Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 13



108 Ia 13

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Januar 1982 i.S. D.
gegen Obergericht und Generalprokurator des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Art. 346 ff. StGB.

    1. Der Anspruch des Beschuldigten auf Entschädigung für Nachteile
aus an sich rechtmässigen strafprozessualen Massnahmen folgt weder aus
dem Bundesstrafrecht noch aus dem Bundesstrafprozessrecht, sondern aus
dem kantonalen öffentlichen Recht.

    2. Der Kanton, dessen Behörden strafprozessuale Zwangsmassnahmen
angeordnet und durchgeführt hatten, bleibt auch dann zum Entscheid
über eine allfällige Entschädigung zuständig und zu deren Bezahlung
verpflichtet, wenn das Strafverfahren in der Folge von einem andern Kanton
übernommen und durch Einstellungsverfügung oder ein freisprechendes Urteil
abgeschlossen wurde.

Sachverhalt

    A.- Frau D. war im Dezember 1976 in eine gegen ihren Ehemann und einen
Dritten wegen Betrugs, Urkundenfälschung, betrügerischen und leichtsinnigen
Konkurses und Bevorzugung eines Gläubigers angehobene Voruntersuchung
einbezogen worden. Aufgrund eines Haftbefehls des Untersuchungsrichteramtes
Bern wurde sie am 17. Dezember 1976 in Untersuchungshaft gesetzt,
die bis zum 19. Januar 1977 dauerte. Am 10. April 1978 anerkannte die
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt die Zuständigkeit der Basler Behörden
und übernahm das Verfahren gegen Frau D. gemäss Art. 346 Abs. 1 Satz
1 StGB. Am 9. Juli 1980 stellte diese Behörde das Verfahren gegen Frau
D. ein, weil die durchgeführten Ermittlungen keinen Anhaltspunkt für ein
deliktisches Verhalten ergeben hatten.

    B.- Mit Eingabe vom 14. August 1980 meldete Frau D. beim
Generalprokurator des Kantons Bern eine Entschädigungsforderung
von Fr. 659'108.-- an. Der Generalprokurator-Stellvertreter vertrat
mit Schreiben vom 19. August 1980 den Standpunkt, mit der Übernahme
des Strafverfahrens durch die Behörden des Kantons Basel-Stadt seien
sämtliche Rechte und Pflichten aus diesem Verfahren auf die Basler Behörden
übergegangen, so dass sich die Gesuchstellerin ausschliesslich an diese
Behörden zu halten habe. Der Generalprokurator-Stellvertreter bestätigte
seine Stellungnahme am 2. Juli 1981 unter Hinweis darauf, dass der
Geschädigten zur Verfolgung widerrechtlicher Amtshandlungen nach bernischem
Recht a) die Beschwerde an die Anklagekammer des Obergerichts zustehe,
wobei in diesem Verfahren (Art. 64 bern. StrV) Schadenersatzansprüche
nicht geltend gemacht werden könnten, b) die Zivilklage gegen den Kanton
Bern gemäss Art. 38 des kantonalen Beamtengesetzes zur Verfügung stehe.

    Gegen dieses als "Rückweisungsverfügung" verstandene Schreiben
des Generalprokurator-Stellvertreters reichte Frau D. "Beschwerde und
Gesuch" ein. Die Anklagekammer sowie die Abberufungskammer des bernischen
Obergerichts vertraten in ihren Entscheiden vom 7. Juli bzw. 25. August
1981 den Standpunkt, der Kanton Bern sei nicht zuständig, über die von
Frau D. geltend gemachten Entschädigungsansprüche für die von bernischen
Behörden angeordneten und durchgeführten Strafverfolgungsmassnahmen
zu befinden.

    C.- In einer Eingabe vom 18. September 1981 ficht Frau D. die
Entscheide der Anklagekammer und der Abberufungskammer des bernischen
Obergerichts vom 7. Juli bzw. 25. August 1981 "wegen Verletzung von
Art. 4 BV und wegen Verletzung der in Art. 345 f. StGB geregelten
bundesrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften" an. Sie beantragt die
Aufhebung dieser Entscheide und die Rückweisung der Sache an die bernischen
Behörden im Sinne der bundesgerichtlichen Erwägungen.

    D.- Der Generalprokurator-Stellvertreter und die Abberufungskammer
des Obergerichts des Kantons Bern beantragen die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Anklagekammer und Abberufungskammer des bernischen Obergerichts
führen zur Begründung ihrer Entscheide aus, es bestehe keine bernische
Gesetzesvorschrift, welche die bernischen Überweisungsbehörden oder
sonst irgendeine Behörde ermächtigen oder gar verpflichten würde,
nach erfolgter Abtretung eines Strafverfahrens an einen andern Kanton
gestützt auf dessen spätere Einstellungsverfügung im nachhinein noch über
Entschädigungsansprüche des Angeschuldigten für Nachteile wegen der von
bernischen Behörden vor der Abtretung angeordneten und durchgeführten
Strafverfolgungsmassnahmen zu befinden.

    Gemäss Art. 199 Abs. 2 und 202 Abs. 1 StrV/BE wird im
Aufhebungsbeschluss auch entschieden, ob dem Angeschuldigten für die
durch die Untersuchung entstandenen Nachteile, insbesondere im Falle der
Festnahme und Verhaftung, eine Entschädigung gebührt. Die zur Aufhebung der
Untersuchung zuständigen Behörden (Untersuchungsrichter/Bezirksprokurator,
Art. 184 ff. oder Anklagekammer des Obergerichts, Art. 192 ff.) entscheiden
über Grundsatz und Höhe der Entschädigung nach Billigkeitsgründen (Art. 202
Abs. 1 i.f.).

    Die Vorschrift, dass "im Aufhebungsbeschluss" und somit von den
Überweisungsbehörden über eine Entschädigung zu befinden ist, regelt
lediglich die innerkantonale Zuständigkeit zum Entscheid und ist bloss
organisationsrechtlicher Natur. Das bernische Strafverfahren bestimmt
nur, welche Behörde zum Entscheid über eine allfällige Entschädigung des
Angeschuldigten für die ihm durch die von bernischen Behörden veranlassten
Strafverfolgungsmassnahmen erwachsenen Nachteile zuständig ist, wenn
die Untersuchung im Kanton Bern aufgehoben wird; es bestimmt aber nicht
abschliessend, wann bernische Behörden überhaupt zum Entscheid zuständig
sind. Das Fehlen einer Bestimmung, welche die innerkantonal zuständige
Behörde bezeichnet für den Fall, dass das Verfahren schliesslich von
einem andern Kanton übernommen und in der Folge eingestellt wird, ist kein
haltbarer Grund, die Zuständigkeit der bernischen Behörden zum Entscheid
in einem solchen Fall überhaupt zu verneinen. Es ist willkürlich, die
organisationsrechtliche Bestimmung, wonach "im Aufhebungsbeschluss" über
eine Entschädigung zu befinden ist, dahin auszulegen, dass der Kanton Bern
nur dann über die Entschädigung für die von seinen Behörden angeordneten
und durchgeführten Strafverfolgungsmassnahmen zu entscheiden habe, wenn
das Verfahren im Kanton Bern aufgehoben wurde.

    Die Auffassung des Obergerichts, die Unzuständigkeit der bernischen
Behörden in Fällen der vorliegenden Art ergebe sich aus dem bernischen
Strafverfahrensrecht, ist demnach willkürlich.

Erwägung 3

    3.- Die bernischen Behörden halten dafür, mit der Übernahme des
Strafverfahrens durch die Behörden des Kantons Basel-Stadt sei dasselbe
mit sämtlichen Wirkungen, mit allen Rechten und Pflichten, auf den
Kanton Basel-Stadt übergegangen. Zur Begründung berufen sie sich auf
die Regeln des Strafgesetzbuches über die örtliche Zuständigkeit und auf
Art. 351 StGB, wonach bei streitigem Gerichtsstand das Bundesgericht den
Kanton bezeichnet, "der zur Verfolgung und Beurteilung berechtigt und
verpflichtet ist".

    Wie der Kassationshof schon in seinen Urteilen vom 6. und 18. November
1981 zu den von Frau D. gegen die Basler Behörden eingereichten
Rechtsmitteln (Nichtigkeitsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde)
erkannt hat, finden die Gerichtsstandsbestimmungen der Art. 346
ff. StGB, welche die interkantonale Zuständigkeit zur "Verfolgung und
Beurteilung" von der kantonalen Gerichtsbarkeit unterstellten strafbaren
Handlungen regeln, auf den vorliegenden Fall keine Anwendung. Der
Anspruch auf Entschädigung für Nachteile aus an sich rechtmässigen
strafprozessualen Massnahmen folgt weder aus Bundesstrafrecht noch aus
Bundesstrafprozessrecht, sondern aus dem kantonalen öffentlichen Recht,
und das Verfahren, in welchem dieser Anspruch durchzusetzen ist, ist
kein eigentliches Strafverfahren. Die Berechtigung und Verpflichtung
zur Verfolgung und Beurteilung (Art. 351 StGB, Art. 264 BStP) umfasst
nicht auch den Entscheid über die Entschädigung für Nachteile infolge
strafprozessualer Massnahmen.

Erwägung 4

    4.- a) Sowohl der Kanton Bern wie auch der Kanton Basel-Stadt sehen in
ihren Strafprozessordnungen grundsätzlich eine Entschädigung für die dem
Beschuldigten durch gewisse Untersuchungshandlungen erwachsenen Nachteile
vor; Voraussetzungen und Umfang der Entschädigung sind verschieden geregelt
(Art. 202 StrV/BE, § 82 ff. StPO/BS). Es ist selbstverständlich, dass
in Fällen, in denen sowohl das Recht des für die Untersuchungshandlung
verantwortlichen Kantons wie das Recht des das Verfahren übernehmenden
und in der Folge einstellenden Kantons eine Entschädigung vorsieht,
auf jeden Fall der eine oder der andere Kanton über die Entschädigung
befinden muss. Der Wechsel des Gerichtsstandes darf nicht zur Folge haben,
dass die Entschädigungsfrage überhaupt nicht entschieden wird.

    b) Der Kassationshof erkannte in seinem bereits erwähnten Urteil
vom 18. November 1981, dass die Auffassung des Appellationsgerichts
des Kantons Basel-Stadt, wonach derjenige Kanton dem Beschuldigten
gegenüber für die von diesem wegen strafprozessualer Massnahmen
erlittenen Nachteile verantwortlich sein soll, welcher die fraglichen
Massnahmen angeordnet und durchgeführt hat, nicht willkürlich sei. Der
Kassationshof führte weiter aus, es liege nahe, dass der für die Anordnung
von Zwangsmassnahmen verantwortliche Kanton entscheide, ob und inwieweit
für deren allfällige nachteilige Folgen nach seinem eigenen Recht eine
Entschädigung zu zahlen sei. Diese Lösung entspricht der vom Bundesgericht
im Verhältnis Bund/Kanton in Delegationsstrafsachen getroffenen Regelung
(BGE 69 IV 187, 67 I 156) und wird auch in der spärlichen Literatur zu
dieser Frage vertreten (FISCHLI, Die Entschädigung unschuldig Verfolgter,
ZSR n.F. 79/1960 II S. 385a ff.). Es ist in der Tat schlechterdings nicht
ersichtlich, aus welchen Gründen der Kanton, welcher ein Strafverfahren als
letzter übernommen und in der Folge durch Einstellungsverfügung oder durch
ein freisprechendes Urteil zum Abschluss gebracht hat, für die von andern
Kantonen angeordneten und durchgeführten strafprozessualen Zwangsmassnahmen
verantwortlich sein soll. Ebensowenig ist einzusehen, aufgrund welcher
Rechtsgrundsätze im vorliegenden Fall der Kanton Basel-Stadt den Kanton
Bern - gestützt auf baslerisches oder bernisches Recht - gegebenenfalls
zur Bezahlung einer Entschädigung an die Beschuldigte sollte verpflichten
können. Der Kanton, dessen Behörden Zwangsmassnahmen anordneten, hat nach
Massgabe seines Rechts die allfällige Entschädigung zu bezahlen und darf
und muss daher auch darüber befinden. In dieser Beziehung besteht kein
Unterschied zur Verantwortlichkeit für rechtswidrige Schädigung.

    c) Auch praktische Überlegungen sprechen für diese Lösung. Aus
welchen Gründen eine bestimmte Zwangsmassnahme angeordnet wurde und ob
und inwiefern der Beschuldigte das Strafverfahren bzw. die Anordnung und
Aufrechterhaltung einer prozessualen Massnahme durch sein Verhalten zu
verantworten habe (was für die Ausrichtung einer Entschädigung und deren
Höhe regelmässig von Bedeutung ist), können die Behörden des Kantons, in
dem die Untersuchungshandlung angeordnet wurde, zuverlässiger ermitteln
als die Behörden des das Verfahren einstellenden Kantons. Dasselbe
gilt hinsichtlich der Frage, ob die tatsächlichen Voraussetzungen
einer allfälligen Regresspflicht Dritter, etwa des Anzeigers oder
des Privatklägers (Art. 202 Abs. 2 StrV/BE) oder eines öffentlichen
Bediensteten (§ 84 StPO/BS), erfüllt seien. Hinzu kommt, dass die Behörden
des das Verfahren einstellenden Kantons die Praxis der Behörden des für
die Zwangsmassnahmen verantwortlichen Kantons zur Entschädigungsfrage in
der Regel nicht kennen und auch nicht ohne Schwierigkeiten in Erfahrung
bringen können.

    d) Was in den angefochtenen Entscheiden zur Begründung der
Unzuständigkeit der bernischen Behörden ausgeführt wird, vermag
offensichtlich nicht zu überzeugen. Dass der Beschuldigte nach der
Einstellung des Verfahrens bzw. nach dem Freispruch sich an den (oder
die) ursprünglich mit der Sache befassten Kanton(e) wenden muss,
ist kein erheblicher Nachteil (s. schon BGE 69 IV 189). Entgegen
der Auffassung des bernischen Obergerichts kann keine Rede davon
sein, dass der Kanton, der das Verfahren abgetreten hatte, bei der
Behandlung des Entschädigungsbegehrens vorfrageweise prüfen könne, ob
unter Anwendung der nach seinem Recht geltenden Prozessgrundsätze die
Aufhebung des Verfahrens bzw. der Freispruch überhaupt vertretbar sei;
die mit der Behandlung des Entschädigungsbegehrens befasste Behörde ist
selbstverständlich an die dem Aufhebungsbeschluss bzw. dem freisprechenden
Urteil zugrunde liegende Beweiswürdigung gebunden. Ob die im Beschluss
bzw. Urteil genannten Gründe für die Einstellung des Verfahrens bzw.
den Freispruch für den Entscheid über die Entschädigung von Bedeutung sind,
bestimmt sich nach dem anwendbaren kantonalen Prozessrecht. Der Hinweis
des bernischen Obergerichts auf die vom Strafgesetzbuch angestrebte
Einheit der Rechtsverfolgung schliesslich geht schon deshalb fehl, weil
der Anspruch auf Entschädigung für durch prozessuale Massnahmen erlittene
Nachteile wie erwähnt dem kantonalen Recht entspringt.

    Der Kanton Bern ist demnach zuständig zum Entscheid über das
von Frau D. eingereichte Begehren um Entschädigung für Nachteile,
die sie angeblich durch die von den bernischen Behörden angeordneten
und durchgeführten strafprozessualen Massnahmen erlitten hat. Über die
innerkantonale Zuständigkeit und die Ausgestaltung des Verfahrens braucht
hier nicht entschieden zu werden.