Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IV 103



107 IV 103

30. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Mai 1981 i.S. S. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 113 StGB; Totschlag; Entschuldbarkeit der heftigen Gemütsbewegung.

    Die Frage nach der Entschuldbarkeit der heftigen Gemütsbewegung ist
ausschliesslich nach allgemeinen Massstäben menschlichen Verhaltens zu
beurteilen, während abnorme Elemente in der Persönlichkeit des Täters
bei der Bemessung der konkreten Tatschuld zu berücksichtigen sind.

Sachverhalt

    A.- Im November 1978 lernte der 1937 geborene S. die gleichaltrige
Frau R., geschieden und Mutter von drei Kindern, in Bern kennen. Noch am
gleichen Abend nahm er die als leichtlebig und impulsiv bezeichnete,
teilweise dem Alkohol verfallene Frau zu sich nach Lyss, wo sie die
Nacht und den folgenden Tag zusammen verbrachten. In den kommenden
Wochen hielt sich Frau R. dann wiederholt für einige Tage bei S. auf. Man
begann, von einer gemeinsamen Zukunft zu sprechen. Frau R. kehrte jedoch
immer wieder zu ihrem Freund nach Rüfenacht zurück, mit dem sie seit
1976 zusammenlebte. Trotzdem glaubte S., dem es nach dem Tod seiner
Mutter, zu der er eine starke Bindung gehabt hatte, nicht mehr gelang,
eine andere Beziehung aufzubauen, in Frau R. endlich die erhoffte
Lebenspartnerin gefunden zu haben. Die Bedenken wegen ihres labilen und
egoistischen Charakters, den er inzwischen zur Genüge kennengelernt hatte,
aber auch wegen ihres übermässigen Alkoholkonsums, vermochten ihn von
seiner Wunschvorstellung nicht abzubringen. Als Frau R. anfangs Januar
1979 anlässlich eines wiederum nur wenige Tage dauernden Aufenthalts
bei S. sich sogar mit dem Gedanken befasste, ihre jüngste, in einem
Heim untergebrachte Tochter X. zu sich zu nehmen und inskünftig mit S.
zusammenzuwohnen, war dieser vom Ernst ihres Vorhabens überzeugt.

    Am 29. Januar 1979 - Frau R. war nach Lyss gekommen, um bei S. einige
Kleider abzuholen - drehte sich das Gespräch einmal mehr um die gemeinsame
Zukunft, um die grössere Wohnung, die wegen der Tochter X. gemietet werden
sollte, und um gemeinsam zu verbringende Ferien. Während der Unterhaltung
wurde Bier konsumiert. Gegen 22.00 Uhr begleitete S. seine Freundin
zum Bahnhof. Im Restaurant Bahnhof warteten sie auf den Zug und tranken
unterdessen weiteren Alkohol. Frau R., schon reichlich angetrunken, zog es
nun vor, erst am andern Morgen nach Bern zurückzukehren. Hierauf begab man
sich wieder in die Wohnung von S. und setzte die Diskussion im Bett fort,
unter Genuss einer unbestimmten Menge Bier und Schnaps. Auch S. fühlte
sich allmählich angetrunken. Im Verlaufe der Unterhaltung änderte Frau
R. ständig ihre Meinung. Von der Aufnahme der Tochter X. in ihre Obhut war
plötzlich nicht mehr die Rede, worauf S. seine Absicht, eine neue Wohnung
zu mieten, in Zweifel zog. Die beiden begannen, sich zu streiten. Als
Frau R. gegen 02.00 Uhr morgens die Nacht nicht mehr bei S. verbringen,
sondern doch noch nach Bern fahren wollte und von S. das für das Taxi
nötige Geld verlangte, verlor dieser die Beherrschung. Er packte die
neben ihm im Bett liegende, stark betrunkene Frau am Hals, schüttelte und
würgte sie, ergriff die auf dem Bettumbau liegende Maurerrichtschnur und
wickelte sie ihr um den Hals. Den genauen weiteren Verlauf des Geschehens
nahm S. nicht mehr war. Beim Eintreffen der Polizei, die von S. um 04.30
Uhr benachrichtigt worden war, war Frau R. bereits tot.

    B.- Am 18. April 1980 hat das Geschwornengericht des IV. Bezirks
des Kantons Bern S. wegen Unzucht mit einer Schwachsinnigen (begangen
am 2. September 1977) und wegen vorsätzlicher Tötung zu sechs Jahren
Zuchthaus verurteilt. Das Gericht verfügte den Aufschub des Vollzugs
der ausgesprochenen Strafe und die Einweisung des Verurteilten in
eine geeignete Anstalt zur Behandlung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 44 StGB.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- b) Die mit der Beschwerde beantragte Privilegierung der Tötung
als Totschlag kommt gemäss Art. 113 StGB in Betracht, wenn die Tat in
einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung begangen
worden ist.

    aa) Das Geschwornengericht hat gestützt auf das psychiatrische
Gutachten angenommen, S. habe sich im Verlaufe des Tatabends aus
Enttäuschung über das Verhalten von Frau R. in eine derartige Wut
hineingesteigert, dass er unter der Wirkung des Alkohols in einer heftigen
Gemütsbewegung die Tötung beging. Es ist davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer in einem ausserordentlichen Affekt handelte. Die heftige
Gemütsbewegung, in welcher er seine Freundin tötete, wird jedoch von der
Vorinstanz nicht als entschuldbar betrachtet.

    bb) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 100 IV 151,
82 IV 88), von der abzuweichen kein Anlass besteht, setzt der Begriff
der Entschuldbarkeit voraus, dass die heftige Gemütsbewegung nicht
nur psychologisch erklärbar, sondern bei objektiver Bewertung nach den
sie auslösenden äussern Umständen gerechtfertigt ist; die Tötung muss
dadurch bei ethischer Beurteilung in einem wesentlich mildern Licht
erscheinen. Krankhafte Veranlagung des Täters vermag die Entschuldbarkeit
einer an sich unverständlichen Reaktion nicht zu begründen. Abnorme
Elemente in der Persönlichkeit des Täters sind bei der Bemessung der
konkreten Tatschuld zu berücksichtigen, nicht bei der Beurteilung der
Entschuldbarkeit, die nach allgemein ethischen Gesichtspunkten zu erfolgen
hat (vgl. Binder, Der juristische und der psychiatrische Massstab bei
der Beurteilung der Tötungsdelikte, ZStrR 67 S. 307 ff.). Eine heftige
Gemütsbewegung ist nur dann im Sinne von Art. 113 StGB entschuldbar, wenn
sie in Anbetracht der gesamten äussern Umstände menschlich verständlich
erscheint, d.h. es muss angenommen werden können, auch ein anderer,
an sich anständig Gesinnter wäre in der betreffenden Situation leicht
in einen solchen Affekt geraten (Walder, ZStrR 81 S. 37/38). Dabei ist
immer zu beachten, dass es bei der Anwendung von Art. 113 StGB nicht
um die Entschuldbarkeit der Tat geht, sondern ausschliesslich um die
Entschuldbarkeit der heftigen Gemütsbewegung (BGE 81 IV 155). Hat der
Täter die Konfliktsituation, welche die Gemütsbewegung auslöste, selber
verschuldet oder doch vorwiegend durch eigenes Verhalten schuldhaft
herbeigeführt, so ist der Affekt nicht entschuldbar (Walder, aaO S. 38).

    cc) Das Geschwornengericht hat im angefochtenen Entscheid unter
Beachtung dieser Kriterien mit einlässlicher Begründung dargetan, dass der
Beschwerdeführer nicht in einem nach der objektiven Sachlage verständlichen
Affekt handelte, sondern dass die Tat nur aufgrund der teilweise
krankhaften Persönlichkeitsentwicklung des Beschwerdeführers als Reaktion
auf eine weitgehend von ihm selbst herbeigeführte Konfliktsituation
erklärbar ist. Was in der Nacht vom 29./30. Januar 1979 zwischen S. und
Frau R. vor sich ging, lässt sich nicht als eine Art Provokation des Täters
durch sein Opfer deuten, welche die heftige Gemütsbewegung nach allgemeinen
Massstäben menschlichen Verhaltens als entschuldbar erscheinen liesse,
sondern es handelt sich um einen aus Veranlagung und Lebensgeschichte zu
erklärenden, aussergewöhnlichen Affektausbruch des Beschwerdeführers,
eines sonst ruhigen, aggressionsgehemmten Mannes. Dieser Würdigung der
Tatsachen entspricht die Subsumtion der Tat unter Art. 111 StGB und die
Berücksichtigung der aus Persönlichkeit und Lebenslauf sich ergebenden
schuldmindernden Gesichtspunkte im Rahmen der Strafzumessung unter Annahme
einer starken Herabsetzung der Zurechnungsfähigkeit für das Tötungsdelikt.

    Die Rüge einer Verletzung des Bundesrechts erweist sich somit als
unbegründet.