpartei veranlasst oder unterhalten worden ist. Sie
begnügt sich vielmehr mit der Feststellung über die Entdeckung des Irrtums,
den sie unbekümmert darum, ob er durch eine Täuschung hervorgerufen oder
von der Beklagten bewusst ausgenutzt worden sei oder nicht, rechtlich
gleich behandeln möchte. Das geht indes schon deshalb nicht an, weil die
Rechtsfolgen der beiden Willensmängel sich nicht decken; im Falle der
absichtlichen Täuschung ist der Anfechtungsberechtigte besser gestellt, da
der erregte Irrtum kein wesentlicher zu sein braucht und die nachträgliche
Genehmigung einen Anspruch auf Schadenersatz nicht ausschliesst (Art. 28
Abs. 1 und 31 Abs. 3 OR). Das angefochtene Urteil ist deshalb gestützt auf
Art. 64 Abs. 1 OG aufzuheben und die Sache zur Ergänzung des Sachverhaltes
und zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.