Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 II 499



107 II 499

78. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 15. Oktober 1981
i.S. G. gegen Regierungsrat des Kantons Bern (Berufung) Regeste

    Art. 57 Abs. 5 OG. Ausnahme von der Regel (E. 1).

    Art. 274 Abs. 2 ZGB und Art. 44 OG.

    Wird dem Vater oder der Mutter das Recht auf persönlichen Verkehr
mit ihrem unmündigen Kind von der Vormundschaftsbehörde gestützt
auf Art. 274 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 275 Abs. 1 ZGB entzogen,
so können sie dagegen nicht Berufung beim Bundesgericht einlegen, weil
keine Zivilrechtsstreitigkeit im Sinne von Art. 44 OG vorliegt (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 1. Januar 1978 gebar M. R. den Knaben T. Der spanische
Staatsangehörige G. anerkannte den Knaben als sein Kind. Mit Vereinbarung
vom 19. April 1978 verpflichtete er sich, für seinen Sohn monatliche
Unterhaltsbeiträge von Fr. 300.-- zu bezahlen. Am 9. Mai 1978 ordnete
die zuständige Vormundschaftsbehörde im Einverständnis mit der Mutter
über den Knaben eine Beistandschaft im Sinne von Art. 308 ZGB an. Die
Kindsmutter heiratete am 28. September 1979. T. lebt bei der Mutter und
dem Stiefvater zusammen mit einem inzwischen geborenen Stiefbruder.

    Mit Schreiben vom 20. August 1979 ersuchte G. die
Vormundschaftsbehörde, ihm behilflich zu sein, das ihm seit acht Monaten
verweigerte Besuchsrecht gegenüber seinem Kind T. durchzusetzen. Die
Vormundschaftsbehörde beschloss am 27. November 1979, G. das Recht auf
persönlichen Verkehr mit seinem Sohn zu entziehen.

    G. erhob gegen diesen Beschluss beim Regierungsstatthalter Beschwerde,
die am 8. Mai 1980 abgewiesen wurde.

    Diesen Entscheid zog G. an den Regierungsrat des Kantons Bern weiter,
welcher die Beschwerde mit Entscheid vom 8. Oktober 1980 abwies.

    G. führt Berufung an das Bundesgericht mit den Anträgen, der Entscheid
des Regierungsrates sei aufzuheben und das Besuchsrecht gegenüber seinem
Sohn T. sei ihm wieder einzuräumen.

    Der Berufungskläger hat den Entscheid des Regierungsrates gleichzeitig
mit einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
angefochten.

    Das Bundesgericht tritt auf die Berufung nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Ist ein kantonaler Entscheid beim Bundesgericht sowohl mit einer
Berufung als auch mit einer staatsrechtlichen Beschwerde angefochten
worden, so ist in der Regel die Entscheidung über die Berufung bis
zur Erledigung der staatsrechtlichen Beschwerde auszusetzen (Art. 57
Abs. 5 OG). Nach Art. 84 Abs. 2 OG hat die staatsrechtliche Beschwerde
indessen subsidiären Charakter, indem sie nur zulässig ist, wenn die
behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel
beim Bundesgericht gerügt werden kann.

    Im vorliegenden Fall beschwert sich der Berufungskläger darüber, dass
ihm sein Besuchsrecht gegenüber seinem Sohn T. entzogen worden ist. Mit
der Berufung behauptet er die Verletzung von Art. 273 und 274 ZGB, und mit
der staatsrechtlichen Beschwerde rügt er die willkürliche Anwendung dieser
Bestimmungen. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher nicht gegeben,
sofern die Berufung zulässig ist. Es ist demnach - in Abweichung von der
Regel - zunächst zu prüfen, ob auf die Berufung überhaupt eingetreten
werden kann.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 273 ZGB haben die Eltern Anspruch auf angemessenen
persönlichen Verkehr mit dem unmündigen Kind, das nicht unter ihrer Gewalt
oder Obhut steht. Rechtliche Grundlage dieses Anspruchs, der in der Regel
als Besuchsrecht ausgeübt wird, ist das Kindesverhältnis (Botschaft des
Bundesrates zur Revision des Kindesrechts vom 4. Juni 1974, BBl 1974 II 52;
HEGNAUER, Grundriss des Kindesrechts, S. 105). Das Recht auf persönlichen
Verkehr kommt den Eltern zu, denen die elterliche Gewalt bzw. die Obhut vom
Richter (Art. 170, 145, 156 und 133 ZGB) oder von der Vormundschaftsbehörde
(Art. 310-312 ZGB) entzogen worden ist oder denen sie von Gesetzes wegen
nicht zusteht (Art. 296 Abs. 2 und 298 Abs. 1 ZGB). Der Vater, der mit
der Mutter nie verheiratet war, hat das Recht auf persönlichen Verkehr
mit dem Kind, wenn das Kindesverhältnis durch Anerkennung oder durch den
Richter festgestellt worden ist (Art. 252 Abs. 2 ZGB). Dieses Recht steht
den Eltern um ihrer Persönlichkeit willen zu (BGE 100 II 81 und 98 IV 37).

    b) Anordnungen über den persönlichen Verkehr im Sinne von Art. 273
ZGB hat die Vormundschaftsbehörde am Wohnsitz des Kindes zu treffen
(Art. 275 Abs. 1 ZGB). Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob
diese Anordnungen der Vormundschaftsbehörde letztinstanzlich an das
Bundesgericht weitergezogen werden können. Der Anspruch der Eltern
auf persönliche Beziehungen mit ihrem Kind ist offensichtlich nicht
vermögensrechtlicher Natur. In nicht vermögensrechtlichen Zivilsachen
kann nach Art. 44 OG beim Bundesgericht nur Berufung erhoben werden, wenn
eine Zivilrechtsstreitigkeit oder einer der in lit. a-f abschliessend
aufgezählten Fälle vorliegt.

    Ein Zivilrechtsstreit im Sinne dieser Bestimmung besteht nach
ständiger Rechtsprechung in einem kontradiktorischen Verfahren zwischen
zwei oder mehreren natürlichen oder juristischen Personen als Trägerinnen
privater Rechte oder zwischen solchen Personen und einer nach Bundesrecht
die Stellung einer Partei besitzenden Behörde, das sich vor dem Richter
oder einer andern Spruchbehörde abspielt und auf die endgültige, dauernde
Regelung zivilrechtlicher Verhältnisse durch behördlichen Entscheid abzielt
(BGE 104 II 164/65 E. 3b, 103 II 317 E. 2c, 101 II 359 und 368/69 E. 2a,
je mit Hinweisen).

    Werden diese Kriterien auf den vorliegenden Fall angewendet, so zeigt
sich, dass die Vormundschaftsbehörde gestützt auf Art. 275 ZGB nicht über
zivilrechtliche Beziehungen zwischen einer Person, welche die Anerkennung
ihres Besuchsrechts verlangt (Eltern des Kindes oder Drittperson im Sinne
von Art. 274a ZGB), und einer andern sich diesem Begehren widersetzenden
Person (anderer Elternteil, Vormund, Pflegeeltern, etc.) entscheidet.
Gegenstand des Verfahrens bildet vielmehr das Recht einer Person auf
angemessenen persönlichen Verkehr mit ihrem Kind. Stehen sich aber von
Bundesrechts wegen nicht zwei Personen als Kläger und Beklagter gegenüber,
kann es auch nicht darauf ankommen, ob vor der kantonalen Behörde ein
kontradiktorisches Verfahren stattgefunden habe oder nicht. Die Anerkennung
oder Verweigerung des Besuchsrechts gehört vielmehr zur freiwilligen
Gerichtsbarkeit und stellt keine Zivilrechtsstreitigkeit im Sinne von
Art. 44 OG dar.

    Zwar hat das Besuchsrecht auch Auswirkungen auf die Stellung
derjenigen Person, welche die elterliche Gewalt oder die Obhut über das
Kind besitzt. Diese muss das Besuchsrecht des andern Elternteils oder
der Drittperson respektieren und darf dessen Ausübung nicht behindern
(Art. 274 Abs. 1 ZGB). Anderseits hat sie auch der Vormundschaftsbehörde
Anzeige zu erstatten, wenn das Wohl des Kindes durch den Verkehr mit dem
andern Elternteil oder der Drittperson beeinträchtigt wird (Art. 274
Abs. 2 ZGB). Aber die elterliche Gewalt oder die Obhut wird durch das
Besuchsrecht nicht eingeschränkt. Es kann daher auch kein Rechtsstreit
entstehen zwischen den Inhabern dieser beiden Rechte. Auch daraus folgt,
dass kein Zivilrechtsstreit vorliegt.

    Dazu kommt, dass das Recht auf angemessenen persönlichen Verkehr
mit dem Kind den Eltern zwar um ihrer Persönlichkeit willen zusteht. Doch
handelt es sich dabei nicht um ein reines subjektives Recht (vgl. HEGNAUER,
aaO S. 129). Nicht das Interesse der Eltern steht im Vordergrund, sondern
es geht in erster Linie um das Wohl des Kindes. Wenn das Wohl des Kindes es
verlangt, muss das Recht auf persönlichen Verkehr verweigert oder entzogen
werden (Art. 274 Abs. 2 ZGB). Entscheidend ist somit das Interesse des
Kindes und nicht dasjenige der Eltern. Die Vormundschaftsbehörde hat
über das Wohl des Kindes zu wachen und seine Interessen wahrzunehmen
ohne Rücksicht auf die Stellungnahme der Eltern (Art. 275 Abs. 1 und 274
Abs. 2 ZGB). Diese Aufgaben der Vormundschaftsbehörde gehören aber ihrem
Wesen nach zur freiwilligen Gerichtsbarkeit (zum Wesen der freiwilligen
Gerichtsbarkeit vgl.: HABSCHEID, Droit judiciaire privé suisse, 2. Aufl.,
S. 84 ff.; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 42
ff.; GULDENER, Grundzüge der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz,
S. 9 ff.). Es ist gerade ein Zeichen der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit,
dass eine Gegenpartei fehlt. Die Stellung der Vormundschaftsbehörde,
welche über den persönlichen Verkehr der Eltern mit dem unmündigen Kind zu
entscheiden hat, ist durchaus vergleichbar mit derjenigen der Behörden,
welche die in Art. 44 lit. d und e OG aufgeführten Massnahmen zu treffen
haben. Bei Entzug oder Wiederherstellung der elterlichen Gewalt (Art. 44
lit. d OG) und bei Entmündigung oder Anordnung einer Beistandschaft
sowie bei Aufhebung dieser Massnahmen (Art. 44 lit. e OG) wird ebenfalls
in der Regel die Vormundschaftsbehörde bzw. die vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde tätig. Dabei handelt es sich aber um Massnahmen, die
der freiwilligen Gerichtsbarkeit angehören. Der Bundesgesetzgeber hat
sie denn auch wie die in Art. 44 lit. a-c und f OG aufgezählten Fälle
ausdrücklich der Berufung an das Bundesgericht unterstellt, weil er sie
nicht als Zivilrechtsstreitigkeiten betrachtet hat. Auch in diesen Fällen
kann ein Streit zwischen zwei oder mehreren Personen entstehen. Trotzdem
wickelt sich das Verfahren im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit
ab, und es liegt keine Zivilrechtsstreitigkeit vor. Die Berufung ist in
diesen Fällen nur gegeben, weil der Gesetzgeber sie ausdrücklich als
zulässig erklärt hat. Daraus folgt aber, dass die Berufung gegen die
Entscheidungen der letztinstanzlichen kantonalen Behörden, die sich mit
der Ausgestaltung oder den Schranken des persönlichen Verkehrs der Eltern
mit ihrem unmündigen Kind (Art. 273 und 274 ZGB) befassen, mangels einer
ausdrücklichen Regelung in Art. 44 OG nicht zulässig ist.

    An diesem Ergebnis vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass die
Regelung des Besuchsrechts im Zusammenhang mit der Scheidung, Trennung oder
Ungültigerklärung der Ehe (Art. 156 und 133 ZGB) bzw. die Abänderung dieser
Regelung (Art. 157 ZGB) mit der Berufung beim Bundesgericht angefochten
werden kann. Der Scheidungsrichter hat das Besuchsrecht desjenigen
Elternteils, dem die Kinder nicht zugesprochen werden, festzulegen,
weil dieses Recht unmittelbar mit der Auflösung oder der Trennung der
Ehe zusammenhängt. Es erscheint daher als eine Nebenfolge eines nicht
vermögensrechtlichen Zivilrechtsstreites vor einer richterlichen Behörde,
weshalb die Berufung zulässig sein muss.