Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 17



107 IV 17

6. Urteil des Kassationshofes vom 20. Februar 1981 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 42 StGB. Verwahrung.

    Wenn vom Strafvollzug eine Wirkung erwartet werden darf, die in
präventiver Hinsicht den Folgen der Verwahrung mindestens gleichkommt oder
überlegen ist, darf der Richter von der Anordnung der Verwahrung absehen.

Sachverhalt

    A.- S., der vorher schon neunmal, hauptsächlich wegen Diebstahls und
damit zusammenhängender anderer Vermögensdelikte bestraft werden musste,
entwich am 18. Juli 1979 aus der Strafanstalt Lenzburg und beging in der
Folge bis zu seiner Verhaftung am 17. August 1979 zehn Einbruchdiebstähle,
sieben Entwendungen von Mofas zum Gebrauch sowie weitere Verfehlungen.

    Wegen dieser nach der Entweichung begangenen Deliktsserie wurde
S. vom Bezirksgericht Bremgarten zu 18 Monaten Zuchthaus (unbedingt)
und zu Fr. 100.- Busse verurteilt. Von einer Verwahrung gemäss Art. 42
Ziff. 1 StGB hat das Bezirksgericht ausdrücklich abgesehen.

    Das Obergericht des Kantons Aargau bestätigte auf Berufung der
Staatsanwaltschaft das erstinstanzliche Urteil und lehnte die Anordnung
der Verwahrung ebenfalls ab.

    B.- Gegen dieses Urteil führt die Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben und die Vorinstanz sei anzuweisen, S. gemäss Art. 42 StGB
auf unbestimmte Zeit zu verwahren.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Dass in objektiver Hinsicht die Voraussetzungen der Verwahrung
gegeben sind, ist unbestritten. Die Zahl der begangenen Delikte und die
Dauer der bisher ohne Resozialisierungserfolg verbüssten Freiheitsstrafen
lassen keinen Zweifel darüber offen, dass die Verwahrung in Betracht zu
ziehen ist.

Erwägung 2

    2.- Hat der Richter gemäss Art. 42 StGB die gesetzliche Möglichkeit
Verwahrung anzuordnen, so muss er nach pflichtgemässem Ermessen darüber
befinden, ob diese ultima ratio des Sanktionensystems Platz greifen soll,
oder ob - trotz der bisherigen Misserfolge des Strafvollzuges - doch noch
genügend Anhaltspunkte für eine relativ günstige Prognose bestehen. Bei
diesem Abwägen zwischen der Notwendigkeit einer die Schuldstrafe
überschreitenden Internierung zu Sicherungszwecken und dem erneuten Vollzug
einer Freiheitsstrafe sind die konkreten Umstände und Erfolgsaussichten zu
berücksichtigen. Das Bundesgericht hat es als unzulässig bezeichnet, von
einer Verwahrung abzusehen, weil der Täter sich nur zweimal in der Schweiz
strafbar gemacht habe und nach der Verbüssung der Strafe in der Schweiz
noch eine neue Bestrafung in Österreich zu erwarten habe (BGE 101 IV 267;
ähnlich 99 IV 72). Im vorliegenden Fall liess sich das Obergericht nicht
von solchen sachfremden Erwägungen leiten, sondern stützte sich auf eine
einlässliche Würdigung der Wiedereingliederungschancen.

    a) Dabei legt die Vorinstanz das Hauptgewicht auf die gute Betreuung
durch Frau D., eine 53jährige Mitarbeiterin der Heilsarmee. Die Hilfe
durch diese erfahrene Bezugsperson erachtet die Mehrheit des Obergerichts
als aussichtsreich.

    b) Als weitere positive Anhaltspunkte werden die Fortschritte im
Verhalten des Beschwerdegegners während des laufenden Strafvollzuges
erwähnt. Er zeigt jetzt mehr Selbstbeherrschung gegenüber Mitgefangenen
und Vorgesetzten. Er befasst sich mit der Gestaltung seiner Zukunft. In der
Freizeit sucht er durch Absolvierung eines Fernkurses als Radioelektriker
sich nützliches Wissen anzueignen.

    c) Das Obergericht kommt daher mehrheitlich zum Schluss, bei
Verbüssung der restlichen Freiheitsstrafe, die zu einer Entlassung im
Alter von rund 34 Jahren führen werde, bestehe gute Aussicht für die
Wiedereingliederung. Eine längere Internierungsmassnahme hingegen würde
die Resozialisierung eher erschweren und zudem beim Betroffenen die Gefahr
der Resignation mit sich bringen.

Erwägung 3

    3.- Mit dieser Argumentation hat die Vorinstanz nach persönlicher
Einvernahme des Beschwerdegegners und seiner Betreuerin einen durchaus
vertretbaren Entscheid getroffen und den Rahmen des ihr zustehenden
Ermessens nicht überschritten. Gewiss liesse sich aufgrund der
bisherigen Erfahrungen auch eine weniger optimistische Gesamtbeurteilung
begründen. Wenn aber die kantonalen Gerichte erster und zweiter Instanz
in einlässlicher Würdigung der Vorgeschichte und der jetzigen Situation
zum Schluss gekommen sind, es bestehe zur Zeit doch so viel Aussicht
auf Erfolg, dass von einer Verwahrung abgesehen werden dürfe, dann wird
durch diesen prognostischen Ermessensentscheid, der auf sachlichen Gründen
beruht, das Bundesrecht nicht verletzt.

    Art. 42 StGB sieht als äusserste Möglichkeit eine Sicherungsmassnahme
vor für jene Fälle, in denen vom Vollzug der nach Schuldprinzip
ausgefällten Freiheitsstrafen kein Erfolg zu erwarten ist. Solange aber
- trotz bisherigen Misserfolgen - vom Vollzug der neuen Strafe nach den
Umständen eine Besserung erwartet werden darf, zwingt das Bundesrecht nicht
zur Anordnung der Verwahrung. Eine zurückhaltende Anwendung von Art. 42
StGB entspricht dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung. Die in BGE 101 IV 268
enthaltene Formulierung, der Richter dürfe - bei Vorliegen der objektiven
Voraussetzungen - von der Verwahrung nur absehen, wenn er überzeugt sei,
dass schon der Vollzug der Strafe den Verurteilten dauernd vor Rückfällen
bewahren werde, ist nicht etwa im Sinne eines Grundsatzes "im Zweifel:
Verwahrung" zu verstehen. Der Richter hat im Gegenteil von der Verwahrung
abzusehen, sobald nach den Umständen vom Strafvollzug eine Wirkung erwartet
werden darf, die in präventiver Hinsicht den Folgen einer sichernden
Massnahme gemäss Art. 42 StGB mindestens gleichkommt oder überlegen ist.

    Im angefochtenen Urteil hat das Obergericht im Sinne dieser Erwägungen
zum Antrag auf Verwahrung Stellung genommen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.