Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 113



107 IV 113

33. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. September 1981 i.S. A.
und Kons. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 181, 286 StGB; Nötigung; Hinderung einer Amtshandlung.

    1. "Andere Beschränkung" der Handlungsfreiheit verneint in einem
Fall relativ kurzfristigen, weder mit einer bestimmten Forderung noch mit
irgendwelchen Drohungen verbundenen Verweilens einer Gruppe von Studenten
in einer Fakultätssitzung (Erw. 3).

    2. Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) hingegen bejaht
(Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 5. Juli 1979 ca. 20.30 Uhr sollte in der Universität Bern
eine Sitzung der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät
stattfinden. Es war vorgesehen, ein neues Studien- und Prüfungsreglement
der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung zu beraten. Gegen den Entwurf
des Reglementes bestand unter den Studenten Opposition. Im Hinblick
auf dieses Traktandum war durch Flugblätter zu einer Versammlung der
Studenten aufgerufen worden. Um 18.30 trafen sich etwa 80 Studenten im
Universitätsgebäude und beschlossen, dass eine 20 köpfige Delegation in
der Fakultätssitzung vorsprechen und eine vorbereitete Erklärung über
ihre Forderung nach paritätischer Mitbestimmung verlesen sollte. Als nach
einer vorangehenden Promotionssitzung der Dozenten gegen 20.30 Uhr die
ordentlichen Studenten- und Assistentenvertreter für die anschliessende
Sitzung der erweiterten Fakultät den Sitzungsraum betreten konnten,
verlangte auch die ad hoc gebildete Delegation von zwanzig Studenten
Einlass. Nach einer kurzen Diskussion an der Türe wurde ihnen der Eintritt
nicht verwehrt. Die Studenten brachten Sitzgelegenheiten mit, nahmen
Platz und überreichten Blumen. Der sitzungsberechtigte Studentenvertreter
S. verlas hierauf eine Erklärung, in welcher vor allem die Bildung einer
gemischten (paritätischen) Kommission zur Ausarbeitung des umstrittenen
Prüfungsreglementes gefordert wurde.

    Nach dem Verlesen der Erklärung forderte der Dekan, Prof. B., die
zwanzigköpfige Delegation auf, das Sitzungszimmer nunmehr zu verlassen;
er unterstrich diese Aufforderung dadurch, dass er die Studentin J. am Arm
hinausführen wollte. Zwei Professoren, die an die Adresse der Studenten
Bemerkungen machten, wurde vom Dekan Schweigen geboten. Obschon damit
klargestellt war, dass der Vorsitzende die von den Studenten gewünschte
Diskussion nicht erlaubte, traf die Delegation keine Anstalten, den Saal
gemäss Aufforderung zu verlassen.

    Der Dekan brach darauf die Sitzung ab. Gemäss den von ihm getroffenen
Vorbereitungen dislozierten die Dozenten, mit Ausnahme der Professoren
W. und I., ins Obergerichtsgebäude, wo die Sitzung ca. um 21.00 Uhr,
10 bis 15 Minuten nach dem Abbruch im Universitätsgebäude, wieder
aufgenommen werden konnte. Im Plenarsaal fand die vorgesehene zweite
Lesung des umstrittenen Reglementes statt.

    B.- Wegen dieses Vorfalles vom 5. Juli 1979 wurde in Bern ein
gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren durchgeführt.

    a) Zehn Studenten, die festgestelltermassen als Angehörige der
Delegation den Sitzungsraum betreten haben und der Aufforderung des
Dekans zum Verlassen der Sitzung keine Folge leisteten, verurteilte der
Gerichtspräsident VII von Bern wegen Hinderung einer Amtshandlung zu
je einer Busse von Fr. 50.-- und sprach sie von der Anschuldigung der
Nötigung frei.

    b) Auf Appellation der Verurteilten und der Staatsanwaltschaft
überprüfte das Obergericht den Entscheid des Gerichtspräsidenten
vollumfänglich. Es erklärte mit Urteil vom 19. Dezember 1980 die zehn
Angeklagten der Nötigung schuldig und verurteilte sie zu je einer Busse
von Fr. 200.--. Den Tatbestand der Hinderung einer Amtshandlung hielt es
ebenfalls für erfüllt, nahm aber an, Art. 286 StGB gehe in der Nötigung
auf, es bestehe keine Idealkonkurrenz.

    C.- Die zehn verurteilten Studenten führen gegen den Entscheid
des Obergerichtes vom 19. Dezember 1980 Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Begehren, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur
Freisprechung der Angeklagten an die kantonale Behörde zurückzuweisen.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt Abweisung der
Nichtigkeitsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Schuldspruch wegen Nötigung bezieht sich ausschliesslich
auf die Tatsache, dass die Angeklagten nach Verlesen der vorbereiteten
Erklärung der Aufforderung des Dekans zum Verlassen des Sitzungsraumes
nicht Folge leisteten und dadurch die Aufnahme der Beratungen der
erweiterten Fakultät hinderten. Die Schilderung der diesem unberechtigten
Verweilen im Sitzungsraum vorangehenden und nachfolgenden Ereignisse
(Flugblätter, Betreten des Sitzungsraumes, Verwendung von Lautsprechern
usw.) bildet nicht Gegenstand der Verurteilung, sondern dient der
Darstellung des "Umfeldes", in welchem sich der inkriminierte Sachverhalt
abspielte.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht kam zum Schluss, durch das Verweilen im
Sitzungsraum der Fakultät hätten die Angeklagten, die in der Mehrzahl
waren - 20 Studenten gegen 17 Dozenten -, die Handlungsfähigkeit
der Dozenten stark eingeschränkt und die ordentliche Abwicklung der
Sitzung im vorgesehenen Sitzungszimmer zur vorgesehenen Zeit praktisch
verunmöglicht. Das übliche Mass der zulässigen Beeinflussung sei damit bei
weitem überschritten worden, die Aktion müsse von den gewählten Mitteln
her als nötigend im Sinne von Art. 181 StGB qualifiziert werden.

    a) Nach den massgebenden Feststellungen der Vorinstanz haben die
Angeklagten nicht Gewalt angewendet oder ernstliche Nachteile angedroht,
um ihrer Forderung nach Diskussion Nachdruck zu verleihen; das unerlaubte
Verbleiben im Sitzungsraum wird unter die subsidiäre Klausel des Art. 181
StGB subsumiert und als "andere Beschränkung der Handlungsfreiheit"
zu den Nötigungsmitteln gerechnet.

    b) Die gefährlich weite Formulierung des Gesetzes muss aus
rechtsstaatlichen Gründen einschränkend interpretiert werden
(vgl. STRATENWERTH I S. 92 f.). In BGE 101 IV 169 wurde bereits
hervorgehoben, dass nicht jeder noch so geringfügige Druck auf die
Entscheidungsfreiheit eines andern zur Bestrafung führen könne: "Vielmehr
muss das verwendete Zwangsmittel das üblicherweise gedultete Mass der
Beeinflussung in ähnlicher Weise eindeutig überschreiten, wie es für die
vom Gesetz ausdrücklich genannte Gewalt oder die Androhung ernstlicher
Nachteile gilt." Als Beispiele solcher anderer Nötigungsmittel werden meist
Narkose, Betäubung, schwerer Rausch, Hypnose, sowie Blendung mit Licht,
Ausnützung von Verblüffung oder Erschrecken genannt (BGE 101 IV 169/170;
STRATENWERTH aaO). Als andere Beschränkung der Handlungsfreiheit hat
der Kassationshof im erwähnten Präjudiz auch die massive akustische
Verhinderung eines Vortrages durch organisiertes und mit Megaphon
unterstütztes Schreien gewertet. Die Gleichstellung des organisierten
Niederschreiens mit der eigentlichen Gewaltanwendung wurde dort einlässlich
begründet, insbesondere auch unter Berücksichtigung der lähmenden Wirkung
auf direkt Betroffene.

    c) In vorliegenden Fall fehlen tatsächliche Elemente, welche es
rechtfertigen könnten, das Vorgehen der Studenten mit einer Gewaltanwendung
oder der Androhung ernstlicher Nachteile gleichzustellen. Die
Beschwerdeführer verliessen den Sitzungsraum nicht. Damit hinderten
sie faktisch die reguläre Durchführung der Sitzung. Was sie von diesem
Teil ihrer Aktion erwarteten, ist im angefochtenen Entscheid nicht
klar festgestellt. Offenbar hofften sie, es komme doch noch zu einer
Diskussion mit den Dozenten, wenn die Delegation einfach nicht weggehe. Mit
ihrem Verhalten übten die Beschwerdeführer einen gewissen Druck aus. Das
Sitzenbleiben während 5-10 Minuten ohne jede Gewaltanwendung und ohne
Drohung stellt jedoch kein Nötigungsmittel dar.

    Eine oder mehrere Personen, die ein Begehren vorgetragen haben und
nachher - trotz Aufforderung - den Besprechungsraum nicht verlassen,
um durch ihre weitere Anwesenheit eine Diskussion herbeizuführen,
erfüllen den Tatbestand des Art. 181 StGB nicht. Der Druck, der auf
diese Weise ausgeübt wird, erreicht jene Intensität nicht, welche
die Strafwürdigkeit im Sinne von Art. 181 StGB begründen könnte. Die
angestrebte geringfügige Beschränkung der Handlungsfreiheit kann sich
konkret nur auf die Möglichkeit der freien Verfügung über den Zeitraum der
unerwünschten Anwesenheit der Täter beziehen. Ein eigentlicher Zwang zur
Diskussion oder gar zu bestimmten Entscheidungen im Sinne der vorgetragenen
Begehren ergibt sich aus dem blossen Verweilen im Sitzungsraum nicht. Im
vorliegenden Fall fehlt denn auch jeder schlüssige Anhaltspunkt dafür, dass
die anwesenden Dozenten unter den gegebenen Umständen die stillschweigende
Weigerung der Delegation als ein schwerwiegendes, der Gewaltanwendung oder
Androhung ernstlicher Nachteile gleichkommendes Druckmittel empfunden
hätten. Auf Anordnung des Dekans wurde die Sitzung nach kurzer Zeit
unterbrochen und in ein anderes Gebäude verlegt. Die Beschwerdeführer
haben nicht versucht, dieses vorbereitete Ausweichen zu hindern oder zu
stören. Ob es auch möglich gewesen wäre, die Sitzung am ursprünglichen
Sitzungsort durchzuführen oder ob es dann zu einer Konfrontation mit
Gewaltanwendung gekommen wäre, kann hier offen bleiben. Auf jeden Fall
ist das relativ kurzfristige, weder mit einer bestimmten Forderung, noch
mit irgendwelchen Drohungen verbundene Verweilen im Sitzungsraum keine
Nötigungshandlung. Das üblicherweise geduldete Mass der Beeinflussung wird
zwar durch das unerlaubte Verweilen im Sitzungsraum wohl geringfügig
überschritten, aber bei weitem nicht derart, dass das Vorgehen als
Nötigung zu qualifizieren und somit der Gewaltanwendung oder der Androhung
ernstlicher Nachteile gleichzustellen wäre.

Erwägung 4

    4.- Muss der Schuldspruch wegen Nötigung aus diesen Erwägungen
aufgehoben werden, so stellt sich die Frage, ob eine Bestrafung wegen
Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) in Betracht kommt.

    a) Die Fakultät ist eine Behörde. Die Durchführung der Sitzung
einer Behörde stellt eine Amtshandlung dar, welche durch Art. 286
gegen Hinderung strafrechtlich geschützt ist. Wie sich bereits aus
der vorstehenden Erwägung ergibt, hat die Studentendelegation durch ihr
Verweilen im Sitzungsraum die reguläre Durchführung der Sitzung gehindert,
während ca. 15 Minuten sogar verhindert. Dass ihr Verhalten diese Folge
haben werde, war den Beschwerdeführern klar, und sie nahmen die Hinderung
einer behördlichen Handlung zumindest in Kauf. Die Vorinstanz hat daher
zu Recht festgestellt, dass Art. 286 StGB erfüllt sei.

    b) Ob die Konkurrenzfrage Art. 286/181 StGB im angefochtenen Urteil
zutreffend entschieden wurde, ist hier nicht zu prüfen, nachdem eine
Bestrafung wegen Nötigung entfällt und eine Konsumtion von Art. 286 StGB
durch Art. 181 StGB daher nicht mehr in Frage kommt.

    c) Für die Anwendung von Art. 286 StGB ist unerheblich, ob im Zeitpunkt
des inkriminierten Verhaltens - Sitzenbleiben trotz Aufforderung zum
Verlassen des Raumes - die Sitzung der Fakultät formell bereits eröffnet
war oder nicht; denn die Beschwerdeführer haben den Straftatbestand
nicht nur erfüllt, wenn man die Sitzung als bereits im Gang befindlich
betrachtet, sondern auch, wenn sie, um die Eröffnung der ordentlichen
Sitzung zu verzögern oder zu verhindern, im Raum blieben.

    d) Auch wenn - im Sinne der an der bundesgerichtlichen Praxis
geübten Kritik (STRATENWERTH II S. 288 f.) - die blosse Weigerung, auf
Befehl eines Beamten etwas zu tun (die Türe öffnen, den Namen nennen,
usw.), nicht unter Art. 286 StGB fallen sollte, so muss die hier zu
beurteilende Unterlassung trotzdem als "Hinderung" erfasst werden;
denn es geht nicht einfach um die Passivität des von einer amtlichen
Aufforderung Betroffenen, sondern um den durch die Einwilligung des die
Sitzung der Behörde leitenden Dekans nicht mehr gedeckten Teil einer
"Aktion": Die Beschwerdeführer wollten durch ihr Tun, nämlich durch
"Teilnahme" an der Sitzung, den vorgesehenen Ablauf dieser Amtshandlung
hindern. Der Eintritt und das Verlesen der Erklärung wurden gestattet,
dann aber sollten die Studenten den Saal wieder verlassen und die
bis zu diesem Zeitpunkt geduldete Hinderung der ordentlichen Sitzung
abbrechen. Indem sie diese zeitliche Begrenzung der Einwilligung nicht
beachteten und unerlaubterweise weiter im Sitzungsraum blieben, haben sie
die Amtshandlung - Durchführung der Sitzung - rechtswidrig gehindert. Dass
die Hinderung passiv, in Form einer Unterlassung, erfolgen konnte, weil die
vorangehende aktive Phase (Betreten des Saales, Verlesen der Erklärung)
wegen Einwilligung straflos bleibt, ändert nichts an der Strafwürdigkeit
und Rechtswidrigkeit der unerwünschten Anwesenheit. Dass eine Hinderung im
Sinne von Art. 286 StGB stets ein aktives Handeln sein müsse und nicht -
wie hier - in der unerlaubten Aufrechterhaltung eines zuvor geschaffenen
Hindernisses bestehen könne, ergibt sich weder aus dem Wortlaut, noch aus
Sinn und Zweck von Art. 286 StGB (vgl. zu diesem Problem: ROBERT SCHNETZER,
Die Abgrenzung der Hinderung einer Amtshandlung gemäss Art. 286 StGB vom
blossen Ungehorsam, Diss. Basel 1979, S. 86/87).