Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 12



107 IV 12

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Januar
1981 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen
S. (Nichtigkeitsbeschwerde). Regeste

    Art. 33 StGB. Gezielte Schussabgabe auf einen flüchtigen Dieb.

    1. Notwehrlage. Der Angriff auf das Eigentum und seine Abwehr im Sinne
von Art. 33 StGB dauern an, solange der Berechtigte und der Angreifer
unmittelbar im Anschluss an die Tat um den Gewahrsam an der Sache streiten
(E. 2).

    2. Angemessene Abwehr. Eine einfache Körperverletzung kann im Falle
eines schwerwiegenden Angriffs auf das Eigentum gerechtfertigt sein. Zur
Abwehr ist auch die Verwendung eines an sich gefährlichen Werkzeugs
zulässig, wenn der Abwehrende dieses aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten
verhältnismässig einsetzen kann (E. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- S. (geb. 1949) betreibt in Basel eine Wechselstube und ein
Münzengeschäft, in dem sich der Tresor für beide Geschäfte befindet. Am 12.
Oktober 1978 packte er nach Geschäftsschluss, ca. um 19.55 Uhr, Banknoten
und Münzen in eine Mappe, um sie im Tresor zu verwahren. Als er mit beiden
Händen das Scherengitter der Wechselstube schliessen wollte und die Mappe
daher für einen Augenblick zwischen seinen Füssen und dem Gitter abstellte,
wurde diese von M. (geb. 1960), der sich von hinten angeschlichen hatte,
weggerissen. M. rannte mit der Mappe davon. S., der zu seinem Schutz
meistens eine Pistole auf sich trägt, schrie zuerst "Halt" und gab, als
dies nichts nützte, einen Warnschuss in die Luft ab. Zugleich machte er
sich an die Verfolgung des flüchtigen Diebs. Ein Passant schloss sich
ihm bei der Verfolgung an. Er rief ebenfalls laut "Halt, Polizei, stehen
bleiben". S. gab einen zweiten und kurz darauf einen dritten Warnschuss
ab. M. hörte die Rufe und Schüsse, glaubte sogar, es werde gezielt auf
ihn geschossen, setzte aber gleichwohl seine Flucht mit der Geldmappe
fort. Andere Personen, die M. hätten aufhalten können, waren nicht in
Sicht. Langsam vergrösserte sich der Vorsprung des flüchtigen Diebes. Als
S. erkannte, dass der Dieb ihm mit der Beute entwischen werde, blieb er
stehen und gab auf 10-15 m einen gezielten Schuss auf den Unterschenkel des
M. ab. Dieser wurde getroffen, liess die Mappe fallen und flüchtete hinkend
weiter. S. ergriff die Mappe und verfolgte den Dieb nicht weiter. M. konnte
jedoch in der Folge verhaftet werden. Er hatte einen leichten Streifschuss
aussen am linken Unterschenkel erlitten, der komplikationslos heilte.

    Die Mappe enthielt Werte von insgesamt ca. Fr. 53'000.-, was dem
Verdienst des S. während 1 1/2 bis 2 Jahren entsprach. Die Werte waren
nicht versichert und nicht versicherbar.

    S. ist ein geübter Schütze. Ein später unter Mitwirkung der Polizei
durchgeführtes Probeschiessen unter analogen Bedingungen ergab, dass von
ca. 15 bei Dunkelheit auf 15-20 m abgegebenen Schüssen keiner auf Kniehöhe
oder darüber einschlug.

    B.- Das Strafgericht Basel-Stadt verurteilte am 25. September 1979
S. wegen einfacher Körperverletzung, begangen in Überschreitung der Grenzen
der Notwehr, zu zehn Tagen Haft mit bedingtem Vollzug. Auf seine Berufung
hin sprach ihn das Appellationsgericht am 24. September 1980 frei.

    C.- Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt verlangt mit
Nichtigkeitsbeschwerde, S. sei entsprechend dem Urteil des Strafgerichts
Basel-Stadt schuldig zu sprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Parteien und die kantonalen Instanzen gehen übereinstimmend
davon aus, dass sich der Beschwerdegegner noch in einer Notwehrlage
befand, als er auf den flüchtigen Dieb schoss. Ob diese rechtliche
Würdigung des Sachverhalts zutrifft, ist eine Rechtsfrage, die im
Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde von Amtes wegen zu prüfen ist,
nachdem sinngemäss Rückweisung zur Verurteilung des Beschwerdegegners
wegen einfacher Körperverletzung verlangt wird.

    Die kantonalen Gerichte berufen sich für ihre Auffassung auf
STRATENWERTH (Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Aufl., S. 136 N. 420),
SCHÖNKE/SCHRÖDER (Strafgesetzbuch, Kommentar, 20. Aufl., § 32 N. 15)
und BGE 102 IV 6, unter Ablehnung der gegenteiligen Meinung von DUBS
(Notwehr, ZStR 89/1973 S. 344).

    Der Angriff auf das Eigentum eines andern ist in der Tat nicht
notwendigerweise schon dann abgeschlossen, wenn der Täter die fremde Sache
in Händen hat; dass der Diebstahl allenfalls in diesem Moment vollendet
ist (was hier nicht geprüft werden muss), ist unerheblich. Der Angriff
auf das Eigentum und seine Abwehr im Sinne von Art. 33 StGB dauern an,
solange der Berechtigte und der Angreifer unmittelbar im Anschluss an die
Tat um den Gewahrsam an der Sache streiten, sei es handgreiflich, sei es,
dass der Berechtigte den Dieb sofort verfolgt und ihm die Beute wieder
abzunehmen versucht. Wie es sich verhält, wenn das Opfer den Täter nicht
unmittelbar im Anschluss an die Tat verfolgt (sei es, weil es diese nicht
sogleich bemerkte, sei es, dass es aus irgendeinem Grunde an der sofortigen
Verfolgung des Täters verhindert ist oder ihm diese vorerst zwecklos
erscheint), sondern ihn mit dem Diebesgut erst später auf Nachforschungen
hin oder zufällig antrifft, braucht hier nicht entschieden zu werden. Im
vorliegenden Fall hat das Opfer sofort die Verfolgung des Täters zwecks
Wiedererlangung des Diebesgutes aufgenommen. S. war dem Dieb auf den Fersen
und hat ihn nicht aus den Augen verloren. Die Schussabgabe erfolgte kurz
nachdem M. die Mappe an sich gerissen und die Männer eine Strecke von
rund 110 m zurückgelegt hatten. S. sah von jeder weiteren Verfolgung ab,
als M. die Mappe fallen liess. Die dem Beschwerdegegner zur Last gelegte
Tat steht zu jener des M. in einem derart engen Zusammenhang, dass sie
im Sinne von Art. 33 StGB als Abwehr gegen den unberechtigten Angriff zu
qualifizieren ist. Es wäre lebensfremd, anzunehmen, das Opfer könne sich
von dem Augenblick an nicht mehr auf Notwehr berufen, in dem der Angreifer
die umkämpfte Sache in Händen und sich einige Meter vom Opfer entfernt hat.

    Die kantonales Behörden haben demnach die Notwehrlage zu Recht bejaht.

Erwägung 3

    3.- Wer ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff
bedroht wird, ist berechtigt, den Angriff in einer den Umständen
angemessenen Weise abzuwehren.

    a) Nach der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung muss die Abwehr
nach der Gesamtheit der Umstände als verhältnismässig erscheinen. Zu prüfen
sind dabei namentlich die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und
die Abwehr bedrohten Rechtsgüter, die Art des Abwehrmittels und dessen
tatsächliche Verwendung (BGE 102 IV 68 E. 2a mit Verweisungen; SCHULTZ,
Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. I, S. 147 f.,
NOLL, Die Rechtfertigungsgründe im Gesetz und in der Rechtsprechung,
ZStR 80/1964 S. 160 ff., insbesondere S. 165, DUBS, aaO, S. 348 f.). Die
Angemessenheit der Abwehr ist dabei aufgrund jener Situation zu beurteilen,
in welcher sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner Tat
befand; es dürfen nicht nachträglich von den Behörden allzu subtile
Überlegungen darüber angestellt werden, ob der Angegriffene sich nicht
allenfalls auch mit anderen, weniger einschneidenden Massnahmen hätte
begnügen können und sollen (DUBS, aaO, S. 347).

    b) Besondere Zurückhaltung ist geboten bei der Abwehr mit gefährlichen
Werkzeugen, deren Verwendung stets die Gefahr schwerer oder gar
tödlicher Verletzungen mit sich bringt (Messer, Beile, Schusswaffen,
etc.). Angemessen ist die Abwehr, wenn der Angriff nicht mit andern
weniger gefährlichen und zumutbaren Mitteln hätte abgewendet werden
können, der Täter womöglich gewarnt worden ist und der Abwehrende
vor Einsatz des gefährlichen Werkzeuges das Nötige zur Vermeidung
einer übermässigen Schädigung vorgekehrt hat. Auch ist eine Abwägung
der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter unerlässlich. Doch muss deren
Ergebnis für den Angegriffenen, der erfahrungsgemäss rasch handeln muss,
mühelos erkennbar sein. In dieser Sicht ist die Abwehr, die zu dauernder
Verstümmelung oder zum Tode führen kann, in der Regel unangemessen, wenn
sich der rechtswidrige Angriff allein gegen Eigentum und Vermögen richtet.

Erwägung 4

    4.- Im Gegensatz zum Strafgericht nimmt die Vorinstanz an, dass dem
Beschwerdegegner keine anderen Abwehrmittel mehr zur Verfügung standen, als
er den gezielten Schuss abgab. Er vermochte den Täter nicht einzuholen;
im Gegenteil war der Abstand auf der Verfolgungsstrecke von rund 110 m
langsam angewachsen. Der ihm zu Hilfe geeilte St. rannte noch etwas weniger
schnell. Zurufe und Warnschüsse waren erfolglos geblieben. Es war bereits
dunkel und die Gefahr, dass M. bei Fortsetzung der Verfolgung plötzlich
ausser Sicht kam oder dass der Beschwerdegegner nach noch längerer Hetzjagd
und bei grösserem Abstand nicht mehr zielsicher schiessen konnte, nahm
zu. Die einzige Möglichkeit des Beschwerdegegners war die Abgabe eines
gezielten Schusses, der geeignet war, dem Dieb die Fortsetzung der
Flucht mitsamt der Beute zu erschweren. Auf dem Spiel standen dabei
einerseits ein nicht versicherter und nicht versicherbarer Betrag,
der nahezu dem Einkommen entsprach, das S. in zwei Jahren verdienen
konnte, anderseits eine leichte bis mittelschwere Schussverletzung des
Unterschenkels des Flüchtigen. Die Vorinstanz berücksichtigt zutreffend
den Umstand, dass der Beschwerdegegner, wie sich bei einem Probeschiessen
herausstellte, ein überdurchschnittlich treffsicherer Schütze ist und
dass daher, wie S. wusste, die Gefahr einer schweren Körperverletzung
(etwa Zerschmetterung eines Knies) oder gar einer Tötung des Diebes bei
den konkreten Gegebenheiten nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen
war. Unter diesen Umständen war die gezielte Schussabgabe, durch
welche unbestrittenermassen keine unbeteiligten Personen gefährdet
wurden, ein angemessenes Mittel zur Abwehr des dreisten Angriffs auf
das Eigentum. Die Auffassung der Staatsanwältin, der Beschwerdegegner
habe zur Verteidigung seines Eigentums den Dieb nicht verletzen dürfen,
schränkt das Notwehrrecht in unzumutbarer Weise ein. Eine einfache
Körperverletzung kann im Falle eines schwerwiegenden Angriffs auf das
Eigentum gerechtfertigt sein. Dass zu dieser einfachen Körperverletzung
ein Mittel verwendet wird, welches üblicherweise die Gefahr einer -
unverhältnismässigen - schweren Körperverletzung oder gar einer Tötung
in sich birgt, kann dem Abwehrenden dann nicht angelastet werden, wenn
dieser aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten imstande ist, das Werkzeug
verhältnismässig einzusetzen. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, welche
"milderen" Mittel S. zur Verteidigung seines Eigentums noch zur Verfügung
standen. Der Verzicht auf die weitere Verfolgung des Diebes könnte dem
Beschwerdegegner selbst dann nicht vorgeworfen werden, wenn man annehmen
wollte, dass M. bei einer weiteren Verfolgung seine Beute eventuell fallen
gelassen hätte oder dass er vom Beschwerdegegner doch noch hätte eingeholt
oder möglicherweise von Passanten oder einem Polizisten hätte angehalten
werden können. Wie bereits angedeutet darf dem Abwehrenden keinesfalls jene
kühle Abwägung der gesamten Umstände und Möglichkeiten zugemutet werden,
welche den Behörden bei der nachträglichen Beurteilung seines Verhaltens
allenfalls möglich ist (vgl. auch SCHULTZ, aaO, S. 149 oben).

    Die Vorinstanz hat daher kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die
Abwehr S. unter den gegebenen Umständen als angemessen wertete.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.