Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 165



108 Ia 165

31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13.
Oktober 1982 i.S. Progressive Organisationen Baselland und Hauser gegen
Landrat des Kantons Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Initiativrecht. Nichtvorlegung einer kantonalen Volksinitiative zur
Volksabstimmung.

    1. Wesen und Bedeutung der in § 12 Abs. 2 und 3 KV BL vorgeschriebenen
Fristen für die Behandlung von Volksinitiativen durch den Landrat (E. 2b).

    2. Die basel-landschaftliche Verfassung lässt die Sistierung
der Behandlung von Volksinitiativen durch den Landrat nicht zu
(E. 2c). Verbleibende Möglichkeit (E. 2d). Rechtliche Würdigung einer
verfassungswidrigen Sistierung (E. 2e).

    3. Folgen der Gutheissung der Stimmrechtsbeschwerde (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Staatsverfassung des Kantons Basel-Landschaft vom 4.  April
1892 (KV) regelt das Recht der Volksinitiative in § 12. Die Bestimmungen
von § 12 Abs. 1 bis 3 KV lauten in der Fassung vom 2. Juni 1969 wie folgt:

    "1 1500 Stimmberechtigte sind jederzeit befugt, das Begehren um

    Erlass eines neuen oder um Aufhebung oder Änderung eines bestehenden

    Gesetzes, eines allgemein verbindlichen Beschlusses oder einer
vom Landrat
   erlassenen Verordnung zu stellen.

    Initiativbegehren können in der Form der einfachen Anregung
   (nichtformulierte Initiative) oder des ausgearbeiteten Entwurfes
   (formulierte Initiative) gestellt werden.

    2 Tritt der Landrat auf eine nichtformulierte Initiative nicht von sich
   aus ein, so ist längstens innert sechs Monaten nach Einreichung des

    Begehrens die Frage, ob ihm Folge gegeben werden soll, der Gesamtheit
der

    Stimmberechtigten zum Entscheid vorzulegen.

    3 Wird auf eine nichtformulierte Initiative zufolge Volksabstimmung
   oder Beschlusses des Landrates eingetreten, oder handelt es sich um eine
   formulierte Initiative, so ist der Landrat gehalten, eine Vorlage im
   Sinne des gestellten Begehrens innert einer Frist von achtzehn Monaten
   zu verabschieden."

    Am 15. März 1979 reichten die Progressiven Organisationen
Baselland (POCH) bei der Landeskanzlei des Kantons Basel-Landschaft eine
nichtformulierte Gesetzesinitiative mit dem Titel "Schutz für Luft, Boden
und Wasser" ein. Mit Beschluss vom 10. April 1979 stellte der Regierungsrat
des Kantons Basel-Landschaft fest, dass die Initiative zustandegekommen
war. In der Folge zeigte es sich, dass Land- und Regierungsrat die
Initiative so lange weder behandeln noch den Stimmberechtigten zur
Abstimmung vorlegen wollten, bis ein endgültiger Entwurf für ein
Bundesgesetz über den Umweltschutz vorliegen würde.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. Februar 1982 verlangen
die POCH und Felix Hauser, dass die Initiative den Stimmberechtigten
des Kantons Basel-Landschaft unverzüglich zur Abstimmung unterbreitet
werde. Sie werfen dem Landrat eine Verletzung von § 12 KV vor, da er die
Initiative nicht zur Volksabstimmung vorgelegt habe. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Initiativrecht verbürgt den Anspruch, dass ein Volksbegehren,
das die geltenden Formerfordernisse erfüllt und keinen übergeordneten
materiellen Vorschriften widerspricht, den Stimmbürgern in dem dafür
vorgesehenen Verfahren unterbreitet wird (BGE 104 Ia 242 mit Hinweisen).
Die Beschwerdeführer machen geltend, der Landrat habe die Vorschriften von
§ 12 Abs. 2 und 3 KV verletzt, indem er die Initiative "Schutz für Luft,
Boden und Wasser" den Stimmberechtigten nicht unterbreitet habe. Die
Missachtung der Behandlungsfristen von sechs beziehungsweise achtzehn
Monaten lasse sich nicht rechtfertigen. Eine Sistierung sei weder in
Verfassung noch Gesetz vorgesehen und daher ungültig. Die Initiative sei
unter anderem auch deshalb lanciert worden, um die kantonalen Behörden zu
zwingen, bereits vor Inkrafttreten des eidgenössischen Umweltschutzgesetzes
die notwendigen kantonalen Bestimmungen auszuarbeiten, um im Fall der
Verzögerung oder gar des Scheiterns des Gesetzes diese Bestimmungen bereits
zur Hand zu haben. Das Warten der Behörden auf eine eidgenössische Regelung
höhle dieses Recht der Initianten völlig aus.

    a) Bei Beschwerden gemäss Art. 85 lit. a OG prüft das Bundesgericht
die Anwendung und Auslegung des kantonalen Verfassungsrechts und jener
Vorschriften des kantonalen Gesetzesrechts frei, die mit dem Stimmrecht eng
zusammenhängen oder die dessen Inhalt und Tragweite umschreiben. In bezug
auf das übrige kantonale Recht ist die Kognition des Bundesgerichts auf
eine Willkürprüfung beschränkt (BGE 106 Ia 199 E. 2d mit Verweisungen). Ob
die Vorschriften von § 12 Abs. 2 und 3 KV verletzt worden sind, prüft
das Bundesgericht somit ohne Einschränkung seiner Kognition.

    b) Tritt der Landrat auf eine nichtformulierte Initiative nicht ein,
so ist gemäss § 12 Abs. 2 KV längstens innert sechs Monaten nach der
Einreichung die Frage den Stimmberechtigten vorzulegen, ob dem Begehren
Folge gegeben werden soll. Tritt er jedoch darauf ein, so ist der Landrat
nach § 12 Abs. 3 KV gehalten, innert achtzehn Monaten eine Vorlage im
Sinne des gestellten Begehrens zu verabschieden.

    Die Initiative "Schutz für Luft, Boden und Wasser" ist der
Landeskanzlei des Kantons Basel-Landschaft am 15. März 1979 eingereicht
worden. Weder der Land- noch der Regierungsrat bestreiten, dass
sowohl die Frist für die Durchführung einer Volksabstimmung im Fall
des Nichteintretens als auch jene für die Verabschiedung einer Vorlage
abgelaufen sind. Sie vertreten jedoch die Auffassung, dass es sich bei den
Fristen gemäss § 12 Abs. 2 und 3 KV um reine Ordnungsfristen handle, deren
Nichtbeachtung grundsätzlich mit keinen besonderen Rechtsfolgen verbunden
sei. Allerdings könne eine Fristüberschreitung dann mit staatsrechtlicher
Beschwerde gerügt werden, wenn eine Ordnungsfrist grundlos missachtet
worden sei und damit im Ergebnis eine Rechtsverzögerung vorliege. Davon
könne hinsichtlich der Behandlung der Initiative der POCH nicht die Rede
sein. Solange kein definitiver Entwurf für das künftige Bundesgesetz über
den Umweltschutz vorliege, könnten Land- und Regierungsrat sich nicht in
endgültiger und verbindlicher Weise über die kantonale Volksinitiative
aussprechen. Die Beschwerdeführer anerkennen, dass es sich bei den Fristen
gemäss § 12 Abs. 2 und 3 KV um Ordnungsfristen handelt. Sie bestreiten
jedoch die Stichhaltigkeit der Begründung, die für die Überschreitung
der Fristen gegeben wird.

    Wie die Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit dem Land- und dem
Regierungsrat zutreffend annehmen, handelt es sich bei den Fristen nach
§ 12 Abs. 2 und 3 KV um Ordnungsfristen (vgl. BGE 104 Ia 243 E. 3a
mit Hinweisen). Das will indessen nicht heissen, dass sie deshalb
bedeutungslos wären. So haben sie zunächst eine gewisse politische
Bedeutung. Sodann kann deren Überschreitung wegen Rechtsverweigerung
beziehungsweise Rechtsverzögerung mit staatsrechtlicher Beschwerde
beim Bundesgericht beanstandet werden, wenn die kantonalen Behörden die
Fristen auf unzulässige Art verstreichen lassen, ohne zu handeln, oder
das fragliche Geschäft in ungerechtfertigter Weise trölerisch behandeln
(BGE 100 Ia 56; vgl. auch BGE 104 Ia 246).

    c) Im vorliegenden Fall ist es die erklärte Absicht von Land-
und Regierungsrat, die Initiative der POCH bis zum Vorliegen eines
endgültigen Entwurfs für ein eidgenössisches Umweltschutzgesetz nicht
zu behandeln. Zwar wollen sie die Genehmigung des regierungsrätlichen
Amtsberichts 1980 durch den Landrat so verstanden haben, dass dieser
auf die Initiative eingetreten sei, deren Behandlung aber sistiert
habe. Indessen haben sich die beiden Behörden vorbehalten, alsdann zu
entscheiden, "ob auf die Initiative zustimmend eingetreten werden kann, ein
ablehnender Beschluss in die Wege zu leiten und als Alternative eventuell
ein Gegenvorschlag auszuarbeiten wäre". Aus dieser Absichtserklärung geht
deutlich hervor, dass sich die Behörden unter anderem auch die Möglichkeit
offenhalten wollten, dannzumal auf die Initiative nicht einzutreten,
wenn dies angesichts der Regelung des künftigen Bundesgesetzes über den
Umweltschutz nicht mehr angezeigt sein sollte. Sie sind somit auf die
Initiative formell weder eingetreten noch nicht eingetreten, sondern
sie haben den Entscheid hierüber einstweilen ausgesetzt. Damit stellt
sich die Frage, ob dieses in § 12 KV nicht vorgesehene Verfahren vor der
Staatsverfassung standhalte.

    Die verhältnismässig kurzen Fristen gemäss § 12 Abs. 2 und 3 KV haben
den Zweck, die Verschleppung von Volksbegehren zu verhindern. Eine
Initiative soll vom Landrat möglichst rasch behandelt und den
Stimmberechtigten ohne Verzug zur Abstimmung unterbreitet werden. Die
Vorschriften von § 12 Abs. 2 und 3 KV können nicht dahin ausgelegt
werden, dass die vorgeschriebenen Fristen die Regel bildeten, von denen
begründete Ausnahmen zulässig wären. Hätte der Verfassungsgeber eine
derartige Bestimmung erlassen wollen, hätte er sie entsprechend abfassen
können. Das hat er nicht getan (vgl. BGE 104 Ia 243 E. 3a). Ähnlich
verhält es sich mit der Frage einer allfälligen Sistierung. Auch eine
solche Möglichkeit sieht die Staatsverfassung des Kantons Basel-Landschaft
nicht vor. Zudem widerspräche sie dem Zweck von § 12 Abs. 2 und 3 KV,
wonach der Landrat zur raschen Behandlung von Volksbegehren verhalten
ist. Könnte dieser die Beratung von Initiativen jeweils aussetzen,
verlöre die verfassungsrechtliche Befristung ihre Wirkung weitgehend. Auf
diesem Weg wäre es dem Landrat möglich, der Behandlung von Volksbegehren
auszuweichen, ohne das verfassungsmässig vorgeschriebene Verfahren
einhalten zu müssen. Das lässt sich mit dem Initiativrecht und damit
auch mit den politischen Rechten der Stimmbürger nicht vereinbaren. Die
Sistierung der Behandlung von Volksinitiativen durch den Landrat hält
somit vor der Staatsverfassung des Kantons Basel-Landschaft grundsätzlich
nicht stand.

    d) Indem der Landrat die Behandlung der Initiative "Schutz für Luft,
Boden und Wasser" sistiert hat, ist er nicht in dem von der Verfassung
vorgeschriebenen Verfahren vorgegangen. Die kantonalen Behörden
begründen diese Abweichung im wesentlichen damit, dass es sinnlos
sei, einen Entscheid über das Volksbegehren zu treffen, solange die
eidgenössische Umweltschutzgesetzgebung inhaltlich nicht feststehe. Die
kantonale Gesetzgebung müsse vernünftigerweise mit jener des Bundes
koordiniert werden. Zudem zeigten verschiedene Erlasse, dass der Kanton
Basel-Landschaft auf dem Gebiet des Umweltschutzes seit geraumer Zeit
erhebliche Anstrengungen unternommen habe. Diese Argumentation ist sachlich
und arbeitsökonomisch verständlich. Doch ist nicht zu übersehen, dass
der Landrat damit - wenn auch nur vorläufig - über eine Frage entschieden
hat, die in die Zuständigkeit der Gesamtheit der Stimmberechtigten fällt.
Erachtet er die Behandlung einer Volksinitiative jedenfalls zur Zeit als
unvernünftig, so bleibt ihm nur die Möglichkeit, nach § 12 Abs. 2 KV auf
das Begehren nicht einzutreten und die Frage, ob ihm Folge gegeben werden
soll, innert sechs Monaten seit der Einreichung den Stimmberechtigten zum
Entscheid vorzulegen. Andernfalls entzieht er den Stimmberechtigten eine
Entscheidungskompetenz, die von Verfassungs wegen ihnen zusteht.
   e) Indessen beabsichtigen die kantonalen Behörden nicht, den
Stimmberechtigten die Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Initiative
der POCH überhaupt vorzuenthalten. Sie wollen einzig ein bestimmtes
Stadium der eidgenössischen Gesetzgebung abwarten, die den gleichen
Sachbereich wie das Volksbegehren beschlägt. Damit stellt sich die Frage,
ob im konkreten Fall die unbestrittene Überschreitung der Ordnungsfristen
von § 12 Abs. 2 und 3 KV als Rechtsverzögerung bezeichnet werden müsse.

    Wie es sich damit verhielte, wenn der definitive Inhalt des künftigen
Bundesgesetzes über den Umweltschutz schon kurze Zeit nach Ablauf der
sechsmonatigen Frist von § 12 Abs. 2 KV hätte erwartet werden können,
kann dahingestellt bleiben. Im vorliegenden Fall war diese Frist schon
im Zeitpunkt der Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde um mehr als
das Fünffache überschritten. Land- und Regierungsrat sind erklärtermassen
bereit, weitere Verzögerungen vorbehaltlos in Kauf zu nehmen. Eine derart
massive Fristüberschreitung lässt sich angesichts der klaren Verfahrens-
und Kompetenzregelung von § 12 KV nicht mehr rechtfertigen. Sie stellt
daher eine Rechtsverzögerung dar, die zur Gutheissung der Beschwerde
führen muss.

Erwägung 3

    3.- Da sich die Beschwerde auf Grund der vorstehenden Erwägungen als
begründet erweist, stellt sich die Frage, welche Folge ihrer Gutheissung zu
geben ist. Die Beschwerdeführer beantragen die Anordnung einer sofortigen
Volksabstimmung im Sinne von § 12 Abs. 2 KV.

    a) Vorweg ist festzuhalten, dass das Bundesgericht an die
Beschwerdeanträge insoweit nicht gebunden ist, als positive Anordnungen
verlangt werden. Es kann zur Herstellung des verfassungsmässigen Zustandes
auch andere als die beantragten Anordnungen treffen (HANS MARTI, Die
staatsrechtliche Beschwerde, 4. Aufl., Basel und Stuttgart 1979, Nr. 282,
S. 155/156).

    Die unverzügliche Vorlage der Initiative "Schutz für Luft, Boden
und Wasser" zur Volksabstimmung, stellt nur die eine Möglichkeit dar,
den verfassungsmässigen Zustand herzustellen. Der entsprechende Antrag
der Beschwerdeführer beruht auf der Annahme, die Nichtbehandlung der
Initiative durch den Landrat sei einem förmlichen Nichteintretensentscheid
gleichzusetzen. Damit wäre gemäss § 12 Abs. 2 KV den Stimmberechtigten
die Frage vorzulegen, ob dem Volksbegehren Folge gegeben werden soll.

    Der Antrag der Beschwerdeführer ist angesichts der Nichtbehandlung
der Initiative durch den Landrat verständlich. Indessen würde der Landrat
dadurch gezwungen, eine Volksabstimmung über eine Grundsatzfrage im Sinne
von § 12 Abs. 2 KV durchzuführen; das käme einem Entzug des Rechts gleich,
auf die Initiative einzutreten und eine Gesetzesvorlage zu verabschieden
(§ 12 Abs. 3 KV). Zwar könnte dem entgegengehalten werden, der Landrat
habe deutlich zu erkennen gegeben, dass er nicht bereit sei, tätig zu
werden, bevor der Inhalt des künftigen Bundesgesetzes über den Umweltschutz
feststehe; damit habe er von vornherein auf die Ausarbeitung einer Vorlage
verzichtet. Das mag bis anhin in der Tat zugetroffen haben. Indessen
steht keineswegs fest, ob es der Landrat auf Grund der Gutheissung der
Beschwerde nicht vorziehen wird, einen Gesetzesentwurf vorzubereiten. So
wäre es jedenfalls denkbar, die gesetzgeberische Tätigkeit auf die bereits
vorhandenen Vorarbeiten zum künftigen Bundesgesetz auszurichten. Kommt
dieses zustande, so wäre die Vorlage als kantonales Einführungsgesetz
verwendbar. Kommt der eidgenössische Erlass nicht zustande, so könnte sie
als selbständiges Umweltschutzgesetz des Kantons ausgestaltet werden. Es
erscheint deshalb richtiger, den Landrat zu verpflichten, sofort zu
entscheiden, ob er auf die Initiative eintreten will. Je nach Ergebnis
wird er unverzüglich entweder die Volksabstimmung durchführen oder das
Gesetzgebungsverfahren aufnehmen müssen.