Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 230



108 Ia 230

43. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 25.
November 1982 i.S. D. gegen Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte
im Kanton Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 31 BV; Anwaltsdisziplinarrecht.

    Ob ein im Tatkanton disziplinierter Anwalt durch die Aufsichtsbehörde
des Stammkantons zusätzlich belangt werden darf, beurteilt sich nach dem
Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Eine weitere Sanktion rechtfertigt sich
jedenfalls dann, wenn die Disziplinierung im Tatkanton die erforderliche
Wirkung nicht entfalten kann, weil z.B. der im Tatkanton von der
Berufsausübung vorübergehend ausgeschlossene Anwalt dort nur selten
tätig ist.

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt D. wurde aufgrund der Vorfälle im Zusammenhang mit dem
"Pruntruter Prozess" die Berufsausübungsbewilligung im Kanton Bern für die
Dauer von fünf Monaten entzogen, nachdem das Bundesgericht den von der
Berner Anwaltskammer angeordneten dauernden Entzug des Anwaltspatentes
wegen Verletzung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes aufgehoben hatte
(BGE 106 Ia 100 ff.). Die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im
Kanton Zürich büsste D. im Anschluss daran wegen derselben Vorkommnisse,
die auch im Berner Verfahren zu beurteilen waren, gestützt auf §
7 Abs. 1 des zürcherischen Anwaltsgesetzes mit Fr. 1'000.--. Dagegen
erhebt Rechtsanwalt D. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 und 31 BV. Er macht geltend, angesichts der Disziplinierung im
Kanton Bern bestehe kein Raum für eine Sanktion im Kanton Zürich. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Grundsatz ne bis in
idem. Die in Bern angeordnete befristete Berufseinstellung trage alle
Merkmale einer Strafe. Nichts anderes gelte für die in Zürich verhängte
Busse. Nach den bundesgerichtlichen Grundsätzen sei aber die Zweitsanktion
unzulässig.

    Die Einwendungen des Beschwerdeführers sind nur dann geeignet, die
Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Entscheides ernstlich in Frage
zu stellen, wenn auf den vorliegenden Fall der Grundsatz ne bis in idem
vorbehaltlos zu Anwendung käme. Es fragt sich indes, ob nicht bereits der
Ansatzpunkt der Kritik, die in erster Linie auf BGE 102 Ia 28 ff. aufbaut,
falsch ist.

    a) Im erwähnten Urteil hielt das Bundesgericht einleitend fest,
disziplinarische Sanktionen gegenüber Anwälten unterstünden dem
Verhältnismässigkeitsprinzip. Der dem Strafprozessrecht entstammende
Grundsatz ne bis in idem habe damit indes nichts zu tun. Er gelte
hinsichtlich kantonaler Disziplinarverfahren nicht ohne weiteres,
insbesondere werde die Disziplinarhoheit der Kantone dadurch nicht
allgemein eingeschränkt. Das Bundesgericht überprüfte sodann die Natur
der einzelnen Disziplinarsanktionen. Es hielt fest, Disziplinarstrafen,
zu denen Verweis und Busse bzw. Sanktionen mit überwiegendem Strafcharakter
zu zählen seien, unterstünden dem Grundsatz ne bis in idem. Es sei stossend
und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, den Anwalt kumulativ
in allen Kantonen zu büssen, in denen er zur Berufsausübung zugelassen ist.

    b) Auch wenn in einzelnen Erwägungen des erwähnten
Bundesgerichtsurteils auf den Grundsatz ne bis in idem Bezug genommen
wird, muss daran festgehalten werden, dass das kantonale Disziplinarrecht
dem Verwaltungsrecht, und nicht dem Strafrecht zuzurechnen ist und daher
strafrechtlichen Grundsätzen an sich nicht zugänglich ist (BGE 98 Ib 306
E. 2b, 97 I 835 E. 2a; DUBACH, Das Disziplinarrecht der freien Berufe,
ZSR 70/1951, S. 16a). Bei den disziplinarischen Sanktionen steht nicht
die Übelszufügung im Vordergrund, sondern die Aufrechterhaltung der
Disziplin im betreffenden Berufskreis (HENGGELER, Das Disziplinarrecht der
freiberuflichen Rechtsanwälte und Medizinalpersonen, Diss. Zürich 1976,
S. 46), bei Anwälten insbesondere die Wahrung der Standeswürde und der
Schutz des rechtsuchenden Publikums (BGE 73 I 290). Insofern bezweckt
jede Disziplinarsanktion in erster Linie, den Fehlbaren zu einem in
Zukunft standesgemässen Verhalten zu veranlassen. Nicht entscheidend
ist dabei die Sanktionsart. Auch Busse und Verweis sowie die befristete
Einstellung im Beruf sollen den Betreffenden dazu bringen, sich in
Zukunft standeskonform zu verhalten. Das pönale Element ist somit nur
von zweitrangiger Bedeutung. Bei der Beurteilung der Frage, ob der
Anwalt auch in einem anderen als dem Tatkanton diszipliniert werden
kann, kommt es demnach nicht so sehr auf die Natur der Sanktion, sondern
darauf an, ob unter Berücksichtigung aller wegen desselben Sachverhaltes
ausgesprochener Disziplinierungen die zusätzlich verfügte Massnahme
erforderlich ist, d.h. den Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet. Die
sich stellende Rechtsfrage ist im Zweitkanton insoweit nicht anders
als im Tatkanton. Unter dem Gesichtswinkel des für die Disziplinierung
massgebenden Verhältnismässigkeitsgrundsatzes (BGE 106 Ia 121 E. c mit
Hinweisen) kommt als weiterer Umstand für die Beurteilung, ob die Sanktion
in einem angemessenen Verhältnis zur Art und Schwere der Pflichtwidrigkeit
steht und nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um den Schutz
des rechtsuchenden Publikums zu gewährleisten, lediglich hinzu, dass der
Anwalt bereits diszipliniert wurde. Dabei ist nicht nur die im Tatkanton
ausgesprochene Sanktion zu berücksichtigen. Von Bedeutung ist namentlich
auch, inwiefern sie sich auf den Betreffenden auswirkt. Je nach dem kann
sich unter diesem Gesichtspunkt eine zusätzliche Sanktion aufdrängen. Dies
ist namentlich dann der Fall, wenn der disziplinierte Anwalt in einem
Kanton, in dem er kein Geschäftsdomizil unterhält und nicht regelmässig
tätig ist, zeitlich befristet im Beruf eingestellt wird. Eine solche
Disziplinarmassnahme dürfte in den wenigsten Fällen die gewünschte Wirkung
zeigen und daher geeignet sein, nachhaltig auf den Anwalt einzuwirken. Wenn
unter diesen Umständen der Stammkanton ihn erneut diszipliniert, kann dies
grundsätzlich nicht beanstandet werden. Mit dieser Rechtsprechung steht
BGE 102 Ia 28 ff. in Einklang. Dort kam das Bundesgericht zum Schluss,
dass eine zweite Busse deshalb nicht geboten war, weil die im Tatkanton
ausgesprochene befristete Berufseinstellung zusammen mit der Erstbusse dem
Verschulden des Anwaltes insgesamt angemessen war. Der erwähnte Entscheid
ist lediglich dahingehend zu präzisieren, dass nicht der Grundsatz ne
bis in idem, sondern das Verhältnismässigkeitsprinzip entscheidet, ob
und inwiefern der Anwalt kumulativ diszipliniert werden kann.

    c) Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob die
Aufsichtskommission aufgrund des einschlägigen Zürcher Rechts befugt
war, ein separates Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer
einzuleiten. Eine solche Rüge ist nicht erhoben. Strittig ist dagegen,
ob die angefochtene Massnahme erforderlich war.

    Nach den bundesgerichtlichen Erwägungen im Urteil vom 22. Februar
1980, auf die zurückzukommen kein Anlass besteht, verhielt sich der
Beschwerdeführer in einer Art und Weise, die seine Vertrauenswürdigkeit
ernsthaft bezweifeln lässt (BGE 106 Ia 123 E. c), auch wenn sein
Verschulden im Vergleich zu dem der übrigen ins Recht gefassten
Anwälte weniger schwer wiegt. Die Aufsichtskommission schloss sich
dieser Beurteilung an. Sie hielt bei der Festsetzung der Massnahme
dafür, es liege ein Grenzfall vor, so dass man sich die Frage stellen
könne, ob die Vertrauenswürdigkeit noch in einem Masse erschüttert
sei, die die befristete Einstellung im Beruf rechtfertige. Diese
Würdigung ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Angesichts
des nicht unbedeutenden Verschuldens des Beschwerdeführers, lässt
sich die Auffassung vertreten, mit der befristeten Berufseinstellung
im Kanton Bern sei namentlich im Hinblick auf den Schutz des Zürcher
Publikums nicht Genüge getan. Dies folgt namentlich daraus, dass der
Beschwerdeführer im Kanton Bern kein Geschäftsdomizil unterhält und dort
offensichtlich nicht regelmässig tätig ist. Das materielle Gewicht der
Berner Massnahme dürfte den Beschwerdeführer somit nicht schwer treffen
und ist insbesondere weit geringer zu veranschlagen als eine Massnahme
dieser Art im Stammkanton. Eine zusätzliche Sanktion im Kanton Zürich,
wo der Beschwerdeführer sein Geschäftsdomizil hat, lässt sich unter diesen
Umständen rechtfertigen. (Ausführungen über die Höhe der Busse.)