Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IB 505



108 Ib 505

87. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
30. Juni 1982 i.S. Erben Rindlisbacher/Riesen gegen Kanton Bern und
Regierungsrat des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Nationalstrassenbau; Planänderungsgesuch.

    Das Einsprache- und Plangenehmigungsverfahren nach Art. 26/27 NSG hat
alle Funktionen des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens im engeren
und weiteren Sinne (Art. 35 lit. a und b EntG) zu übernehmen (E. 2).

    Der von Immissionen Betroffene kann im Einspracheverfahren vom
Werkeigentümer verlangen, dass die ohne unverhältnismässige Kosten
realisierbaren technischen Vorkehren zur Lärmbekämpfung getroffen werden
(E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Erben Rindlisbacher und Heinz Riesen sind Eigentümer der
beiden benachbarten, je mit einem Einfamilienhaus überbauten Parzellen
Nrn 1496 und 1490 in der Gemeinde Muri (BE). Die Grundstücke liegen
im Füllerich-Quartier, unmittelbar östlich der Nationalstrasse N 6,
welche schon bei ihrer Erstellung in diesem Bereich mit einer 2.20 m
hohen Lärmschutzmauer ausgestattet worden war.

    Im Jahre 1976 erarbeitete das Autobahnamt des Kantons Bern zusammen
mit den Gemeindebehörden ein neues Lärmschutz-Projekt für das gesamte
Füllerich-Quartier. Nach diesem Projekt, zu dessen Finanzierung auch
Gemeinde und Grundeigentümer beigezogen wurden, war auf der Westseite
der Autobahn eine 2-6 m hohe und insgesamt 594 m lange Lärmschutzwand
zu errichten, während auf der Ostseite die bereits bestehende Mauer
lediglich verlängert werden sollte. Da dem Projekt von seiten einiger
Grundeigentümer Widerstand erwuchs, leitete der Kanton Bern nach
Inangriffnahme der Bauarbeiten ein nachträgliches Einspracheverfahren
ein, das in analoger Anwendung von Art. 28 des Bundesgesetzes über die
Nationalstrassen (NSG) auf jene Eigentümer beschränkt wurde, die sich über
den Bau der neuen Schallschutzmauer beschwert hatten. Heinz Riesen und die
Erben Rindlisbacher machten von der Einsprachemöglichkeit Gebrauch. Sie
brachten im wesentlichen vor, infolge des Baus der = reflektierenden =
Schutzwand auf der westlichen Seite der Autobahn sei der Lärm unerträglich
angewachsen, und verlangten, dass nach Lärmmessungen durch einen neutralen
Experten auch auf der Ostseite der Nationalstrasse zusätzliche Massnahmen
zur Lärmbekämpfung getroffen würden.

    Nach Durchführung weiterer Messungen wies der Regierungsrat des
Kantons Bern die Einsprachen ab. Gegen diesen Entscheid haben Riesen und
die Erben Rindlisbacher Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben, welche
vom Bundesgericht im Sinne der Erwägungen abgewiesen worden ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Im angefochtenen Entscheid erklärt der Regierungsrat selbst,
den Einsprechern stehe der Weg der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans
Bundesgericht offen. Die kantonale Baudirektion stellt die Richtigkeit
dieser Rechtsmittelbelehrung in der Beschwerdeantwort in Frage. Zu Unrecht.

    Umstritten ist im vorliegenden Verfahren eine Ergänzung des
Ausführungsprojektes Umfahrung Muri der Nationalstrasse N 6, ein
Ergänzungsprojekt, welches von den kantonalen Behörden in Anwendung des
Nationalstrassengesetzes erarbeitet und - wenn auch verspätet - öffentlich
aufgelegt worden ist. Die Beschwerdeführer, deren Legitimation nach Art. 48
VwVG und Art. 103 OG ausser Zweifel steht, machen geltend, das Werk mit
den nun zusätzlich angebrachten Vorrichtungen sei Quelle übermässiger
Immissionen, für welche ihnen, falls keine weiteren Lärmschutzmassnahmen
getroffen würden, eine Enteignungsentschädigung im Sinne von Art. 5,
16 und 19 EntG zustehe. Die Einsprache richtet sich somit gegen eine
mögliche Enteignung und kann daher gemäss der Ausnahmebestimmung von Art.
99 lit. c. OG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bis vor Bundesgericht
getragen werden (BGE 99 Ib 204 E. 1, 98 Ib 280, 428 E. 1, 97 I 579 E. 1b).

Erwägung 2

    2.- Aus der Beschwerde ergibt sich entgegen der Auffassung des
Regierungsrates klar, dass sich die Einsprecher nicht dem bereits
vollendeten Bau der Schallschutzwand auf der Westseite der Nationalstrasse
widersetzen, sondern um Ergänzung des Projektes durch zusätzliche
Schutzvorrichtungen auf deren Ostseite ersuchen.

    Ein solches Planänderungsgesuch ist an sich zulässig. Zwar ist bei
Expropriationen für den Nationalstrassenbau das Einspracheverfahren
vom eigentlichen Enteignungsverfahren abgetrennt und durch das
Nationalstrassengesetz geregelt (BGE 106 Ib 21 mit Hinweisen auf weitere
Entscheide; BGE 99 Ib 204), doch wollte der Gesetzgeber mit dieser
aus verfahrensökonomischen Gründen getroffenen Lösung die Privaten
zweifellos nicht schlechterstellen als jene, auf welche ausschliesslich
die Bestimmungen des Enteignungsgesetzes Anwendung finden (vgl. Botschaft
des Bundesrates zum Nationalstrassengesetz BBl 1959 II, S. 125 f.). Das
Einsprache- und Plangenehmigungsverfahren gemäss Art. 26 und 27 NSG hat
daher alle Funktionen des enteignungsrechtlichen Einspracheverfahrens im
engeren und weiteren Sinne (vgl. Art. 35 lit. a und b EntG) zu übernehmen.

Erwägung 3

    3.- Die kantonale Behörde wirft die Frage auf, ob und aufgrund
welcher Bestimmung der von Immissionen Betroffene vom Werkeigentümer
anstelle einer Entschädigung die Ergreifung konkreter Schutzmassnahmen
verlangen könne. Ein solcher Anspruch ergibt sich schon aus den allgemeinen
Grundsätzen des Enteignungsrechtes: Wenn auch der Anspruch des Nachbarn,
übermässige Immissionen abzuwehren (Art. 684 ZGB), an sich Gegenstand der
Enteignung bilden kann (Art. 5 EntG; BGE 106 Ib 244 E. 3 mit zahlreichen
Verweisungen), so dürfen doch diese Abwehrrechte vom Werkeigentümer
nur unterdrückt werden, wenn und soweit dies zur Erreichung des Zweckes
notwendig ist (Art. 1 Abs. 2 EntG), und ist der Enteigner verpflichtet,
die geeigneten Vorrichtungen zu schaffen, um die Öffentlichkeit und die
benachbarten Grundstücke gegen Gefahren und Nachteile sicherzustellen,
die mit dem Bau und Betriebe seines Unternehmens notwendig verbunden
und nicht nach Nachbarrecht zu dulden sind (Art. 7 Abs. 3 EntG;
vgl. auch Art. 5 Abs. 2 und Art. 42 Abs. 1 NSG; BGE 104 Ib 355 E. 3b,
in ZBl 77/1976 publ. Entscheid vom 3. Dezember 1975 E. 2; HESS, N. 22
zu Art. 7 EntG, LIVER, Die nachbarrechtliche Haftung des Gemeinwesens,
ZBJV 99/1963, S. 241 ff., insbesondere 253 f.). Der Werkeigentümer
hat daher alle zweckmässigen und ohne unverhältnismässige Kosten
realisierbaren technischen Vorkehren zur Lärmbekämpfung zu treffen,
bevor er als ultima ratio zur Enteignung schreitet. Dementsprechend ist
der Betroffene entgegen der Meinung der kantonalen Instanz nicht auf den
Zivilrichter angewiesen, sondern befugt, im Einspracheverfahren um den Bau
von Schutzvorrichtungen zu ersuchen (BGE 107 Ib 389 E. 2a; 96 II 350). Die
Legitimation des Privaten zur Teilnahme am Plangenehmigungsverfahren ist
übrigens - daran darf hier erinnert werden - durch die Einführung von Art.
48 VwVG und die Neufassung von Art. 103 OG beträchtlich erweitert worden
(vgl. BGE 108 Ib 245 ff.).

    Eine nähere Abklärung der sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen
erübrigt sich allerdings im vorliegenden Fall, da sich die eingereichte
Beschwerde als unbegründet erweist. Insbesondere kann offenbleiben, ob
nachträgliche Einsprachen entgegen dem Wortlaut von Art. 39 Abs. 1 EntG,
aber wohl im Sinne des Gesetzes, auch nach Ausführung des Werkes noch
zulässig seien.