Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 V 79



107 V 79

16. Auszug aus dem Urteil vom 21. April 1981 i.S. Schönenberg
gegen Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und
AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 47 Abs. 1 AHVG. Eine grosse Härte im Sinne der Gesetzesbestimmung
liegt vor, wenn das anrechenbare Einkommen die nach Art. 42 Abs. 1 AHVG
anwendbare und um 50% erhöhte Einkommensgrenze nicht erreicht (Änderung
der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 47 Abs. 1 AHVG sind unrechtmässig bezogene Renten
und Hilflosenentschädigungen zurückzuerstatten. Bei gutem Glauben und
gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte kann von der Rückforderung
abgesehen werden.

    Art. 79 AHVV bestimmt, dass dem Rückerstattungspflichtigen, der
selbst bzw. dessen gesetzlicher Vertreter in gutem Glauben annehmen
konnte, die Rente zu Recht bezogen zu haben, die Rückerstattung ganz oder
teilweise zu erlassen ist, wenn sie für den Pflichtigen angesichts seiner
Verhältnisse eine grosse Härte bedeuten würde (Abs. 1). Der Erlass wird von
der Ausgleichskasse auf schriftliches Gesuch des Rückerstattungspflichtigen
hin verfügt; das Gesuch ist zu begründen und innert 30 Tagen seit der
Zustellung der Rückerstattungsverfügung der Ausgleichskasse einzureichen
(Abs. 2). Sind die Voraussetzungen offensichtlich erfüllt, so kann die
Ausgleichskasse den Erlass von sich aus verfügen (Abs. 3).

    b) Die Vorinstanz hat den für den Erlass der Rückforderung
vorausgesetzten guten Glauben bejaht mit der Feststellung, dass der
Adoptivvater seiner Meldepflicht vorschriftsgemäss nachgekommen sei
und der Rentenempfängerin die Unrechtmässigkeit des Rentenbezugs nicht
habe bewusst sein müssen. Soweit damit der gute Glaube im Sinne des
fehlenden Unrechtbewusstseins bejaht wird, ist diese Feststellung für das
Eidg. Versicherungsgericht gemäss Art. 105 Abs. 2 OG verbindlich (BGE 102 V
246). Im übrigen besteht kein Grund, von der vorinstanzlichen Beurteilung
abzugehen. Zu prüfen bleibt daher lediglich, ob die Rückerstattung eine
grosse Härte bedeuten würde.

Erwägung 3

    3.- a) Nach der Rechtsprechung ist eine grosse Härte im Sinne von
Art. 47 Abs. 1 AHVG gegeben, soweit zwei Drittel des Jahreseinkommens,
dem ein angemessener Teil des Vermögens zuzurechnen ist, nach Abzug der
Rückerstattungsforderung die auf den Rückerstattungspflichtigen zutreffende
Einkommensgrenze des Art. 42 Abs. 1 AHVG nicht erreichen. Das bedeutet
mit anderen Worten, dass die Rückforderung unrechtmässig bezogener
Renten durch einmaligen oder wiederholten Abzug (bzw. Verrechnung) nur
in dem Ausmass realisiert werden darf, dass die erwähnten gesetzlichen
Einkommensgrenzen nicht unterschritten werden. Für die Bestimmung des im
Einzelfall massgebenden anrechenbaren Einkommens und des hinzuzurechnenden
Vermögensteils sind die Regeln der Art. 56 bis 63 AHVV anzuwenden (BGE
104 V 174).

    b) Die Frage nach der grossen Härte beurteilt sich nach den gesamten
wirtschaftlichen Verhältnissen des Rückerstattungspflichtigen, wobei
auch Einkommen und Vermögen des Ehegatten mit zu berücksichtigen sind
(ZAK 1978 S. 218). Massgebend sind die wirtschaftlichen Verhältnisse, wie
sie im Zeitpunkt gegeben sind, da der Rückerstattungspflichtige bezahlen
sollte (nicht veröffentlichte Urteile Steffanits vom 13. August 1979,
Hofmann vom 25. Juli 1979 und Romanens vom 3. Februar 1976; vgl. auch
BGE 104 V 62, 103 V 54, 98 V 252). Der Sozialversicherungsrichter ist
indessen nicht verpflichtet, von sich aus zu prüfen, ob und gegebenenfalls
inwieweit sich die wirtschaftliche Lage des Schuldners seit Eröffnung
der angefochtenen Verfügung verändert hat. Es ist ihm aber auch nicht
verwehrt, dem Entscheid - insbesondere aus prozessökonomischen Gründen -
unter Wahrung des rechtlichen Gehörs den neuen Sachverhalt zugrundezulegen
(BGE 104 V 62, 103 V 54, 98 V 252).

    Mit Bezug auf das letztinstanzliche Verfahren ist zu beachten, dass
das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich an den von der Vorinstanz
festgestellten Sachverhalt gebunden ist (vgl. BGE 98 V 276). Es ist ihm
insoweit verwehrt, allfällige neue Tatsachen zu berücksichtigen, die erst
nach Abschluss der von der Vorinstanz erfassten Zeitperiode eingetreten
sind. Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich jedoch,
ausnahmsweise auch nachträglich eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen,
sofern diese offensichtlich klar bewiesen sind (BGE 104 V 62).

Erwägung 4

    4.- a) Wie das Eidg. Versicherungsgericht in seinem Geschäftsbericht
für das Jahr 1979 festgestellt hat, vermag die Ordnung betreffend
die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen nicht voll zu
befriedigen (vgl. Berichte über die Geschäftsführung des Bundesrates, des
Bundesgerichtes und des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes im Jahre
1979, S. 330). Zum gleichen Schluss war der Bundesrat in der Botschaft
vom 21. November 1973 über die AHV (BBl 1974 I 33 ff.) gelangt. Seiner
Auffassung nach sollte in Fällen, in welchen die unrechtmässige
Rentenzahlung auf einen Fehler der Verwaltung zurückzuführen ist und
der Rentenbezüger offensichtlich gutgläubig war, in bestimmten Grenzen
ohne Erlassverfahren auf die Rückerstattung verzichtet werden können;
auch sollte die Erlassvoraussetzung der grossen Härte gegenüber der
bisherigen Praxis weiter gefasst werden und unter bestimmten Bedingungen
entfallen (BBl 1974 I 52). Dementsprechend wurde vorgeschlagen, die
Voraussetzung der grossen Härte in Art. 47 Abs. 1 AHVG zu streichen und
den Bundesrat durch Änderung von Abs. 3 der Bestimmung zum Erlass näherer
Vorschriften zu ermächtigen (BBl 1974 I 78). Die Vorlage wurde in der
Folge zugunsten des Bundesbeschlusses über Sofortmassnahmen für die Jahre
1976 und 1977 auf dem Gebiet der Alters- und Hinterlassenenversicherung
und der Invalidenversicherung zurückgezogen, welcher keine Änderung von
Art. 47 AHVG mehr vorsah (Botschaft des Bundesrates vom 5. Februar 1975,
BBl 1975 I 677 ff.). Auch im Rahmen der 9. Revision der Alters- und
Hinterlassenenversicherung (Botschaft des Bundesrates vom 7. Juli 1976,
BBl 1976 III 1 ff.) blieb Art. 47 Abs. 1 AHVG unverändert.

    b) Während in der Alters- und Hinterlassenenversicherung weiterhin
die bisherige Ordnung gilt, wurde in der Invalidenversicherung mit
der auf den 1. Januar 1977 in Kraft getretenen Verordnungsänderung
insofern eine mildere Regelung getroffen, als nach Art. 85 Abs. 2 und
3 IVV die Änderung erst von dem der neuen Verfügung folgenden Monat
an vorzunehmen ist, wenn eine Überprüfung der Anspruchsberechtigung
ergibt, dass eine Leistung herabgesetzt oder aufgehoben werden muss
und der Bezüger nicht die Leistung unrechtmässig erwirkt oder die ihm
zumutbare Meldepflicht nach Art. 77 IVV verletzt hat (Art. 88bis Abs. 2
lit. b IVV). Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese Regelung als
gesetzmässig erachtet, ihre Anwendbarkeit jedoch auf Fälle beschränkt,
in welchen der im Rahmen der Wiedererwägung festgestellte Fehler eine
spezifisch invalidenversicherungsrechtliche Frage betrifft (BGE 105 V
170, 175). Es hat dabei nicht übersehen, dass die Verordnungsbestimmung
insofern zu stossenden Ungleichheiten führt, als Leistungsbezüger
der Alters- und Hinterlassenenversicherung unter gleichen Umständen
rückerstattungspflichtig sind, unter denen die Rückerstattungspflicht
für Empfänger von Leistungen der Invalidenversicherung ausgeschlossen
wurde. Diese Ungleichheiten lassen den in Art. 47 Abs. 1 AHVG verankerten
Grundsatz noch fragwürdiger erscheinen als vor Inkrafttreten der
Verordnungsänderung in der Invalidenversicherung.

Erwägung 5

    5.- Da mit einer baldigen Änderung des Art. 47 Abs. 1 AHVG nicht
gerechnet werden kann, ist dem unbefriedigenden Rechtszustand soweit als
möglich im Rahmen der Gesetzesauslegung Rechnung zu tragen. Im Vordergrund
steht dabei eine Praxisänderung im Sinne einer Neuumschreibung des Begriffs
der grossen Härte.

    a) Praxisänderungen lassen sich im allgemeinen nur rechtfertigen,
wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten
äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht
(BGE 107 V 1, 105 Ib 60, 100 Ib 71; vgl. auch Dubs, Praxisänderungen,
S. 138 ff.). Im vorliegenden Zusammenhang haben sich die Verhältnisse
insofern geändert, als auf den 1. Januar 1977 die revidierten Art. 85 und
88bis IVV in Kraft getreten sind, mit welchen für die Invalidenversicherung
eine von Art. 47 Abs. 1 AHVG abweichende Regelung getroffen wurde. Hiefür
dürften sowohl die Erkenntnis, dass die bisherige Regelung zu stossenden,
mit dem angestrebten Gesetzeszweck kaum zu vereinbarenden Ergebnissen
führt, als auch gewandelte Rechtsanschauungen mit Bezug auf die Bedeutung
des Vertrauensgrundsatzes im Sozialversicherungsrecht ausschlaggebend
gewesen sein. Der Vertrauensschutz wird durch die geltende Regelung denn
auch in einer Weise eingeschränkt, die nicht unbestritten geblieben ist
(vgl. DUCOMMUN, Légalité et bonne foi dans la jurisprudence du Tribunal
fédéral des assurances, in Mélanges Henri Zwahlen, S. 256; EGLI, Treu
und Glauben im Sozialversicherungsrecht, in ZBJV 1977 S. 404; MÜLLER
LUZIUS, Die Rückerstattung rechtswidriger Leistungen als Grundsatz des
öffentlichen Rechts, Diss. Basel, S. 104). Es liegen damit Umstände vor,
die eine Praxisänderung mit Bezug auf den Begriff der grossen Härte zu
rechtfertigen vermögen.

    b) Das Gesamtgericht, welchem diese Frage ihrer grundsätzlichen
Bedeutung wegen unterbreitet worden ist, hat im einzelnen geprüft,
welche Beurteilungskriterien für die Neuumschreibung der grossen Härte
in Betracht fallen. Es ist zur Auffassung gelangt, dass die für den
Anspruch auf Ergänzungsleistungen geltenden Einkommensgrenzen (vgl. ZAK
1973 S. 198) und das für die Beitragsherabsetzung nach Art. 11 Abs. 1 AHVG
massgebende betreibungsrechtliche Existenzminimum (vgl. ZAK 1979 S. 46)
schon deshalb keine geeignete Grundlage für eine Neuregelung bilden,
weil sie keine gesamtschweizerisch einheitliche Praxis gewährleisten und
für den Versicherten nicht günstiger sind. Als ungeeignet erweist sich
auch das Kriterium des Existenzbedarfs im Sinne von Art. 34quater BV, da
hiefür eine klare Definition fehlt (vgl. BBl 1971 II 1616). Schliesslich
kann auch dem Vorschlag von MÜLLER (aaO, S. 104) nicht gefolgt werden,
wonach die Rückerstattung in jedem Fall zu erlassen ist, wenn der
Versicherte die zu Unrecht ausgerichteten Leistungen im Zeitpunkt
der Rückforderung bereits gutgläubig und ersatzlos verbraucht hat, und
wonach darüber hinaus auch denjenigen Versicherten die Rückerstattung zu
erlassen ist, denen diese angesichts ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse
nicht zumutbar ist. Eine Beschränkung der Rückerstattungspflicht auf die
ungerechtfertigte Bereicherung würde nicht nur zu stossenden Ergebnissen
führen, indem der sparsame Versicherte benachteiligt wäre, sondern wäre
auch mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden, da häufig
kaum feststellbar wäre, inwieweit noch eine Bereicherung vorhanden ist
(so auch MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Band I S. 316,
Fussnote 712).

    Da kein geeignetes anderes Kriterium ersichtlich ist, welches zu
befriedigenden Ergebnissen führt, hat die Neuumschreibung der grossen
Härte im Rahmen des bisherigen Systems zu erfolgen. Schon aus Gründen der
Praktikabilität drängt sich dabei eine Lösung in Form eines einheitlichen
prozentualen Zuschlages zu den Einkommensgrenzen des Art. 42 Abs. 1 AHVG
auf, was gemäss einer Stellungnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung
keine wesentlichen durchführungstechnischen Schwierigkeiten zur Folge
hat. Das Gericht hat den Zuschlag auf 50% festgesetzt in der Meinung,
dass damit die Erlassvoraussetzung der grossen Härte in einer Weise
gemildert wird, die sich mit dem Gesetzeswortlaut vereinbaren lässt. Eine
grosse Härte im Sinne der Gesetzesbestimmung liegt demnach vor, wenn
das anrechenbare Einkommen die nach Art. 42 Abs. 1 AHVG anwendbare
und um 50% erhöhte Einkommensgrenze nicht erreicht. Für die Ermittlung
des anrechenbaren Einkommens gelten wie bisher die Regeln der Art. 56
ff. AHVV. Im übrigen ist die Berücksichtigung weiterer Umstände im
Einzelfall nicht ausgeschlossen (vgl. Rz. 1199 der Wegleitung über die
Renten, Ausgabe vom 1. Januar 1980). In Betracht fällt auch die Pflicht
zur Tilgung anderweitiger Schulden.