Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 146



107 IV 146

41. Urteil des Kassationshofes vom 11. Mai 1981 i.S. S. gegen
Polizeirichteramt der Stadt Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 106 Abs. 3 SVG, § 15 Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes über die
Verkehrsabgaben und den Vollzug des Strassenverkehrsrechtes des Bundes
vom 11. September 1966. Kantonalrechtliche Pflicht des Fahrzeughalters
gegenüber der Polizei zur Bekanntgabe des Lenkers seines Fahrzeugs.

    Die dem Fahrzeughalter gemäss § 15 Abs. 1 des genannten zürcherischen
Gesetzes auferlegte Pflicht, der Polizei Auskunft zu geben, wer das
Fahrzeug geführt oder wem er es überlassen hat, ist ausschliesslich
strafprozessualer Natur und stellt keine der Rechtssetzungskompetenz der
Kantone entzogene Vorschrift des Strassenverkehrsrechts des Bundes dar
(E. 2b, 3).

Sachverhalt

    A.- Am 9. Juni 1979, 03.08 Uhr, stellte das automatische Messgerät
der Stadtpolizei Zürich fest, dass der Lenker des Personenautos
ZH ... auf der Frankentalerstrasse in Zürich 10 die zulässige
Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 18 km/h überschritten hatte. Mit
Verzeigungsvorbehalt wurde die als Halterin ermittelte Firma X. S.A.
beziehungsweise deren verantwortlicher Leiter, Dr. S., aufgefordert,
die Personalien des unbekannten Fahrzeuglenkers bekannt zu geben. Dieser
weigerte sich auf polizeiliche Anfrage hin, den Namen eines auswärtigen
Geschäftsfreundes, dem an diesem Abend das Automobil ausgeliehen wurde,
aus "geschäftspolitischen Gründen" zu nennen.

    B.- Der Polizeirichter der Stadt Zürich bestrafte mit Verfügung vom 16.
August 1979 Dr. S. wegen Aussageverweigerung gegenüber der Polizei mit
einer Busse von Fr. 40.-- nebst Kosten gestützt auf §§ 15 Abs. 1 und
18 des kantonalen Gesetzes über die Verkehrsabgaben und den Vollzug des
Strassenverkehrsgesetzes des Bundes vom 11. September 1966.

    Mit Urteil vom 30. April 1980 wurde diese Strafverfügung, deren
gerichtliche Beurteilung S. verlangt hatte, vom Einzelrichter in
Strafsachen am Bezirksgericht Zürich bestätigt.

    Dagegen erhob der Beschuldigte beim Obergericht des Kantons Zürich
erfolglos Nichtigkeitsbeschwerde; diese wurde von der I. Strafkammer am
3. März 1981 abgewiesen.

    C.- Gegen diesen abweisenden Entscheid führt Dr. S. eidg.
Nichtigkeitsbeschwerde und subsidiär staatsrechtliche Beschwerde. Mit
der Nichtigkeitsbeschwerde wird Aufhebung des angefochtenen Entscheides
und Rückweisung der Sache an das Obergericht zur Freisprechung des
Beschuldigten unter Kosten- und Entschädigungsfolgen beantragt.

    Das Obergericht verzichtet auf Gegenbemerkungen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, mit dem Erlass des §
15 Abs. 1 des kantonalen Gesetzes über die Verkehrsabgaben und den
Vollzug des Strassenverkehrsrechtes des Bundes, welcher eine allgemeine
Auskunftspflicht des Motorfahrzeughalters gegenüber der Polizei - bei
Zuwiderhandlung nach § 18 mit Haft oder Busse strafbar - statuiere,
habe der Kanton Zürich seine Rechtssetzungskompetenz auf dem Gebiet des
Strassenverkehrs überschritten. Die Art. 3 und 106 Abs. 2 und 3 SVG,
die die Befugnisse der Kantone in diesem Bereich abschliessend regelten,
erlaubten jenen nicht, den Haltern von Fahrzeugen zusätzliche Pflichten
zu auferlegen. Vor allem sei gemäss Art. 106 Abs. 3 SVG den Kantonen die
Zuständigkeit zum Erlass ergänzender Vorschriften über den Strassenverkehr
in bezug auf Motorfahrzeuge, Fahrräder sowie Eisenbahnfahrzeuge entzogen
worden. Mit der Anwendung des § 15 Abs. 1 des besagten Gesetzes habe die
Vorinstanz somit gegen die Art. 3 und 106 Abs. 2 und 3 SVG verstossen,
mithin eidgenössisches Recht verletzt.

    Diese Vorbringen sind im Rahmen des vorliegenden Verfahrens
zulässig. Die Rüge, zu Unrecht sei kantonales statt Bundesrecht angewendet
worden, kann mit Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben
werden. Insbesondere hat der Kassationshof zu entscheiden, ob ein
bestimmter Tatbestand infolge qualifizierten Schweigens des eidg. Rechts
auch nicht nach kantonalem Übertretungsstrafrecht geahnet werden soll (BGE
104 IV 290 E. 2, 107; 101 IV 376; 89 IV 95). Auf die Nichtigkeitsbeschwerde
ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- § 15 Abs. 1 des zürcherischen Gesetzes über die Verkehrsabgaben
und den Vollzug des Strassenverkehrsrechtes des Bundes vom 11. September
1966 lautet:

    "Der Halter eines Motorfahrzeuges oder Fahrrades ist verpflichtet, der

    Polizei Auskunft zu geben, wer das Fahrzeug geführt oder wem er es
   überlassen hat. Vorbehalten bleibt das Recht, der Polizei in
   sinngemässer

    Anwendung der Bestimmungen der Strafprozessordnung über das

    Zeugnisverweigerungsrecht die Auskunft zu verweigern."

    a) Nach Auffassung der Vorinstanz handelt es sich bei dieser Vorschrift
um eine auf die Bedürfnisse des Strassenverkehrs zugeschnittene Bestimmung
strafprozessualen Charakters. Eine effiziente Strafverfolgung auf dem
Gebiet des Strassenverkehrs erfordere, dass ihre Organe jederzeit die
nötigen Auskünfte erhalten könnten. Da die Zürcher Strafprozessordnung
der Polizei kein Recht zur Zeugeneinvernahme einräume, brauche es
strafprozessuale Normen, welche die Polizeiorgane ermächtigten, Personen
unter Aussagezwang einzuvernehmen. Der umstrittene § 15 Abs. 1 verfolge
einzig diesen strafprozessualen Zweck. Er diene der den Kantonen durch
Art. 103 Abs. 2 SVG übertragenen Strafverfolgung.

    b) Es ist unverkennbar, dass der im zweiten Satz enthaltene Hinweis
auf die sinngemässe Anwendung der strafprozessualen Bestimmungen über
das Zeugnisverweigerungsrecht § 15 Abs. 1 formell und materiell als
prozessrechtliche Norm charakterisiert. Er umschreibt lediglich die
Stellung und Bedeutung des Fahrzeughalters als Beweismittel in einem
Strafverfahren, das gegen den unbekannten Lenker seines Fahrzeugs
geführt wird. Hingegen enthält diese kantonale Norm keine zusätzlichen,
allein dem Strassenverkehrsrecht des Bundes vorbehaltenen Bestimmungen,
wie der Beschwerdeführer behauptet. Verkehrsvorschriften sind Regeln,
welche das Verhalten eines Verkehrsteilnehmers gegenüber anderen auf den
Verkehrswegen befindlichen Personen ordnen (SCHULTZ, Rechtsprechung und
Praxis zum Strassenverkehrsrecht in den Jahren 1973-1977, S. 209). Die
dem Fahrzeughalter auferlegte kantonalrechtliche Pflicht, der Polizei
über bestimmte Punkte Auskunft zu geben, stellt zweifelsohne keine
Verkehrsvorschrift im genannten Sinne dar. Vielmehr legt § 15 Abs. 1 eine
dem kantonalen Strafverfahrensrecht eigene Beweisführungsart fest. Wie
das Verfahren zur Vernehmung des Auskunftspflichtigen zum eigentlichen
Zeugenverhör abgegrenzt wird, steht - unter Wahrung verfassungsmässiger
Grundsätze - im Belieben des zur Prozessrechtssetzung befugten Kantons
(vgl. ROBERT HAUSER, Der Zeugenbeweis im Strafprozess mit Berücksichtigung
des Zivilprozesses, 1974, S. 47-52, S. 85/86; HANSJÖRG TARNUTZER,
Die Stellung des Beschuldigten im Bündner Strafprozess, 1972, S. 24)
und könnte im übrigen mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde nicht
beanstandet werden.

Erwägung 3

    3.- Ist aber § 15 Abs. 1 des Gesetzes über die Verkehrsabgaben und
den Vollzug des Strassenverkehrsrechts des Bundes nach dem Gesagten
ausschliesslich strafprozessualer Natur, hält die darin aufgestellte
Aussagepflicht des Motorfahrzeughalters bzw. deren strafrechtliche
Sanktionierung vor dem Bundesrecht stand. Art. 335 Abs. 2 StGB behält den
Kantonen die Befugnis vor, die Übertretung kantonaler Prozessvorschriften
mit Strafe zu bedrohen. Diese Kompetenz wird durch die einschlägigen
Bestimmungen des Strassenverkehrsrechts des Bundes in keiner Weise
eingeschränkt. Weder Art. 3 noch Art. 106 Abs. 2 und 3 SVG enthalten
Vorschriften, welche die den Kantonen auch im Verkehrswesen obliegende
Strafverfolgung (Art. 103 Abs. 2 SVG) betreffen oder den am Strafverfahren
zu beteiligenden Personenkreis irgendwie begrenzen. Auch bedeutet das
Fehlen entsprechender eidgenössischer Bestimmungen nicht, dass die
Verweigerung der Aussagepflicht nicht zum Gegenstand eines kantonalen
Übertretungstatbestandes gemacht werden dürfte; in den angeblich verletzten
SVG-Bestimmungen ist kein qualifiziertes Schweigen in dem Sinne erkennbar,
dass das fragliche, vom Kanton Zürich unter Strafe gestellte Verhalten
überhaupt straflos zu bleiben hat.

Erwägung 4

    4.- Mit dem Erlass der streitigen kantonalen Strafnorm wurde der
Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts demnach nicht
verletzt. Daher ist gegen die im angefochtenen Urteil gestützt auf §
15 Abs. 2 des Gesetzes über die Verkehrsabgaben und den Vollzug des
Strassenverkehrsrechts des Bundes ausgefällte Busse jedenfalls von
Bundesrechts wegen nichts einzuwenden. Die Beschwerde erweist sich als
unbegründet und ist abzuweisen.