Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 130



107 IV 130

36. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. September
1981 i.S. G. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 308 Abs. 1 StGB. Berichtigung einer falschen Aussage.

    Die Anwendung von Art. 308 Abs. 1 StGB setzt nicht voraus, dass
der Zeuge seine falsche Aussage noch anlässlich derselben Einvernahme
berichtigt hat.

    Nur wenn vor der Berichtigung aus eigenem Antrieb ein Rechtsnachteil
tatsächlich eingetreten ist, fällt eine Strafmilderung gemäss dieser
Bestimmung ausser Betracht; die Möglichkeit von Rechtsnachteilen zwischen
Falschaussage und Berichtigung genügt nicht.

Sachverhalt

                    Gekürzter Sachverhalt:

    Am 28. Februar 1980 sagte G. auf die Frage des Untersuchungsrichters,
ob er wisse, dass V. dem Angeschuldigten T. ein Darlehen gewährt habe, aus:

    "Davon wusste ich. T. hat mir anfangs Juli davon erzählt. Nach Aussage
   von T. handelte es sich um den Betrag von Fr. 40'000.--. Über die

    Verwendung dieses Geldes hat mir T. nichts gesagt."

    Diese Zeugeneinvernahme wurde vom Untersuchungsrichter deutsch
protokolliert und dem italienisch sprechenden G. in seiner Muttersprache
übersetzt vorgelesen.

    Am 22. April 1980 sagte G. vor dem Untersuchungsrichter wiederum aus:

    "T. mi dichiarava una volta nel suo appartamento di aver ricevuto

    40'000.-- fr. in prestito dal signor V. Questa comunicazione il T. me
   l'aveva fatta prima delle mie vacanze estive. In questo periodo non
   avevo ancora parlato con il V. in merito al prestito."

    Am 5. Mai 1980 gab G. im Anwaltsbüro W. schriftlich zwei Erklärungen
ab, in denen er ausführte, seine Zeugenaussagen entsprächen nicht in allen
Teilen der Wahrheit. Er behauptete, er habe auf Drängen von V. als Zeuge
ausgesagt, T. habe von V. ein Darlehen von Fr. 40'000.-- erhalten.

    Am 28. Mai 1980 wurde gegen G. eine Strafuntersuchung wegen
falschen Zeugnisses eröffnet. Anlässlich seiner Einvernahme durch den
Untersuchungsrichter sagte G. am 20. Juni 1980 als Angeschuldigter aus,
die Angaben, die er über dieses angebliche Darlehen und die Darlehenssumme
gemacht habe, stammten von V.

    Der Ausschuss des Kantonsgerichts von Graubünden sprach G. am 4. März
1981 des fortgesetzten falschen Zeugnisses gemäss Art. 307 Abs. 1 StGB
schuldig und bestrafte ihn mit acht Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar
bei einer Probezeit von drei Jahren. Im Unterschied zur ersten Instanz
ging der Kantonsgerichtsausschuss davon aus, dass auch G.'s in deutscher
Sprache protokollierte Aussage vom 28. Februar 1980 den Tatbestand von
Art. 307 Abs. 1 StGB erfülle. Da dieses falsche Zeugnis in die Probezeit
fiel, welche durch Urteil des Kreisgerichtsausschusses Unter-Tasna
vom 30. März 1978 angesetzt worden war, ordnete das Kantonsgericht den
Vollzug der mit diesem Urteil ausgefällten Gefängnisstrafe von 3 Monaten
(wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand, fahrlässiger Körperverletzung,
grober Verletzung von Verkehrsregeln) an.

    G. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid
des Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben und die Sache sei
zur Freisprechung, eventuell zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz vor, sie habe Art. 308
Abs. 1 StGB zu Unrecht nicht angewendet. Nach dieser Bestimmung kann der
Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern oder von einer Bestrafung
Umgang nehmen, wenn der Täter seine falsche Aussage aus eigenem Antrieb
und bevor durch sie ein Rechtsnachteil für einen andern entstanden ist,
berichtigt.
   a) Das Kantonsgericht setzt sich mit der Frage, ob G. seine
Aussagen "aus eigenem Antrieb" berichtigt habe, nicht auseinander,
sondern es führt lediglich aus, die Berichtigung sei nicht rechtzeitig
erfolgt. Es stehe fest, dass G. seine falsche Aussage nicht während der
gleichen Einvernahme, sondern erst wesentlich später berichtigt habe; für
die Zeit zwischen der falschen Aussage und der Berichtigung habe T. somit
mit Rechtsnachteilen rechnen müssen, zumal gegen ihn ein Strafverfahren
anhängig gewesen sei.

    b) Die vorinstanzlichen Erwägungen genügen nicht, um die Anwendung
von Art. 308 Abs. 1 StGB auszuschliessen. Diese Bestimmung setzt nicht
voraus, dass der Zeuge seine falschen Aussagen noch während der gleichen
Einvernahme berichtige. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist
die Straftat des falschen Zeugnisses erst vollendet, wenn die Einvernahme
nach den Vorschriften des Prozessrechts beendet ist (BGE 80 IV 123,
nicht publiziertes Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember 1964
i.S. B. c. F.; s. auch BGE 85 IV 30 und 95 IV 79). Berichtigt der Zeuge
seine falsche Aussage noch anlässlich derselben Einvernahme, so ist
der Tatbestand des falschen Zeugnisses jedenfalls nicht vollumfänglich
erfüllt. Art. 308 Abs. 1 StGB setzt aber gerade voraus, dass das falsche
Zeugnis vollendet sei (STRATENWERTH, Bes. Teil Bd. II, S. 324 oben;
SCHWANDER, Das Schweiz. Strafgesetzbuch, Nr. 767a; HAFTER, Bes. Teil,
S. 793; LOGOZ, Commentaire, N. 2a zu Art. 308; SCHULTZ, ZStR 73/1958
S. 262). Die Anwendung von Art. 308 Abs. 1 StGB kann demnach nicht mit
der Begründung abgelehnt werden, die falsche Aussage sei nicht anlässlich
derselben Einvernahme berichtigt worden.

    Auch das weitere Argument der Vorinstanz, T. habe in der Zeit
zwischen Falschaussage und Berichtigung mit Rechtsnachteilen rechnen
müssen, reicht nicht aus. Bei jeder falschen Aussage, die sich nicht
auf eine sofort als unwesentlich erkannte Tatsache bezieht, besteht
die Möglichkeit von Rechtsnachteilen. Wollte man der Argumentation der
Vorinstanz folgen, so bliebe, wie der Beschwerdeführer zutreffend geltend
macht, für die Anwendung von Art. 308 Abs. 1 StGB, der die Berichtigung
von Falschaussagen im Interesse der Wahrheitsfindung erleichtern will,
praktisch kein Raum. Das Gesetz verlangt, dass die Berichtigung erfolge,
bevor für einen andern ein Rechtsnachteil entstanden sei ("avant qu'il
en soit résulté un préjudice pour les droits d'autrui", "prima che ne sia
risultato un pregiudizio dei diritti altrui"). Gewiss ist der Begriff des
"Rechtsnachteils" im Sinne von Art. 308 Abs. 1 StGB verhältnismässig weit
zu fassen; die vage Möglichkeit eines - übrigens nicht näher bezeichneten
- Rechtsnachteils genügt aber nicht. Das angefochtene Urteil enthält
keine Ausführungen darüber, welche Rechtsnachteile durch die falschen
Aussagen des Beschwerdeführers für andere tatsächlich entstanden sind,
ob und inwiefern etwa die Untersuchung gegen V. und Konsorten durch
das falsche Zeugnis des Beschwerdeführers tatsächlich verlängert wurde,
ob sich V. und Konsorten infolge des falschen Zeugnisses neuen Verhören
unterziehen mussten usw. Auch dem erstinstanzlichen Urteil kann zu dieser
Frage nichts entnommen werden; das Kreisgericht Oberengadin führt lediglich
aus, ein Rechtsnachteil für T. in der Zeit zwischen Falschaussage und
Berichtigung könne "nicht ganz verneint werden, da gegen diesen (ein)
Gerichtsverfahren anhängig war".

    c) Fehlen somit im angefochtenen Urteil tatsächliche Feststellungen,
die den Schluss auf einen Rechtsnachteil im umschriebenen Sinne zulassen,
so ist die Sache gemäss Art. 277 BStP an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie die entsprechenden Abklärungen vornehme. Sollte sich
herausstellen, dass die Tat des Beschwerdeführers keine Rechtsnachteile
für andere im umschriebenen Sinne zur Folge hatte, so wird die Vorinstanz
zu prüfen haben, ob und inwieweit die Strafe in Anwendung von Art. 308
Abs. 1 StGB zu mildern oder ob von Strafe Umgang zu nehmen sei. Dabei wird
das Kantonsgericht namentlich auch die Beweggründe des Beschwerdeführers
zur falschen Aussage einerseits und zu deren Berichtigung anderseits,
die im angefochtenen Urteil nicht genannt werden, berücksichtigen müssen.