Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 V 99



107 V 99

21. Urteil vom 13. April 1981 i.S. Krankenfürsorge Winterthur gegen W. und
Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 12 ff. KUVG. Zur Leistungspflicht der Krankenkassen bei straflosem
Schwangerschaftsabbruch gemäss Art. 120 Abs. 1 StGB.

Sachverhalt

    A.- Gabriele W. ist Mitglied der Krankenfürsorge Winterthur (KFW). Am
14. Juni 1978 stellte das Spital X für sie ein "Kostengutsprachegesuch" im
Zusammenhang mit einem straflosen Schwangerschaftsabbruch gemäss Art. 120
Abs. 1 StGB. Aufgrund einer Stellungnahme ihres Vertrauensarztes, welcher
Einblick in das psychiatrische Gutachten genommen hatte, wies die Kasse
die Kostenübernahme am 13. November 1979 mit der Begründung ab, dass der
Eingriff durchgeführt worden sei, um der Möglichkeit einer physischen
oder psychischen Schädigung vorzubeugen; prophylaktische Massnahmen dieser
Art fielen aber nicht unter die Leistungspflicht der Krankenkassen.

    B.- In Gutheissung einer von der Versicherten erhobenen Beschwerde
stellte das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft fest,
dass der gestützt auf eine medizinische Indikation vorgenommene
Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich eine Pflichtleistung im Sinne
des KUVG darstelle. Weil nach der strafrechtlichen Regelung ein Abbruch
nur erlaubt sei, wenn medizinische Gründe dies rechtfertigten, und im
Strafrecht durch ein besonderes Verfahren sichergestellt sei, dass der
Entscheid nicht willkürlich getroffen werde, müsse dieser auch für die
Leistungspflicht der Krankenkassen Geltung haben.

    C.- Die KFW führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihre Verfügung vom
13. November 1979 zu bestätigen. Sie vertritt die Auffassung, nicht an
die im Rahmen von Art. 120 StGB erfolgte Beurteilung gebunden zu sein und
selbständig prüfen zu können, ob der Schwangerschaftsabbruch medizinisch
indiziert sei. Im vorliegenden Fall habe der Abbruch nicht vorgenommen
werden müssen, um eine nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder grosse
Gefahr dauernden Schadens an der Gesundheit der Schwangeren abzuwenden. Es
fehle daher an einer medizinischen Indikation im Sinne des Gesetzes,
weshalb die Kasse nicht leistungspflichtig sei.

    Die Versicherte und das Bundesamt für Sozialversicherung lassen sich
mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zu prüfen ist zunächst, ob der straflose Schwangerschaftsabbruch
im Sinne von Art. 120 Abs. 1 StGB eine Pflichtleistung nach Art. 12
ff. KUVG darstellt.

    a) Gemäss Art. 120 Abs. 1 StGB liegt eine strafbare Abtreibung dann
nicht vor, "wenn die Schwangerschaft mit schriftlicher Zustimmung der
Schwangeren infolge von Handlungen unterbrochen wird, die ein patentierter
Arzt nach Einholung eines Gutachtens eines zweiten patentierten Arztes
vorgenommen hat, um eine nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder grosse
Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit von der Schwangeren
abzuwenden".

    Der Schwangerschaftsabbruch ist demzufolge straflos, wenn damit das
Leben der Schwangeren erhalten oder ihre Gesundheit vor einem dauernden
schweren Schaden bewahrt werden kann. Als Indikation für den Eingriff
gelten physische oder psychische Zustände, die sich bei Fortbestehen
der Schwangerschaft als lebensgefährlich erweisen oder wenigstens die
Gesundheit der Schwangeren grosser Gefahr dauernden schweren Schadens
aussetzen. Notwendig ist ferner, dass die Gefahr nicht anders als durch
Abbruch der Schwangerschaft abgewendet werden kann (vgl. RSKV 1972
S. 39 ff.).

    b) Die Krankenkassen haben die gesetzlichen Leistungen grundsätzlich
nur zu erbringen, wenn der Versicherte an einer Krankheit leidet (BGE
105 V 182 Erw. 1a, EVGE 1968 S. 235).

    Die Pflichtleistungen gemäss Art. 12 ff. KUVG umfassen nicht
nur Massnahmen, die der Beseitigung körperlicher oder psychischer
Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes dienen. Es gehören dazu auch
Vorkehren, mit welchen der Eintritt eines drohenden Gesundheitsschadens
oder die Verschlimmerung eines bestehenden Leidens verhindert werden
soll. Voraussetzung ist, dass bereits ein krankhafter Zustand vorliegt
(vgl. RSKV 1974 S. 39 ff., insbesondere S. 44). Keine Leistungspflicht
besteht bei rein vorsorglichen Massnahmen, die im Hinblick auf eine bloss
mögliche künftige Schädigung durchgeführt werden. Dementsprechend gilt
beispielsweise die Appendektomie nicht nur dann als Pflichtleistung,
wenn eine akute Entzündung vorliegt, sondern auch wenn wiederholte
Blinddarmreizungen (oder allenfalls auch die blosse Verdachtsdiagnose auf
solche) eine Operation als medizinisch indiziert erscheinen lassen. Um eine
nicht zu Pflichtleistungen Anlass gebende prophylaktische Massnahme handelt
es sich dagegen, wenn die Operation rein vorsorglich, etwa im Hinblick auf
einen Aufenthalt in einer Gegend ohne gesicherte medizinische Versorgung,
durchgeführt wird (vgl. RSKV 1972 S. 40).

    c) Die normal verlaufende Schwangerschaft stellt keine Krankheit
im Sinne des KUVG dar. Sie ist einer solchen lediglich insofern
gleichgestellt, als die Kasse unter bestimmten Voraussetzungen die gleichen
Leistungen zu erbringen hat wie bei Krankheit (Art. 14 KUVG). Treten
während der Schwangerschaft behandlungsbedürftige Störungen auf, so sind
diese als Krankheit zu werten, für welche die Kasse die nach Art. 12
ff. KUVG geschuldeten Leistungen zu erbringen hat (EVGE 1967 S. 61,
RSKV 1972 Nr. 132 S. 123).

    Zur Frage nach der Leistungspflicht der Krankenkassen bei
straflosem Schwangerschaftsabbruch hat sich die Justizabteilung des
Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes in einem dem Bundesamt für
Sozialversicherung am 21. Oktober 1942 erstatteten Gutachten dahingehend
geäussert, dass der Eingriff, wie er in Art. 120 StGB umschrieben und
gemäss dieser Bestimmung straflos ist, nicht als eine bloss vorsorgliche
Massnahme erscheint, die einer allfälligen künftigen Gefährdung oder
Erkrankung zuvorkommen soll. Sie dient vielmehr dazu, einen tatsächlich
bestehenden Zustand gesundheitlicher Gefahr zu beseitigen, und ist
deshalb als eine medizinische Heilbehandlung aufzufassen, gleich wie
eine Operation, mit der bei einem Organ eine schädliche Entwicklung
beseitigt wird. Ist der straflose Schwangerschaftsabbruch als Massnahme
zur Beseitigung eines der Gesundheit oder dem Leben gefährlichen Zustandes
zu betrachten, so haben die Krankenkassen die Versicherungsleistungen in
gleicher Weise zu gewähren wie bei anderer ärztlicher Behandlung (RSKV
1972 S. 39 ff.).

    Dieser von der Vorinstanz und vom Bundesamt für Sozialversicherung
übernommenen Auffassung ist beizupflichten. Obwohl dem
Schwangerschaftsabbruch insoweit präventive Bedeutung zukommt, als die
Schwangerschaft als solche im Zeitpunkt des Eingriffs noch keineswegs den
Charakter einer gesundheitlichen Beeinträchtigung aufzuweisen braucht, ist
damit noch nicht gesagt, dass es sich dabei um eine bloss prophylaktische
Massnahme handelt, für welche die Kasse keine Pflichtleistungen zu
erbringen hat. Denn der Eingriff erfolgt nicht, um einer bloss theoretisch
möglichen Gefährdung zuvorzukommen, sondern um eine bei Fortsetzung
der Schwangerschaft konkret bestehende Gefahr für das Leben bzw.
die Gesundheit der Schwangeren abzuwenden. Der unter den Voraussetzungen
des Art. 120 Abs. 1 StGB vorgenommene Schwangerschaftsabbruch stellt
daher eine Massnahme dar, für welche die Krankenkassen grundsätzlich
aufzukommen haben.

Erwägung 2

    2.- a) Die KFW bestreitet nicht, dass der Schwangerschaftsabbruch eine
Pflichtleistung gemäss Art. 12 ff. KUVG darstellt, wenn die medizinische
Indikation im Sinne von Art. 120 StGB tatsächlich gegeben ist. Sie macht
aber geltend, dass der Schwangerschaftsabbruch im vorliegenden Fall
medizinisch nicht indiziert gewesen sei und dass sie an die im Rahmen
der strafrechtlichen Regelung erfolgte gegenteilige Beurteilung nicht
gebunden sei.

    Die Vorinstanz weist demgegenüber darauf hin, dass sich die Aufgabe
des begutachtenden Arztes nicht in der Feststellung des gesundheitlichen
Zustandes der Schwangeren erschöpfe; vielmehr habe er diesen Zustand
im Hinblick auf die Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs aus
medizinischen Gründen zu bewerten. Da nach der strafrechtlichen Regelung
ein Schwangerschaftsabbruch nur erlaubt sei, wenn medizinische Gründe dies
rechtfertigten, und da zudem im Strafrecht durch ein besonderes Verfahren
sichergestellt sei, dass der Entscheid nicht willkürlich erfolge, müsse
dieser auch ausserhalb des strafrechtlichen Bereichs Geltung haben. Es
gehe nicht an, dass ein legal durchgeführter Schwangerschaftsabbruch
durch eine abweichende vertrauensärztliche Beurteilung nachträglich als
illegal qualifiziert werde.

    b) Der Auffassung der Vorinstanz ist entgegenzuhalten, dass die
Krankenkassen im Rahmen des KUVG und ihrer Statuten dafür zu sorgen
haben, dass nur Leistungen erbracht werden, auf die der Versicherte
tatsächlich Anspruch hat. Die Kassen haben daher jederzeit das Recht
und gegebenenfalls die Pflicht, die Angaben des Versicherten und auch
diejenigen des Arztes zu überprüfen; sie können zu diesem Zweck die
Stellungnahme eines Vertrauensarztes einholen oder eine vertrauensärztliche
Untersuchung des Versicherten anordnen (BGE 101 V 71, RSKV 1980 Nr. 426
S. 231).

    Diese Ordnung gilt mangels einer anderslautenden gesetzlichen
Vorschrift auch im Falle des Schwangerschaftsabbruchs im Sinne
von Art. 120 StGB. Hieran vermag nichts zu ändern, dass es sich
beim Entscheid über das Vorliegen der für die Straflosigkeit des
Schwangerschaftsabbruchs geltenden Voraussetzungen um eine qualifizierte
ärztliche Meinungsäusserung handelt. Die Beurteilung nach Art. 120 StGB
ist sozialversicherungsrechtlich nur insofern relevant, als der Tatbestand
des medizinisch indizierten und damit straflosen Schwangerschaftsabbruchs
wegen der vorausgesetzten Lebens- bzw. Gesundheitsgefährdung der
Schwangeren zugleich die Voraussetzungen einer Pflichtleistung nach KUVG
erfüllt. Es geht indessen um zwei verschiedene Rechtsfragen, nämlich
einerseits die strafrechtliche Frage, ob die Voraussetzungen für einen
straflosen Abbruch der Schwangerschaft erfüllt sind, und anderseits
um die sozialversicherungsrechtliche Frage, ob eine Leistungspflicht
der Krankenkasse nach KUVG gegeben ist. Stimmt jedoch - wie hier -
der zu beurteilende Fall lediglich bezüglich des ihm zugrundeliegenden
Sachverhaltes, nicht aber bezüglich der zu entscheidenden Rechtsfragen
überein, so besteht keine Bindung der für die eine Rechtsfrage zuständigen
Instanz an den Entscheid der andern Instanz (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, Bd. II S. 1054 mit Hinweisen). Dementsprechend
hat das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt ausgeführt, dass Verwaltung
und Sozialversicherungsrichter an die Erkenntnisse des Strafrichters
nicht gebunden sind (BGE 97 V 213, EVGE 1961 S. 115; vgl. auch BGE 96
I 774). Dies hat sinngemäss auch bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs
zu gelten.

    Allerdings soll auch in diesem Zusammenhang im Interesse
der Rechtssicherheit nicht ohne Not von einem vorgängigen, unter
strafrechtlichen Gesichtspunkten erfolgten Entscheid abgewichen werden
(vgl. BGE 96 I 774). Die Krankenkassen dürfen daher im Widerspruch zu
einem solchen Entscheid ihre Leistungen nur dann verweigern, wenn die
Voraussetzungen der medizinischen Indikation im Sinne des Art. 120 Abs. 1
StGB eindeutig nicht gegeben sind. Dass es zu solchen Divergenzen kommen
kann, ist zwar unbefriedigend, lässt sich aber in Anbetracht einer zum
Teil in offensichtlichem Widerspruch zu Art. 120 StGB stehenden Praxis
des Schwangerschaftsabbruchs nicht vermeiden. Die je nach Landesgegend
unterschiedliche Praxis betreffend straflosen Abbruch der Schwangerschaft
darf nicht zu einem Abrücken von den für die soziale Krankenversicherung
verbindlichen Normen des KUVG führen.

    c) Sind die Krankenkassen an die strafrechtliche Beurteilung nicht
gebunden, sondern befugt, über ihre Leistungspflicht selbständig zu
befinden, so müssen sie auch den massgebenden Sachverhalt überprüfen und
in das gemäss Art. 120 Abs. 1 StGB erstattete Gutachten des zweiten Arztes
Einsicht nehmen können. Hiezu ist die Kasse jedenfalls dann berechtigt,
wenn sie den Sachverhalt soweit als möglich abgeklärt hat und erhebliche
Zweifel am Vorliegen einer leistungsbegründenden medizinischen Indikation
bestehen. Trifft dies zu und wird der Kasse bzw. dem Vertrauensarzt
die Einsichtnahme in das Gutachten verweigert, so kann die Kasse ihre
Leistungspflicht ablehnen (vgl. auch PFLUGER, Juristische Kartothek der
Krankenversicherung, III d 6).

Erwägung 3

    3.- Die KFW stützt die angefochtene Verfügung auf eine Stellungnahme
ihres Vertrauensarztes, welcher in das vom Chefarzt der Psychiatrischen
Klinik erstattete Gutachten Einsicht genommen hat. Nach den Angaben der
Krankenkasse wird im Gutachten festgestellt, dass die Versicherte auf
Verselbständigung dränge und der Reifungsprozess ihrer Persönlichkeit noch
nicht vollzogen zu sein scheine; durch die Schwangerschaft werde sie in
ihren Berufsabsichten und hinsichtlich eines geplanten Auslandaufenthalts
behindert; auch könne sie sich nicht dazu entschliessen, das Kind zur
Adoption zu geben. Schliesslich wird auf eine "im letzten Sommer
durchgemachte Krise" verwiesen und die Meinung geäussert, dass die
Gravidität die psychische Tragfähigkeit der Versicherten übersteigen würde.

    Das fragliche Gutachten liegt nicht an den Akten und die Vorinstanz
hat dazu auch nicht materiell Stellung genommen. Nach Darstellung der KFW
ist es in einer Art und Weise begründet, dass es als fraglich erscheint,
ob der Eingriff tatsächlich vorgenommen werden musste, um eine nicht
anders abwendbare Lebensgefahr oder Gefahr dauernden Schadens an der
Gesundheit der Schwangeren abzuwenden. Wie es sich diesbezüglich verhält,
lässt sich aufgrund der vorliegenden Akten nicht beurteilen. Die Sache ist
daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie ergänzende Abklärungen
treffe und - nötigenfalls nach Anordnung einer Expertise - darüber
befinde, ob die für den Schwangerschaftsabbruch angegebene Indikation
krankenversicherungsrechtlich anerkannt werden kann und ob demzufolge
die Leistungspflicht der Krankenkasse zu bejahen ist...

Erwägung 4

    4.- (Kosten).

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der vorinstanzliche Entscheid vom 6. Februar 1980 aufgehoben und
die Sache im Sinne der Erwägungen an das Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft zur Neubeurteilung zurückgewiesen wird.