Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 209



108 Ia 209

38. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 1.
Dezember 1982 i.S. H. und M. gegen Stadt Uster, Regierungsrat und
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Willkür, überspitzter Formalismus; Ansetzung einer Nachfrist
zur Verbesserung der Rekursschrift gemäss § 23 Abs. 2 des zürcherischen
Verwaltungsrechtspflegegesetzes.

    Reicht ein Anwalt für einen Rekurrenten bewusst eine mangelhafte
Rekursschrift ein, um sich damit eine zusätzliche Begründungsfrist
zu verschaffen, so kann die Einräumung einer Nachfrist im Sinne der
erwähnten Vorschrift des zürcherischen Rechts ohne Verletzung von Art. 4
BV unterbleiben.

Sachverhalt

    A.- Ein Anwalt reichte für H. und M. gegen einen Entscheid des
Bezirksrats Uster beim Regierungsrat des Kantons Zürich Rekurs ein. Er
stellte darin den Antrag, es sei den Rekurrenten in Anwendung von §
23 Abs. 2 des zürcherischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG) eine
Nachfrist von zehn Tagen zur Begründung des Rekurses anzusetzen. Der
Regierungsrat wies das Begehren ab und trat auf den Rekurs nicht ein. Eine
dagegen erhobene Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich
blieb ohne Erfolg. H. und M. führen staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4 BV. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab,
soweit es auf sie eintreten konnte.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) § 23 VRG lautet wie folgt:

    "Die Rekursschrift muss einen Antrag und dessen Begründung enthalten.

    Der angefochtene Entscheid ist beizulegen oder genau zu bezeichnen.

    Genügt die Rekursschrift diesen Erfordernissen nicht, so wird dem

    Rekurrenten eine kurze Frist zur Behebung des Mangels angesetzt
unter der

    Androhung, dass sonst auf den Rekurs nicht eingetreten würde."

    b) Der Anwalt der Beschwerdeführer hat den Rekurs beim Regierungsrat
ohne Begründung eingereicht und gestützt auf § 23 Abs. 2 VRG eine
Nachfrist für die Begründung verlangt. Der Regierungsrat hat eine solche
verweigert. Er stellte fest, die genannte Bestimmung verfolge den Zweck,
einen Rekurs nicht von vornherein daran scheitern zu lassen, dass
die Rekursschrift formellen Anforderungen nicht genüge. Damit sollten
insbesondere die Rechte von nicht oder wenig mit den Verfahrensregeln
vertrauten Rekurrenten geschützt werden. Es würde hingegen dem Sinn
und Zweck der Vorschrift widersprechen, auch demjenigen Rekurrenten eine
Nachfrist zur Verbesserung anzusetzen, der einen entsprechenden Mangel von
vornherein erkannt habe und sogar erwähne. Dies wäre eine missbräuchliche
Verlängerung der nicht erstreckbaren gesetzlichen Rechtsmittelfrist.

    c) Das Verwaltungsgericht hat sich dieser Betrachtungsweise
angeschlossen. Es führte im wesentlichen aus, zwar gebiete der Wortlaut
von § 23 Abs. 2 VRG vorbehaltlos, dass dem Rekurrenten eine kurze Frist
zur Behebung eines Mangels angesetzt werde. Unter Umständen müsse aber
eine solche nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung entfallen. §
23 Abs. 2 VRG wolle - wie § 56 Abs. 1 VRG bezüglich der Beschwerde -
einen überspitzten Formalismus vermeiden, doch könne es nicht seinem
Sinn entsprechen, die fristgemässe Anmeldung des Rechtsmittels als
genügend zu erachten und für Antrag und/oder Begründung regelmässig eine
Nachfrist zu gewähren. Die Verbesserungsmöglichkeit müsse die Ausnahme
bleiben, die vorab dem Rechtsunkundigen oder Unbeholfenen zugute kommen
solle. Keinesfalls ziele § 23 Abs. 2 VRG darauf ab, einen Rechtskundigen -
wie den Vertreter der Beschwerdeführer -, der das Begründungserfordernis
bewusst missachte, von den Verwirkungsfolgen der selbstverschuldeten
Säumnis zu entlasten und gegenüber einem pflichtgemäss handelnden
Rekurrenten durch eine Rekursfristerstreckung zu bevorteilen. Nach
Treu und Glauben könne sich eine Partei nicht zu ihren Gunsten auf
Unregelmässigkeiten berufen, die sie selbst herbeigeführt habe.

    d) Die Beschwerdeführer machen demgegenüber geltend, § 23 Abs. 2
VRG sehe vorbehaltlos die Ansetzung einer kurzen Nachfrist vor, wenn die
Rekursschrift einem der Erfordernisse von Abs. 1 nicht entspreche. Weder
das Gesetz noch dessen Materialien noch der Kommentar Kölz zum VRG
böten Anhaltspunkte dafür, dass eine Nachfrist nur ausnahmsweise
und nur einem Rechtsunkundigen zugute kommen solle. Bei einer durch
einen Rechtsanwalt vertretenen Partei liege der Säumnisgrund nicht in
der Unkenntnis der Rechtslage, sondern vielmehr in der bei Anwälten
nicht seltenen Zeitknappheit. Hätte der Gesetzgeber beabsichtigt, die
Nachfrist einem Rechtsunkundigen vorzubehalten, hätte er entsprechend
legiferieren müssen. Der Gesetzeswortlaut sei unmissverständlich und
führe zu einem vernünftigen Ergebnis, weshalb er gegenüber der Auslegung
aus dem Gesetzeszweck den Vorrang habe. Ihr Anwalt habe in guten Treuen
auf Grund von § 23 Abs. 2 VRG darauf vertraut, dass ihm eine Nachfrist
gewährt werde. Er habe sich nicht widersprüchlich verhalten, sondern ein
Recht beansprucht, das er zu haben glaube. Mit der Auslegung des Gesetzes
gegen seinen Wortlaut habe das Verwaltungsgericht Art. 4 BV verletzt. Der
Regierungsrat sei in überspitzten Formalismus verfallen, indem er ein
Rechtsmittel zurückgewiesen habe, obschon ein Formfehler leicht hätte
berichtigt und ein Mangel nachträglich hätte behoben werden können.

Erwägung 3

    3.- Bei der Auslegung von § 23 Abs. 2 VRG ist davon auszugehen, dass
Abs. 1 vorschreibt, es sei ein Rekurs mit Antrag und Begründung innert der
20tägigen Rekursfrist einzureichen. Diese Bestimmung würde wirkungslos,
wenn sich jeder Rekurrent dadurch, dass er den Rekurs ohne Begründung
einreicht, über die Nachfrist von Abs. 2 eine zusätzliche Begründungsfrist
erwirken könnte. Hätte der Gesetzgeber dies gewollt, so hätte er dem
Richter allgemein die Befugnis zur Erstreckung der Begründungsfrist
eingeräumt. Daraus, dass dies nicht geschehen ist, darf mit den kantonalen
Instanzen ohne Willkür geschlossen werden, die Anwendung von § 23 Abs. 2
VRG auf die Rekursbegründung solle die Ausnahme und nicht die Regel sein,
auch wenn das in der Bestimmung nicht ausdrücklich gesagt wird. Auf jeden
Fall konnten die kantonalen Instanzen mit Grund annehmen, es könne sicher
nicht derjenige Rekurrent eine Nachfrist nach Abs. 2 beanspruchen, welcher
die Erfordernisse von Abs. 1 bewusst nicht erfüllt hat mit dem Zweck, sich
auf Abs. 2 berufen zu können. Auch für die Anwendung von § 23 Abs. 2 VRG
muss gelten, was das Bundesgericht in einem Urteil vom 16. Februar 1970
(BGE 96 I 96) im Zusammenhang mit Art. 108 Abs. 3 OG ausgesprochen hat:

    "Dies bedeutet, dass die Nachfrist nicht dazu dienen kann, die Frist
   zur Beschwerdebegründung zu verlängern, d.h. eine inhaltlich ungenügende

    Rechtsschrift zu ergänzen. Die beschwerdeführende Partei kann
daher auch
   keinen Anspruch auf Fristansetzung haben. Sie erwirbt insbesondere
   einen solchen nicht dadurch, dass sie eine unvollständige Begründung
   einreicht."

    Selbst eine Nachfristansetzung gemäss Art. 85 des Bundesgesetzes über
die Alters- und Hinterlassenenversicherung, welche grundsätzlich immer
zu erfolgen hat, wenn die Beschwerde den gesetzlichen Anforderungen nicht
genügt, kann im Falle von offensichtlichem Rechtsmissbrauch unterbleiben
(BGE 104 V 179). Diese Erwägung ist auch hier von Bedeutung: Es läuft auf
einen solchen Missbrauch hinaus, wenn ein Anwalt eine bewusst mangelhafte
Rechtsschrift einreicht, um sich damit eine Nachfrist für die Begründung
zu erwirken.

    Den kantonalen Instanzen kann demnach weder Willkür noch ein
überspitzter Formalismus zur Last gelegt werden, wenn sie der Ansicht
waren, den Beschwerdeführern sei keine Nachfrist gemäss § 23 Abs. 2 VRG
einzuräumen. Eine Verletzung von Art. 4 BV liegt somit nicht vor.