Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 212



108 Ia 212

39. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 7.
Dezember 1982 i.S. Waldburger gegen Schuler, Gemeinderat Gais und
Regierungsrat des Kantons Appenzell A. Rh. (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV; Gleichbehandlung im Unrecht; Interessen Dritter.

    Stehen dem aus dem Grundsatz der Rechtsgleichheit abgeleiteten Anspruch
eines Privaten auf gesetzwidrige Begünstigung berechtigte Interessen
Dritter entgegen, so sind die widersprechenden Rechte und Interessen im
Einzelfall gegeneinander abzuwägen.

Sachverhalt

    A.- Guido Schuler beansprucht für den Bau eines Appenzellerhauses
mit talseitig drei sichtbaren Vollgeschossen eine von Art. 35 Abs. 2
des Baureglements der Gemeinde Gais vom 5. März 1972 (BR) abweichende
Baubewilligung. Nach dieser Vorschrift dürfen in der Wohnzone WE unter
anderem talseits nur zwei Geschosse voll in Erscheinung treten. Der
Regierungsrat des Kantons Appenzell A. Rh. wies einen Rekurs des Nachbarn
Eduard Waldburger in zweiter Instanz ab. Gegen diesen Entscheid führt
Eduard Waldburger staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht
erachtet die Hauptbegründung des angefochtenen Entscheids als mit
Art. 4 BV unvereinbar und heisst die Beschwerde auch hinsichtlich der
Eventualbegründung gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Regierungsrat hat ferner den Eventualstandpunkt des
Gemeinderates und der Baugesuchsteller geschützt, dass die Baubewilligung
aus Gründen der Rechtsgleichheit gleichwohl zu erteilen sei. Er geht
davon aus, dass seit Inkrafttreten des Baureglementes verschiedene
Bauvorhaben bewilligt worden seien, die in ihrer Geschosseinteilung
und Lage zum gewachsenen Terrain dem heute angefochtenen Vorhaben
entsprächen. Es bestehe somit eine gefestigte Praxis in der Bewilligung
solcher Bauvorhaben. Im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hätten
daher die Baugesuchsteller Anspruch auf Bewilligung derselben Ausnützung
ihres Baugrundstücks (BGE 99 Ib 383/384). Der Beschwerdeführer rügt auch
diese Rechtsauffassung als willkürlich.

    a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes geht der Grundsatz
der Gesetzmässigkeit der Verwaltung in der Regel der Rücksicht auf
die gleichmässige Rechtsanwendung vor. Der Umstand, dass das Gesetz
in andern Fällen nicht oder nicht richtig angewendet worden ist, gibt
dem Bürger grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ebenfalls abweichend
vom Gesetz behandelt zu werden. Das gilt jedoch nur, wenn lediglich in
einem einzigen oder in einigen wenigen Fällen eine abweichende Behandlung
dargetan ist. Wenn dagegen die Behörden die Aufgabe der in andern Fällen
geübten, gesetzwidrigen Praxis ablehnen, kann der Bürger verlangen,
dass die gesetzwidrige Begünstigung, die dem Dritten zuteil wird, auch
ihm gewährt werde (BGE 104 Ib 372 E. 5; 103 Ia 244 E. 3a; 99 Ib 383;
90 I 159 mit Verweisungen).

    Diesem aus dem Gleichheitsgebot abgeleiteten Anspruch auf gesetzwidrige
Begünstigung kann indessen wie hier das berechtigte Interesse eines
Dritten an gesetzmässiger Rechtsanwendung entgegenstehen. Wie der
Beschwerdeführer mit Recht erklärt, hatte das Bundesgericht noch keinen
die Gleichbehandlung im Unrecht betreffenden Fall zu beurteilen, in dem
Interessen Dritter betroffen waren. Dagegen hatte es sich in jüngerer
Zeit mit zwei Fällen zu befassen, in denen dem Anspruch eines Bürgers,
in seinem Vertrauen auf eine behördliche Auskunft geschützt zu werden,
berechtigte Interessen Dritter entgegenstanden. Dort entschied das Gericht
nicht im Sinne einer generellen Rangordnung der einander widersprechenden
Ansprüche; es stellte vielmehr fest, dass die in Frage stehenden Rechte und
Interessen im Einzelfall gegeneinander abzuwägen seien (unveröffentlichte
Urteile vom 25. November 1981 i.S. Christoffel, E. 3b, und vom 31. März
1982 i.S. Dornacher, E. 4b). In gleicher Weise ist der Interessenkonflikt
zu lösen, wenn - wie hier - dem Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht
berechtigte Interessen Dritter entgegenstehen. Auch in einem solchen
Gegensatz der Interessen kann eine absolute Rangordnung den Besonderheiten
des Einzelfalls nicht immer gerecht werden, wenn auch beim Schutz einer
rechtswidrigen Praxis grösste Zurückhaltung zu üben ist.

    b) Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass der Gemeinderat
Gais die angefochtene Bewilligungspraxis nach dem Inkrafttreten des
Baureglementes von 1972 gehandhabt hat und sie weiterzuführen gedenkt. Er
nennt 15 Fälle, in denen er seit 1972 vergleichbare Baubewilligungen
erteilt habe. Der Beschwerdeführer anerkennt, dass 6 dieser Bauprojekte
sich im Quartier Rotenwies befinden, während alle übrigen Parzellen im
Gebiet Schwantlern oder unmittelbar daneben lägen, wo - im Gegensatz zu
Parzelle Nr. 1329 - der Hang steil abfalle; in einer weit grössern Anzahl
von Fällen sei Art. 35 Abs. 2 BR indessen eingehalten worden.

    Wieviel Baubewilligungen tatsächlich in Verletzung von Art. 35 Abs. 2
BR erteilt worden sind, kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn von einer
seit 1972 konsequenten, aber rechtswidrigen Praxis des Gemeinderates zu
sprechen wäre, könnte die hier vorzunehmende Interessenabwägung nicht
zu Gunsten einer rechtswidrigen Bevorteilung des Beschwerdegegners
führen. Das Interesse des Beschwerdeführers an der Einhaltung der
auch seinem Schutz dienenden Bauvorschriften überwiegt jenes des
Beschwerdegegners, die projektierte Baute in Abweichung von einer solchen
Vorschrift unverändert ausführen zu können. Die streitige Überschreitung
der zulässigen Geschosszahl kann ebensowenig als geringfügig bezeichnet
werden wie die daraus folgende Beeinträchtigung der Nachbarn. Gemäss
Projekt treten talseits drei Geschosse in Erscheinung; nach Art. 35 Abs. 2
BR wären nur deren zwei zulässig. Die Änderung des Projekts bedeutet für
den Beschwerdegegner keine besondere Härte. Er könnte den Anforderungen
von Art. 35 Abs. 2 BR schon dadurch genügen, dass er das Haus tiefer
legen und auf den sog. Hobbyraum in der vorgesehenen Ausgestaltung
verzichten würde. Unter diesen Umständen kann der Beschwerdegegner die
Gleichbehandlung im Unrecht nicht beanspruchen. Die Beschwerde ist vielmehr
begründet, was zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen muss.

    c) Empfinden die Gemeindebehörden von Gais ihre Bewilligungspraxis
als sachlich richtiger als den jetzigen Wortlaut des BR, so steht es
dem kommunalen Gesetzgeber frei, den Wortlaut von Art. 35 Abs. 2 BR und
allenfalls weitere Bestimmungen den neuen Erkenntnissen anzupassen. Der
Regierungsrat gibt bekannt, dass der Gemeinderat dies im Zuge der im
Gang befindlichen Revision des Baureglementes veranlassen werde. Es
muss dem Beschwerdeführer zugemutet werden, diese Revision abzuwarten,
wenn er auf seinem Bauprojekt bestehen will. Sollte die in Aussicht
genommene Revision von Art. 35 Abs. 2 BR nicht gelingen, so sind Zweifel
am Platze, ob die heute geübte Bewilligungspraxis tatsächlich allgemeiner
Rechtsauffassung entspricht und von Anfang an so verstanden wurde, und
es muss bei der vom Regierungsrat dargelegten Interpretation und einer
entsprechenden Bewilligungspraxis sein Bewenden haben (vgl. BGE 99 Ib 385).