Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 248



108 Ia 248

46. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19.
November 1982 i.S. Schwemmer gegen Regierungsrat des Kantons Thurgau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 45 BV: Wohnsitzpflicht für Beamte.

    Die Verpflichtung eines Mittelschullehrers, im Kanton zu wohnen, ist
grundsätzlich mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar: Voraussetzungen
(E. 1), öffentliches Interesse (E. 3a).

Sachverhalt

    A.- Schwemmer ist Lehrer an der thurgauischen Kantonsschule
Romanshorn. Er ersuchte um die Bewilligung, seinen Wohnsitz ins
st. gallische Langenhub, einen benachbarten Weiler seines gegenwärtigen
(thurgauischen) Wohnortes Winden, zu verlegen. Die Behörden des
Kantons Thurgau, in letzter Instanz der Regierungsrat, verweigerten
die Bewilligung. Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche
Beschwerde Schwemmers, mit der dieser insbesondere die Verletzung der
Niederlassungsfreiheit rügt, ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 45 BV kann sich jeder Schweizer an jedem Ort des
Landes niederlassen. Die Niederlassungsfreiheit gewährleistet damit
die Möglichkeit persönlichen Verweilens an jedem beliebigen Ort der
Schweiz; sie gebietet den Kantonen und Gemeinden, jedem Schweizerbürger
die Niederlassung auf ihrem Gebiet zu erlauben und verbietet ihnen
gleichzeitig, die Verlegung des einmal gewählten Wohnsitzes in einen
anderen Kanton, eine andere Gemeinde oder ins Ausland zu verhindern
oder zu erschweren (vgl. AUBERT, Traité de Droit Constitutionnel Suisse,
Neuchâtel 1967, sowie Supplément 1982, Nos 1959 ss.; BURCKHARDT, Kommentar,
3. Auflage, Bern 1931, S. 387/390).

    Die Verfassungsbestimmungen, welche den Kantonen die Verweigerung
oder den Entzug der Niederlassung wegen Bedürftigkeit oder Straffälligkeit
gestatteten, und deren Voraussetzungen Gegenstand des grössten Teils der
Bundesgerichtsentscheide zu Art. 45 BV bildeten (vgl. u.a. BGE 98 Ia 303,
92 I 22, 88 I 30 je mit Verweisen), sind mit der Revision von Art. 45
BV im Jahre 1975 aufgehoben worden (vgl. Bericht der Kommission des
Nationalrates vom 11. September 1973 in BBl 1974 I 223). Einschränkungen
der Niederlassungsfreiheit sind seither nur unter den allgemeinen
Voraussetzungen zulässig, welche für staatliche Massnahmen im Bereiche der
Grundrechte gelten. Dazu gehören insbesondere eine hinreichende gesetzliche
Grundlage und ein öffentliches Interesse, das allfällige entgegenstehende
private Interessen überwiegt. Diese Voraussetzungen gelten grundsätzlich
auch in besonderen Rechtsverhältnissen (vgl. BGE 106 Ia 282 E. 3d, 98
Ia 365 E. 3 je mit Hinweisen), namentlich im Beamtenverhältnis (BGE 106
Ia 29 E. 2, vgl. auch HANGARTNER, Entwicklungstendenzen im öffentlichen
Dienstverhältnis, ZSR 1979 Bd. 1 S. 396 ff., O.K. KAUFMANN, Grundzüge
des schweizerischen Beamtenrechts, ZBl 1972 S. 386 f.).

Erwägung 2

    2.- Der Regierungsrat des Kantons Thurgau hat die Residenzpflicht für
den Beschwerdeführer aus § 3 des Gesetzes über Wahlen und Abstimmungen
vom 10. Januar 1953 abgeleitet. Diese Bestimmung lautet:

    "Für die Wahlfähigkeit in eine Behörde oder Beamtung ist der Wohnsitz
   im Zeitpunkt der Wahl noch nicht erforderlich. Dagegen kann das Amt
   erst nach Wohnsitznahme im Amtsgebiet angetreten werden."

    a)-e) (Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers genügt diese
gesetzliche Grundlage, um die Mittelschullehrer des Kantons Thurgau zu
verpflichten, im Kantonsgebiet Wohnsitz zu wählen.)

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer bestreitet, dass an der umstrittenen
Wohnsitzpflicht ein öffentliches Interesse bestehe.

    a) Ein öffentliches Interesse an der Wohnsitzpflicht des Beamten
besteht nicht nur dann, wenn die Art des Dienstes es dringend erfordert
(BGE 103 Ia 457 E. 4a). Nach schweizerischer Auffassung ist vielmehr
eine gewisse Verbundenheit des Beamten mit der Bevölkerung anzustreben,
die besser gewährleistet ist, wenn der Beamte im Gemeinwesen des
öffentlichrechtlichen Arbeitgebers wohnt, denn die Beziehung zum Wohnort
ist in der Regel eine wesentlich intensivere als diejenige zum blossen
Arbeitsort (BGE 106 Ia 31 E. b). Das Interesse des Gemeinwesens an der
Verwurzelung seiner Beamten ist als unglaubwürdig bezeichnet worden
(J. P. MÜLLER, in ZBJV 1979. S. 128). Diese Kritik verkennt, dass die
schweizerische Tradition des "Volksstaates" (vgl. FLEINER, Beamtenstaat
und Volksstaat, in Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 138
ff.) in einem grossen Teil der Kantone und Gemeinden noch durchaus lebendig
ist. Namentlich in kleineren Gemeinwesen wird auf die "Bürgernähe"
des Beamten noch heute grosser Wert gelegt (vgl. O.K. KAUFMANN, aaO,
S. 383 f.). Der Beamte soll danach, wenn er Amtsgewalt ausübt, nicht
als "fremder Herr" erscheinen, der mit den Anschauungen der Bevölkerung
nicht vertraut ist und sich der politischen Verantwortung entzieht. Er
soll vielmehr durch seine Teilnahme an der politischen Willensbildung
des Gemeinwesens auch ausserhalb seines Amtes belegen, dass ihm an den
Geschicken dieses Gemeinwesens (dessen grundlegende Entscheide er unter
Umständen durch Mitarbeit bei der Gesetzesvorbereitung, Ausarbeitung
von Plänen und Plan-Varianten etc. beeinflusst) liegt. Der Wohnsitz im
Gemeinwesen ist Voraussetzung für die Ausübung der politischen Rechte. Es
mag zwar zutreffen, dass das öffentliche Interesse an der Beteiligung und
am Mitbetroffensein des Beamten durch die entsprechenden politischen
Entscheide nicht bei sämtlichen Beamten gleichermassen wesentlich
ist. Das eher kleinliche fiskalische Interesse (AUBERT, Supplément
No 1970) mag deshalb in gewissen Fällen allzu sehr im Vordergrund
stehen. Es obliegt indessen in erster Linie dem kantonalen Gesetzgeber
und den mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten kantonalen Behörden zu
beurteilen, für welche Beamten die Integration in das öffentliche Leben
des Gemeinwesens als besonders wichtig erscheint. Gerade für Lehrer ist
dieses öffentliche Interesse jedoch grundsätzlich nicht zu bestreiten. Auch
wenn der Lehrer nicht verpflichtet wird, im Interesse der Erreichbarkeit
für Eltern und Schüler am Schulort selbst zu wohnen (vgl. HANGARTNER,
aaO, S. 399, vgl. auch PLOTKE, Schweizerisches Schulrecht, Bern 1979,
S. 440 Ziff. 18.727), so kann doch seine Beziehung zum Schulträger nicht
als unwesentlich beiseite geschoben werden (PLOTKE, aaO, S. 428). Der
Lehrer übt, namentlich mit der Erteilung von Zensuren, Amtsgewalt aus;
er beeinflusst aber auch durch seine allgemeine erzieherische Tätigkeit
das Verständnis der Schüler für Kultur und Tradition in hohem Masse. Das
Interesse an der Vertrautheit des Lehrers mit den Anschauungen der
Bevölkerung, aber auch das Bestreben, ihm die Teilnahme am politischen
Geschehen des Gemeinwesens zu ermöglichen, für dessen Institutionen
er das Verständnis seiner Schüler wecken sollte, bilden hinreichende
öffentliche Interessen, um ihn zum Wohnsitz im Gebiet des Gemeinwesens
seines Arbeitgebers zu verpflichten.

    (Die privaten Interessen des Beschwerdeführers wiegen im vorliegenden
Fall das öffentliche Interesse an der Wohnsitzpflicht nicht auf.)