Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 316



108 Ia 316

61. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 25.
November 1982 i.S. R., S. und Z. gegen Obergericht des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Anwaltsdisziplinarrecht; Meinungsäusserungsfreiheit; Öffentlichkeit
der Verhandlungen.

    1. Die in Art. 10 EMRK garantierte Meinungsäusserungsfreiheit ist
nicht verletzt, wenn ein Anwalt diszipliniert wird, weil er unsachliche
Kritik geübt und sich dabei im für den Verkehr mit den Behörden gebotenen
Ton vergriffen hat (E. 1, 2).

    2. Der schweizerische Vorbehalt zu Art. 6 EMRK schliesst die Anwendung
dieser Bestimmung auf das Disziplinarverfahren vor der Aufsichtsbehörde
aus (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich
stellte mit Beschluss vom 25. März 1982 die Rechtsanwälte R. und S.
während vier Monaten, Rechtsanwalt Z. während fünf Monaten im Berufe
ein. Den Anwälten wird standeswidriges Verhalten im Zusammenhang mit
dem "Pruntruter Prozess" zur Last gelegt, das auch Gegenstand eines
Disziplinarverfahrens vor der Berner Anwaltskammer bildet. Der massgebende
Sachverhalt ist in BGE 106 Ia 100 ff. wiedergegeben. Andere Vorwürfe sind
nicht erhoben.

    Die drei disziplinierten Anwälte wandten sich in der Folge an das
Obergericht des Kantons Zürich, das die Rekurse am 9. Juni 1982 jedoch
abwies. Das Bundesgericht weist die dagegen erhobenen staatsrechtlichen
Beschwerden, worin die Verletzung von Art. 4 und 31 BV sowie Art. 6 und
10 EMRK gerügt wird, ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Aufsichtskommission und Obergericht prüften die gegen die
Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem "Pruntruter Prozess" zur Last
gelegten Vorwürfe sowohl unter dem Gesichtswinkel des zürcherischen
Anwaltsgesetzes vom 3. Juli 1938 (AG) als auch von BGE 106 Ia 100 ff. Die
Beschwerdeführer bestreiten nicht, dass Aufsichtskommission und Obergericht
nur solche Disziplinarwidrigkeiten feststellen, die auch vom Bundesgericht
im erwähnten Entscheid geprüft und als erstellt betrachtet wurden. Die
Kritik der Beschwerdeführer richtet sich denn auch weniger gegen die
obergerichtlichen Erwägungen, als vielmehr gegen die in BGE 106 Ia 100
ff. dargelegte bundesgerichtliche Rechtsauffassung. Die Beschwerdeführer
machen geltend, das Bundesgericht habe in seinem Urteil vom 22. Februar
1980 der in Art. 10 EMRK garantierten Meinungsäusserungsfreiheit zu wenig
Rechnung getragen.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer übersehen, dass das Bundesgericht in BGE
106 Ia 103 E. 6a ausdrücklich erklärt hat, die Tätigkeit des Anwalts
sei nicht nur unter dem Gesichtswinkel von Art. 31 BV, sondern auch
im Lichte weiterer Grundrechte, wie der Meinungsäusserungsfreiheit und
der Pressefreiheit, zu beurteilen. Die Ausführungen des Bundesgerichts
darüber, welche Verhaltensweisen dem Anwalt in Ausübung seiner Tätigkeit
erlaubt sind, tragen denn auch diesen Grundrechten Rechnung, auch wenn
bei der Beurteilung der den Beschwerdeführern im einzelnen gemachten
Vorwürfe nicht in jedem Fall gesondert auf die massgebenden Grundrechte
Bezug genommen wurde. Von der bundesgerichtlichen Auffassung, wie sie
im erwähnten Entscheid zum Ausdruck gebracht wurde, im vorliegenden
Verfahren abzuweichen, besteht grundsätzlich kein Anlass. Immerhin ist
es der Vollständigkeit halber angebracht, zu einzelnen in der Beschwerde
aufgeworfenen Punkten Stellung zu nehmen.

    a) Nach Art. 10 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie
Meinungsäusserung. Soweit es um den Begriff der "Meinung" geht, hat Art. 10
Ziff. 1 EMRK keine weitergehende Bedeutung als die vom Verfassungsrecht
des Bundes garantierte Meinungsäusserungsfreiheit. Darunter fallen die
Ergebnisse von Denkvorgängen sowie rational fassbar und mitteilbar gemachte
Überzeugungen in der Art von Stellungnahmen, Wertungen, Anschauungen,
Auffassungen und dergleichen (BGE 101 Ia 150 E. 2). Im angefochtenen
Entscheid wird dem Beschwerdeführer Z. zur Last gelegt, die Gerichtssitzung
vom 12. Juni 1978 verlassen zu haben und der Verhandlung vom 26. Juni 1978
ferngeblieben zu sein. Auch wenn mit diesem Verhalten eine Missbilligung
zum Ausdruck kam, handelt es sich nicht um die positive Äusserung einer
Meinung. Die Berufung auf Art. 10 Ziff. 1 EMRK vermag in diesem Fall
daher von vornherein nicht durchzudringen.

    b) Art. 10 Ziff. 2 EMRK legt die Voraussetzungen fest, unter denen
staatliche Eingriffe in die Meinungsäusserungsfreiheit zulässig sind. Die
Bestimmung hat folgenden Wortlaut:

    "Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit
   sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen
   Formvorschriften,

    Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden,
wie
   sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen

    Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen

    Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der
Verbrechensverhütung,
   des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten
   Rufs oder der Rechte anderer notwendig sind, um die Verbreitung von
   vertraulichen

    Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der

    Rechtsprechung zu gewährleisten."

    aa) Die Beschwerdeführer machen geltend, dass die angefochtene
Disziplinierung der gesetzlichen Grundlage ermangele. Nach § 7 Abs. 1
AG ist der Rechtsanwalt verpflichtet, seine Berufstätigkeit gewissenhaft
auszuüben und sich durch sein Verhalten in der Ausübung seines Berufes und
sein sonstiges Geschäftsgebaren der Achtung würdig zu zeigen, die sein
Beruf erfordert. Die Beschwerdeführer beanstanden, diese Vorschrift sei
viel zu unbestimmt, um als gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die
Meinungsäusserungsfreiheit vor Art. 10 Ziff. 2 EMRK standzuhalten. Dem
ist entgegenzuhalten, dass es praktisch unmöglich ist, alle möglichen
Disziplinartatbestände in einem Gesetz abschliessend aufzuzählen. Dies
verlangt auch die EMRK nicht. Die massgebenden Vorschriften müssen
lediglich so präzise formuliert sein, dass der Einzelne sein Verhalten
danach richten kann, bzw. die Folgen seines Verhaltens mit einem den
Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (vgl. EuGRZ
1979, S. 387, E. 46 ff. betreffend "Sunday-Times"). Was ein Anwalt
tun darf, ergibt sich im einzelnen aus den Standesregeln, auf die das
Obergericht sich im vorliegenden Fall indes nicht beruft, anderseits aus
der Disziplinarpraxis der Aufsichtsbehörden sowie des Bundesgerichts. Dass
ein Anwalt diese Praxis kennt, darf mit Fug vorausgesetzt werden. In
einzelnen Erlassen betreffend die Fähigkeitsprüfung zum Rechtsanwaltsberuf
ist denn auch ausdrücklich vorgesehen, dass die Kandidaten im Anwaltsrecht
geprüft werden (vgl. § 11 ZH/VO, Art. 19 lit. f JU/Règlement). Unter
diesen Umständen besteht kein Grund zur Annahme, § 7 Abs. 1 AG genüge
den formellen Erfordernissen von Art. 10 Ziff. 2 EMRK nicht.

    bb) Die Beschwerdeführer bestreiten, dass der Eingriff in die
Meinungsäusserungsfreiheit im Sinne von Art. 10 Ziff. 2 EMRK gerechtfertigt
gewesen sei.

    Das Bundesgericht hat in BGE 106 Ia 104 ff. E. b ausgeführt, welche
Stellung dem Anwalt innerhalb der Rechtspflege zukommt. Danach sind die
dem Anwalt auferlegten geschriebenen und ungeschriebenen Regeln sowie
die Wahrung der Standeswürde im Interesse des rechtssuchenden Publikums
und des geordneten Ganges der Rechtspflege sowie des Vertrauens in
die Person des Anwalts bzw. in die ganze Anwaltschaft zu beachten. Die
sich daraus ergebenden Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit
halten vor Art. 10 Ziff. 2 EMRK stand, denn nach der Rechtsprechung der
Konventionsorgane fallen unter Bestimmungen zum Zwecke der Gewährleistung
des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung auch solche
zum Schutze der Streitparteien (EuGRZ 1979, S. 388, E. 56). Aber auch
Vorschriften, die um des geordneten Ganges der Rechtspflege willen dem
Anwalt bestimmte Verhaltensregeln vorschreiben, sind mit Art. 10 Ziff. 2
EMRK vereinbar. So hat der Europäische Gerichtshof im bereits erwähnten
"Sunday-Times"-Urteil erkannt, dass die in der Presse ausgetragene
Auseinandersetzung einer gerichtlich zu beurteilenden Streitsache zu
einem "trial by newspaper" führen könne, was mit den Erfordernissen einer
ordnungsgemässen Rechtspflege nicht vereinbar sei (EuGRZ 1979, S. 388,
E. 57). Im vorliegenden Fall wurde den Beschwerdeführern nicht zum Vorwurf
gemacht, dass sie sich an die Öffentlichkeit wandten; beanstandet wurde
vielmehr, dass die Beschwerdeführer die einem Anwalt gebotene sachliche und
objektive Ausdrucksweise verletzten (BGE 106 Ia 114 E. d, 116 oben) sowie
mithalfen, masslose und unqualifizierte Vorwürfe gegen die Justizorgane
öffentlich zu verbreiten (BGE 106 Ia 119 f. E. c). Rechtsanwalt Z. wird
darüber hinaus zur Last gelegt, Propaganda für die politischen Ziele
seiner Mandaten und für die Rechtmässigkeit des Terrors im Kampf gegen
den Imperialismus betrieben zu haben (BGE 106 Ia 118 oben). Wenn das
Bundesgericht vornehmlich an der von den Beschwerdeführern gewählten
Ausdrucksweise Anstoss nahm und das Obergericht die Beschwerdeführer
deshalb disziplinierte, kann darin kein Verstoss gegen Art. 10 Ziff. 2
EMRK erblickt werden. Das öffentliche Interesse an Information verlangt
vom Anwalt nicht, dass er seine Kritik unsachlich vorbringt und sich
im Ton, wie er üblicherweise im Verkehr mit der Justiz geboten ist,
vergreift. Diese Verhaltensmassregeln sind nicht der Ausdruck übertriebener
Empfindlichkeit. Objektivität und Sachlichkeit in der Ausdrucksweise -
bei aller zuzubilligenden Einseitigkeit und Schärfe in der Sache selbst -
sind die Voraussetzung dafür, dass die Rechtspflege ihren ordnungsgemässen
Gang, frei von sachfremden Einflüssen, nehmen kann. Werden die Justizorgane
öffentlich mit masslosen und unqualifizierten Vorwürfen angegriffen,
besteht insbesondere die Gefahr, dass die in der Streitsache mitwirkenden
Organe einerseits die notwendige innere Distanz zum Streitgegenstand
verlieren und dass sie anderseits nicht mehr unbefangen zu urteilen
vermögen. Mit den Erfordernissen einer unabhängigen Rechtspflege ist
eine solche Situation klarerweise unvereinbar. Sodann ist ein derart
standeswidriges Verhalten auch geeignet, das Ansehen der gesamten
Rechtsprechung herabzusetzen. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt
werden, die Disziplinierung der Beschwerdeführer verstosse gegen Art. 10
Ziff. 2 EMRK.

Erwägung 5

    5.- Rechtsanwalt S. beruft sich auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Er spricht
der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte das Erfordernis der
Unparteilichkeit und Unabhängigkeit ab. Ausserdem beanstandet er, dass
die kantonalen Behörden seinen Fall nicht öffentlich verhandelten.

    a) Die vorliegende Beschwerde richtet sich einzig gegen den Beschluss
des Obergerichts. Die Rüge der Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist
deshalb nur insoweit zu prüfen, als sie das Verfahren vor Obergericht
betrifft. Der Vorwurf an die Adresse der Aufsichtskommission stösst
daher ins Leere. Dass das Obergericht keine unabhängige und unparteiische
Behörde sei, macht der Beschwerdeführer nicht geltend.

    b) Nach dem Wortlaut von Art. 6 Ziff. 1 EMRK bezieht sich der Anspruch
darauf, dass eine Sache in billiger Weise öffentlich gehört wird, auf
das Verfahren vor einem Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und
Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen den Betreffenden
erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Die Schweiz hat sich
bei der Ratifikation der EMRK hinsichtlich dieser Bestimmung vorbehalten,
dass der Grundsatz der Öffentlichkeit keine Anwendung auf Verfahren im
oben erwähnten Sinne findet, die nach dem kantonalen Recht vor einer
Verwaltungsbehörde stattfinden (AS 1974 II 2173). Nach schweizerischer
Auffassung ist das Disziplinarrecht nicht dem Straf- oder Zivilrecht,
sondern dem Verwaltungsrecht zuzurechnen, denn die Disziplinarmassnahme
bezweckt nicht in erster Linie die Übelszufügung oder die wirtschaftliche
Benachteiligung infolge Behinderung in der Erwerbstätigkeit, sondern
die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb des Personenkreises,
für den das Disziplinarrecht gilt (vgl. BGE 98 Ib 306 E. 2b, 97 I 835
E. 2a; nicht publiziertes Urteil vom 6. März 1981 i.S. H. E. 1). Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vertritt in seinen Urteilen i.S.
König (EuGRZ 1978, S. 406 ff.) und Le Compte & Kons. (EuGRZ 1981, S. 551
ff.) dagegen (mehrheitlich) die Ansicht, ein Berufsverbot hindere den
Betroffenen in seiner privaten Erwerbstätigkeit. Insofern bestehe eine
direkte Verbindung zwischen der Disziplinarmassnahme und dem Recht auf
Berufsausübung, weshalb selbst ein befristetes Berufsverbot von kurzer
Dauer als Streitigkeit zivilrechtlicher Natur zu gelten habe. Ob dieser
Rechtsprechung uneingeschränkt zu folgen ist, kann dahingestellt bleiben.
Selbst wenn man in Übereinstimmung mit den Konventionsorganen ein zeitlich
befristetes Berufsverbot als Entscheid über einen zivilrechtlichen
Anspruch betrachten würde, hätten Aufsichtskommission und Obergericht
Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht verletzt. Denn der bereits erwähnte Vorbehalt
zu dieser Bestimmung schliesst deren Anwendung auf das Verfahren vor
einer Verwaltungsbehörde aus, soweit eine solche nach kantonalem Recht
zuständig ist. Das Obergericht legt dar, dass sowohl es selbst als
auch die Aufsichtskommission das Anwaltsdiziplinarrecht in Ausübung
verwaltungsbehördlicher Funktionen handhaben. Dies bestreitet der
Beschwerdeführer nicht und folgt im übrigen aus der öffentlichrechtlichen
Natur des Verhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Aufsichtsbehörde. Der
Beschwerdeführer behauptet nicht, ein innerstaatlicher Rechtsatz gebiete
die öffentliche Verhandlung. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt
daher als unbegründet.