Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 20



107 IV 20

7. Auszug dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar 1981 i.S. S. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2
StGB. Einweisung in eine Trinkerheilanstalt unter Aufschub des
Strafvollzuges.

    Längere Freiheitsstrafen, bei denen das Maximum des Anstaltsaufenthalts
von zwei Jahren (Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB) nicht einmal zwei Dritteln
der Strafzeit gleichkommt, sind nur ausnahmsweise zwecks stationärer
Trinkerbehandlung auszusetzen, sofern nämlich von dieser Massnahme
ein Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich durch den
Vollzug der Freiheitsstrafe mit ambulanter Behandlung von vornherein
nicht erreichen lässt (E. 5b, c).

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 31. Januar 1980 hat das Geschwornengericht des
III. Bezirks des Kantons Bern S. wegen qualifizierter Unzucht mit Kindern
zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und gleichzeitig in Anwendung
von Art. 44 Ziff. 1 StGB verfügt, dass während des Strafvollzuges
und im Anschluss an die Entlassung eine geeignete ambulante, durch den
Anstaltspsychiater zu bestimmende Massnahme zur Behandlung der Trunksucht
durchzuführen sei.

    B.- Gegen dieses Urteil führt S. Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, die Verurteilung zu sechs Jahren Zuchthaus und die Anordnung
einer ambulanten Behandlungsmassnahme seien aufzuheben, die Sache sei zur
Ausfällung einer kürzern Zuchthausstrafe und zur Anordnung der Einweisung
in eine Trinkerheilanstalt bei gleichzeitigem Aufschub der Strafe an die
Kriminalkammer zurückzuweisen.

    C.- Eine Vernehmlassung wurde nicht eingeholt.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 3

    3.- Nach den psychiatrischen Experten ist der Beschwerdeführer ein
chronischer Trinker und es muss angenommen werden, dass seine Delikte mit
der Trunksucht im Zusammenhang stehen. Sowohl im angefochtenen Urteil
als auch in der Beschwerdebegründung wird davon ausgegangen, dass die
Voraussetzungen für die strafrechtliche Anordnung einer Massnahme im
Sinne von Art. 44 StGB erfüllt sind. Streitig ist lediglich, welche der
nach dieser Bestimmung dem Richter zur Verfügung stehenden Lösungen im
vorliegenden Fall angezeigt ist.

Erwägung 4

    4.- a) Die Vorinstanz legt in zutreffender Weise dar, dass das
Strafgesetzbuch in Art. 44 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 für
die Behandlung Trunksüchtiger drei Möglichkeiten vorsieht:

    - stationäre Behandlung in einer geeigneten Anstalt (Trinkerheilanstalt
oder, wenn nötig, andere Heilanstalt) unter Aufschub des Strafvollzugs;

    - ambulante Behandlung des Täters in Freiheit unter Aufschub des
Strafvollzuges;

    - Vollzug der Strafe und ambulante Behandlung während des
Strafvollzuges, nötigenfalls auch Weiterführung der Behandlung während
der Probezeit bei bedingter Entlassung.

    b) Nach dem seit 1. Juli 1971 in Kraft stehenden Wortlaut der Art. 43
und der Art. 44 StGB wird der Aufschub des Strafvollzugs zwecks ambulanter
oder stationärer Behandlung durch die Art und Dauer der ausgefällten
Freiheitsstrafe in keinem Fall formell ausgeschlossen. Die frühere
Fassung von Art. 44 StGB erlaubte die (damals dort allein vorgesehene)
Einweisung in eine Trinkerheilanstalt nur bei Verurteilung zu Gefängnis
oder Haft, nicht aber neben bzw. "an Stelle" einer Zuchthausstrafe. Mit
der Neuordnung, welche die Möglichkeit ambulanter Behandlung mit oder
ohne Aufschub des Strafvollzuges einführte, hat der Gesetzgeber auf den
allgemeinen Ausschluss der zu Zuchthaus Verurteilten von der Anwendung
des Art. 44 StGB verzichtet. So kann heute mit einer Zuchthausstrafe
die ambulante Behandlung (während des Strafvollzuges und nach bedingter
Entlassung) verbunden werden. Eine ambulante oder stationäre Behandlung
unter Aufschub des Strafvollzugs ist sogar bei Verurteilung zu einer langen
Zuchthausstrafe nicht von vornherein zwingend ausgeschlossen; der Wortlaut
des Gesetzes lässt - unabhängig von der Schwere der verhängten Strafe -
grundsätzlich stets alle Möglichkeiten einer Behandlung nach Art. 44
StGB offen. Es ist Sache des Richters, in diesem weiten gesetzlichen
Rahmen eine Rechtsprechung zu entwickeln, welche das in den Art. 43/44
StGB dominierende Resozialisierungsziel zum Tragen bringt, aber auch dem
fundamentalen Gesichtspunkt einer rechtsgleichen, gerechten Beurteilung
der Straftäter die gebührende Beachtung schenkt.

    c) Die bisherige Praxis hatte sich vor allem mit der Frage zu befassen,
nach welchen Kriterien ein Aufschub des Strafvollzuges zwecks ambulanter
Behandlung anzuordnen sei. Das Bundesgericht hat - unter Berücksichtigung
der Entstehungsgeschichte der einschlägigen Bestimmung - entschieden, dass
der sofortige Strafvollzug in Verbindung mit der ambulanten Behandlung
die Regel bilden müsse und dass der Strafvollzug nur aufgeschoben werden
soll, wenn der sofortige Vollzug den Erfolg ambulanter Behandlung in
Frage stelle (BGE 100 IV 13 E. 1 und 202 E. 2). In BGE 101 IV 271 E. 1
und 358 sowie BGE 105 IV 88 E. 2 wurde diese Rechtsprechung bestätigt und
dahin präzisiert, der Aufschub des Vollzuges der Freiheitsstrafe sei nur
begründet, wenn der Sachrichter zur Überzeugung gelange, dass die wirklich
vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen
Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde (zustimmend
Rehberg in ZStr. 93, 1977, S. 182 ff.). In diesen Präjudizien ist auch
darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeit des Strafaufschubs zwecks
ambulanter Behandlung nicht dazu missbraucht werden dürfe, den Vollzug
der Strafe zu umgehen oder ihn auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben
(BGE 101 IV 271 E. 1, 105 IV 88).

Erwägung 5

    5.- Im angefochtenen Urteil überträgt das Geschwornengericht die vom
Bundesgericht hinsichtlich des Strafaufschubs zwecks ambulanter Behandlung
entwickelten Richtlinien auf die Frage der Anordnung einer stationären
Behandlung (welche ex lege stets den Aufschub des Strafvollzugs zur Folge
hat). Eine solche Berücksichtigung analoger Kriterien bei der Entscheidung,
ob die Einweisung in eine Trinkerheilanstalt angezeigt sei, erscheint
als durchaus sachgerecht.

    Dabei dürften folgende Überlegungen wegleitend sein:

    a) Soweit eine Freiheitsstrafe in Frage steht, die nach Art und
Dauer durch einen Aufenthalt in der Trinkerheilanstalt vermutlich als
abgegolten erscheinen dürfte, wird der Richter die Einweisung anordnen,
sobald von dieser Massnahme ein besserer oder mindestens gleicher
Resozialisierungserfolg erwartet werden darf wie vom sofortigen Vollzug
der Strafe.

    b) Längere Freiheitsstrafen, bei denen das Maximum des
Anstaltsaufenthaltes von zwei Jahren (Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 StGB) nicht
einmal zwei Dritteln der Strafzeit gleichkommt, sind nur dann zwecks
stationärer Trinkerbehandlung auszusetzen, wenn die Erfolgsaussichten
besonders günstig erscheinen und vom Strafvollzug verbunden mit
ambulanter Behandlung nicht ungefähr der gleiche Erfolg erwartet werden
darf. Die Einweisung in die Trinkerheilanstalt soll nicht als Abwehr des
Strafvollzuges missbraucht werden können, wenn sich das Behandlungsziel
etwa in gleicher Weise auch durch Vollzug der Freiheitsstrafe (mit
ambulanter Behandlung) erreichen lässt. Art. 44 StGB bezweckt nicht eine
Privilegierung der Trunksüchtigen gegenüber andern Straftätern.

    c) Je länger die Strafe, desto grösser ist die Gefahr, dass die
Anstaltseinweisung vom Betroffenen nur angestrebt wird, um eine mildere
(kürzere) Sanktion zu erreichen, auch wenn der sofortige Strafvollzug
einer wirksamen Behandlung der Trunksucht keineswegs entgegensteht. Die
Anstaltseinweisung gemäss Art. 44 StGB scheint allerdings nach dem
Gesetzestext weitgehend unbedenklich zu sein, weil der Richter stets
die Möglichkeit hat, nach der Massnahme noch einen Teil der Strafe
zu vollziehen (Art. 44 Ziff. 5 StGB). Aus pädagogischtherapeutischen
Gründen dürfte jedoch bei erfolgreicher Behandlung ein nachträglicher
Vollzug der Strafe in der Regel ausser Betracht fallen (vgl. Art. 43
Ziff. 5 Abs. 1 StGB). Bei Erfolglosigkeit des Anstaltsaufenthaltes
wird vom nachträglichen Vollzug einer aufgeschobenen Freiheitsstrafe
selten eine positive Wirkung zu erwarten sein. Bei Freiheitsstrafen von
mehreren Jahren Dauer, welche durch eine stationäre Trinkerbehandlung
nicht in befriedigender Weise "kompensiert" sein können, dürfte daher die
Einweisung in eine Trinkerheilanstalt unter Aufschub des Strafvollzuges
nur ganz ausnahmsweise in Frage kommen, sofern von dieser Massnahme ein
Resozialisierungserfolg erwartet werden darf, der sich mit dem Vollzug
der Freiheitsstrafe von vornherein nicht erreichen lässt. Wenn auch der
Gesetzgeber dem Richter nach dem geltenden Recht in dieser Beziehung keine
starren Schranken setzt, so erscheint es aus den dargelegten Gründen doch
geboten, bei schweren Strafen mit der Anwendung von Behandlungsmassnahmen
sehr zurückhaltend zu sein und einen Aufschub des Strafvollzugs nur
Platz greifen zu lassen, falls eine sofortige Behandlungsmassnahme
gute Resozialisierungschancen bietet, welche durch den Vollzug der
Freiheitsstrafe klarerweise entscheidend vermindert oder zerstört würden.

Erwägung 6

    6.- Im angefochtenen Urteil hat sich die Vorinstanz im wesentlichen
an diese Grundgedanken gehalten. Sie würdigte aufgrund der Äusserungen
der psychiatrischen Experten die Erfolgsaussichten einer stationären
Behandlung und prüfte anderseits die Möglichkeiten und Erfolgschancen
einer ambulanten Behandlung während des Strafvollzugs und einer
allfälligen Probezeit. Unter Bezugnahme auf die positive Wirkung
einer 1976/1977 durchgeführten ambulanten Behandlung (Antabus-Kur)
kam das Geschwornengericht zum Schluss, ambulante Behandlung von
S. während und nach dem Strafvollzug könne gleich erfolgversprechend
sein wie eine stationäre Behandlung in einer Trinkerheilanstalt. Diese
entscheidende Schlussfolgerung ist sachlich begründet und überschreitet
den dem Sachrichter bei der vergleichenden prognostischen Beurteilung
verschiedener Sanktionen zustehenden Ermessensspielraum nicht.

    Nach dem vorstehenden allgemeinen Erwägungen liesse sich bei einer
Zuchthausstrafe von sechs Jahren die Einweisung in eine Trinkerheilanstalt
gemäss Art. 44 StGB nur vertreten, wenn triftige Gründe dafür sprächen,
dass diese Massnahme eine Resozialisierungserfolg zu erzielen vermag,
wie er vom Strafvollzug mit ambulanter Behandlung von vornherein nicht
erwartet werden darf. Für einen solchen klaren Vorrang nach den objektiv
bewerteten Erfolgsaussichten fehlt jeder konkrete Anhaltspunkt.

    Das Geschwornengericht hat somit durch seine Wahl der Sanktion den
Art. 44 StGB nicht verletzt.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.