Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 V 239



107 V 239

56. Auszug aus dem Urteil vom 1. Oktober 1981 i.S. Tratzi gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Basel-Stadt Regeste

    Art. 82 KUVG. Anspruch auf Abfindung bei Neurosen: Bestätigung und
Präzisierung der Rechtsprechung.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorschrift des Art. 82 KUVG hat nicht nur für Neurosen
Geltung, auch wenn die Bestimmung dem Sinne nach in erster Linie auf diese
Fälle zugeschnitten ist und es sich dabei um den wichtigsten Anwendungsfall
handelt. Das Eidg. Versicherungsgericht hat es in BGE 103 V 83 ff. daher
abgelehnt, der Auffassung der SUVA zu folgen, wonach der Hinweis in
Art. 82 KUVG auf die Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit nach Aufnahme
der Arbeit lediglich bedeute, dass nach KUVG die Abfindung die Therapie
der Wahl für Neurosen darstelle und blosser Ausfluss der Erfahrung sei,
dass der Abfindung dieser Erfolg an sich schon eigne, weshalb in der
Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit keine selbständige Voraussetzung
für die Zusprechung einer Abfindung erblickt werden dürfe. Das Gericht
stellte demgegenüber fest, dass es sich bei der Annahme, der Versicherte
werde nach Erledigung der Versicherungsansprüche und bei Wiederaufnahme
der Arbeit die Erwerbsfähigkeit wieder erlangen, um eine vom Gesetz
verlangte Voraussetzung für den Abschluss des Versicherungsfalles durch
Abfindung handle. Im übrigen äusserte es sich mit Bezug auf die Abfindung
bei Neurosen wie folgt: "Im häufigsten Anwendungsfall der Neurose ist
erfahrungsgemäss die Abfindung in der Regel das geeignete therapeutische
Mittel, um dem Versicherten zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit zu
verhelfen. Eine Ausnahme von dieser Regel in dem Sinne, dass die Abfindung
diesen Zweck nicht erreichen werde, dürfte nur angenommen werden, wenn
sie im konkreten Fall durch eine ganz eindeutige, allgemein geltender
Lehrmeinung entsprechende Beurteilung eines Psychiaters bestätigt würde."

    b) Die SUVA erachtet die für die Abfindung bei Neurosen geltende
Rechtsprechung insofern als ergänzungsbedürftig, als offen geblieben sei,
ob es zur Abklärung der Frage, ob von der Abfindung die Wiedererlangung der
Erwerbsfähigkeit erwartet werden könne, in jedem Fall eines vorsorglichen
psychiatrischen Gutachtens bedürfe oder ob in der Regel auf die allgemeine
ärztliche bzw. unfalladministrative Erfahrung abgestellt werden dürfe. Wenn
letzteres zutreffe, stelle sich für den Fall, dass vom Betroffenen eine
Ausnahme von der Erfahrungsregel geltend gemacht werde, die Frage, ob das
psychiatrische Gutachten durch den Versicherten, die SUVA oder allenfalls
durch den Richter einzuholen sei.

    Nach der genannten Rechtsprechung ist bei Neurosen erfahrungsgemäss
davon auszugehen, dass die Abfindung in der Regel das geeignete
therapeutische Mittel darstellt, um dem Versicherten zur Wiedererlangung
der Erwerbsfähigkeit zu verhelfen. Aufgrund dieser Erfahrungsregel,
welche sich - wie die medizinische Abteilung der SUVA ausführt - auf
immer wieder bestätigte ärztliche und unfalladministrative Erkenntnisse
stützt, braucht nicht in jedem Einzelfall näher geprüft zu werden, ob die
Abfindung tatsächlich geeignet ist, den gesetzlich vorausgesetzten Zweck
zu erreichen. Es bedarf daher auch nicht in jedem Fall einer entsprechenden
psychiatrischen Begutachtung.

    Ob eine Ausnahme von der Erfahrungsregel vorliegt, ist nur dann näher
abzuklären, wenn erhebliche Zweifel darüber bestehen, ob die Erledigung
der Versicherungsansprüche tatsächlich zu einer Wiedererlangung
der Erwerbsfähigkeit zu führen vermag. Trifft dies zu, so sind die
erforderlichen Abklärungen gemäss Untersuchungsmaxime von Amtes wegen
vorzunehmen. Die für Neurosen geltende Erfahrungsregel beinhaltet nicht
eine Beweisführungslast des Versicherten in dem Sinne, dass dieser den
Nachweis dafür zu erbringen hätte, dass unter den gegebenen Umständen
nicht mit einer Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit gerechnet werden
könne. Sie bedeutet in beweismässiger Hinsicht lediglich, dass von der
auf ärztlicher und unfalladministrativer Erfahrung beruhenden Annahme,
wonach der Abfindung diese Wirkung in der Regel zukommt, nur abzuweichen
ist, wenn im Einzelfall durch eine "ganz eindeutige, allgemein geltender
Lehrmeinung entsprechende Beurteilung eines Psychiaters" (BGE 103 V 88/89)
bestätigt wird, dass die Abfindung den erwähnten therapeutischen Zweck
nicht erreichen wird.