Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 II 343



107 II 343

53. Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. September 1981 i.S. Baumann
gegen Rohr (Berufung) Regeste

    Baurechtsvertrag.

    1. Art. 23 und 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR. Ein Irrtum hinsichtlich der
Überbaubarkeit einer Parzelle, die mehrere Jahre nach Abschluss des
Vertrages von einem Baustopp erfasst wird, lässt sich nicht als wesentlich
ausgeben; Tat- und Rechtsfragen (E. 1).

    2. Art. 2 Abs. 2 ZGB. Voraussetzungen für die Anwendung der Clausula
rebus sic stantibus (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Durch Vertrag vom 30. September 1971 räumte Rudolf Rohr dem
Fritz Baumann auf seinen Parzellen Nr. 597 und 599 in Hunzenschwil für
50 Jahre ein Baurecht ein. Der Baurechtszins wurde auf Fr. 21'618.--
im Jahr festgesetzt und sollte jeweils auf den 1. Oktober der Teuerung
angepasst werden. Rohr ist 1974 gestorben.

    Baumann konnte die Parzelle 597 im Jahre 1973 überbauen. Sein
Gesuch für ein Gebäude mit Ausstellungs-, Büro- und Lagerräumen auf der
Parzelle 599 wurde vom Gemeinderat Hunzenschwil dagegen im September 1973
abgeschrieben, weil der Korbackerweg als Zugang ungenügend ausgebaut und
schon dem bisherigen Verkehr kaum gewachsen sei. Im Januar 1975 empfahl
ihm die Gemeinde umsonst, auf der zweiten Parzelle eher einen Bau zu
gewerblichen Zwecken vorzusehen. Einem weiteren Gesuch Baumanns vom
Mai 1978, das ein Gebäude mit Werkstätten betraf, hielt der Gemeinderat
entgegen, dass ein Ausbau des Korbackerweges kostspielig sei, ein Anschluss
an die Kantonsstrasse nach Auffassung der Behörden nähere Abklärungen
erfordere und erst nach Eröffnung der Aaretalstrasse in Frage komme;
vor Verbesserung der Strassenverhältnisse könne keine Baubewilligung
mehr erteilt werden. Baumann beschwerte sich beim Baudepartement des
Kantons Aargau, das am 7. November 1979 im gleichen Sinne entschied. Es
fand, die zusätzliche Verkehrsbelastung infolge des geplanten Baues sei
möglicherweise gering; mit einer erheblichen Mehrbelastung sei hingegen
bei weiteren ähnlichen Bauvorhaben zu rechnen, die aus Gründen der
Rechtsgleichheit ebenfalls zugelassen werden müssten. Die Aussichten
einer baldigen Sanierung der Verkehrsverhältnisse im Korbackergebiet
hätten sich seit 1975 verschlechtert und den Gemeinderat veranlasst,
seine bisherige Bewilligungspraxis zu ändern.

    Bei der Revision des Zonenplanes von 1979 wurde das Korbackergebiet,
in dem sich die Parzelle 599 befindet, der Gewerbezone zugewiesen.

    Baumann weigerte sich bereits 1975, die vereinbarten Baurechtszinse
für die Parzelle 599 zu bezahlen. Er bestritt eine Schuld auch nachher,
weil die Parzelle entgegen der übereinstimmenden Auffassung der Parteien
zur Zeit des Vertragsabschlusses nicht überbaubar gewesen sei.

    B.- Im November 1979 klagte Frau Rohr gegen Baumann auf Zahlung von Fr.
73'919.35 und 4'537.45 nebst 5% Zins seit verschiedenen Verfalldaten.

    Der Beklagte bestritt diese Forderung und verlangte mit
Widerklage, dass der Baurechtsvertrag mit Bezug auf die Parzelle
599 wegen Grundlagenirrtums ungültig erklärt und die Klägerin zur
Zahlung von Fr. 16'793.80 nebst Zins verurteilt werde. Er wollte ferner
festgestellt wissen, dass das Baurecht auf Parzelle 599 gegen Bezahlung
von Fr. 42'498.80 nebst Zins im Grundbuch gelöscht werden könne.

    Das Bezirksgericht Aarau schützte die Klage und wies die Widerklage
ab. Auf Appellation des Beklagten, der sein Feststellungsbegehren fallen
liess, urteilte das Obergericht des Kantons Aargau am 29. Januar 1981 im
gleichen Sinne.

    C.- Der Beklagte hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt mit den
Anträgen, es aufzuheben und die Klage abzuweisen.

    Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht schliesst aus den Umständen des Vertragsabschlusses
und der seitherigen Entwicklung, dass 1971 beide Vertragsparteien
übereinstimmend davon ausgingen, die Parzelle 599 sei ebenfalls überbaubar;
dies sei für ein Gewerbe ohne besondere Auswirkungen auf die örtlichen
Verkehrsverhältnisse noch 1975 möglich gewesen und auch heute nicht
ausgeschlossen, da die Überbauung bloss von der verkehrsmässigen
Erschliessung abhange, deren Verzögerung allerdings noch länger dauern
könne. Die gegenwärtige Unmöglichkeit der Überbauung sei bedingt durch
einen faktischen Baustopp, der sich erst aus den abweichenden Entscheiden
der Behörden von 1978 und 1979, also rund sieben Jahre nach Abschluss
des Vertrages ergeben habe.

    a) Diese Feststellungen des Obergerichts stützen sich teils auf
Beweiswürdigung, teils auf kantonales Baurecht und dessen Anwendung durch
die kantonalen Behörden. Sie können mit der Berufung nicht angefochten
werden, da mit diesem Rechtsmittel bloss die Verletzung von Bundesrecht
gerügt werden darf und solches durch tatsächliche Feststellungen nur
verletzt ist, wenn sie offensichtlich auf Versehen beruhen oder unter
Missachtung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustandegekommen sind
(Art. 43 Abs. 1 und 3, 55 Abs. 1 lit. c und d, 63 Abs. 2 OG; BGE 96
II 103/4).

    Das ist auch der Kritik an der Feststellung entgegenzuhalten,
es sei eine neue und daher prozessual unzulässige Behauptung,
dass das Korbackergebiet schon zur Zeit des Vertragsabschlusses
ungenügend erschlossen gewesen sei; denn ob eine Sachbehauptung im
kantonalen Verfahren rechtzeitig aufgestellt worden ist, beurteilt sich
ausschliesslich nach dem kantonalen Prozessrecht. Die Kritik scheitert
übrigens schon daran, dass der Beklagte eine Parzelle 1973 überbauen
konnte und eine Überbauung der andern zu gewerblichen Zwecken, wie die
vom Gemeinderat empfohlene, noch 1975 möglich war.

    Das Bundesgericht hat deshalb davon auszugehen, dass die Überbauung der
Parzellen 1971 nicht nur von beiden Vertragspartnern bejaht worden, sondern
während einiger Jahre auch möglich gewesen ist, die Behörden dann aber
die Bewilligungspraxis verschärft haben, weil sie den vorgesehenen Ausbau
des Korbackerwegs nach 1975 wegen einer allgemeinen Verkehrsplanung im
Aaretal zurückstellen mussten. Die Feststellungen des Obergerichts können
nur dahin verstanden werden, dass die Überbauung des Korbackergebietes
lediglich vorübergehend, d.h. bis zur gesamten Sanierung der örtlichen
Verkehrsverhältnisse gestoppt worden ist, ihr nachher grundsätzlich aber
nichts mehr entgegensteht. Der angebliche Irrtum des Beklagten betrifft
somit einen Zustand, der erst nachträglich eingetreten ist, durch die
verkehrsmässige Erschliessung des gesamten Gebietes aber wieder beseitigt
werden soll.

    b) Der Vertrag ist für denjenigen unverbindlich, der sich beim
Abschluss in einem wesentlichen Irrtum befunden hat (Art. 23 OR). Ein
solcher Irrtum ist insbesondere anzunehmen, wenn er einen Sachverhalt
betraf, der vom Irrenden nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als
eine notwendige Grundlage des Vertrages betrachtet wurde (Art. 24 Abs. 1
Ziff. 4 OR).

    Der Beklagte machte im kantonalen Verfahren bloss geltend, zusammen
mit dem Grundeigentümer habe er die "in naher Zukunft" realisierbare
Überbauung der Parzelle 599 als Vertragsgrundlage betrachtet. Diese
Vorstellung traf nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, zur
Zeit des Vertragsabschlusses zu; sie erwies sich samt den Erwartungen,
welche die Parteien hegten, auch nachher während einiger Jahre noch als
richtig. Dass er allein oder gar zusammen mit dem Vertragspartner der
Meinung gewesen sei, er dürfe mit der Ausführung seiner Bauvorhaben noch
mehrere Jahre zuwarten, weil sich an der Bewilligungspraxis der Behörden
und an der Überbaubarkeit der Parzellen selbst in der weiteren Zukunft
nichts ändern werde, wagt der Beklagte mit Recht nicht zu behaupten,
schuldete er den Baurechtszins doch vom 1. Oktober 1971 an; er war
selber am meisten daran interessiert, beide Parzellen in nächster Zukunft
überbauen zu können. Diese Möglichkeit hatte er aber, weshalb sich nicht
sagen lässt, er sei durch einen wesentlichen Irrtum veranlasst worden,
der Gegenpartei einen jährlichen Baurechtszins von über Fr. 21'000.-- zu
versprechen. Falsche Erwartungen einer Partei oder Spekulationen genügen
für einen solchen Irrtum zum vorneherein nicht.

    Aus BGE 98 II 15 und dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. Februar
1981 i.S. Schildknecht gegen Meier AG kann der Beklagte nichts zu seinen
Gunsten ableiten. In diesen Entscheiden ging es um Grundstücke, die bereits
bei Abschluss des Kaufvertrages so gelegen oder beschaffen waren, dass
eine Überbauung unabhängig vom Verhalten einer Behörde schon nach geltendem
Baurecht nicht in Frage kam; dadurch unterscheiden sich ihre Sachverhalte
klar vom vorliegenden, weil hier auch die zweite Parzelle noch während
Jahren überbaut werden durfte und selbst nachher nur von einem zeitlich
beschränkten Baustopp erfasst wurde. Das ist dem Beklagten übrigens nicht
entgangen, erklärt er doch selber, die Änderung der Bewilligungspraxis
habe dazu geführt, dass die Parzelle 559 nachträglich nicht mehr überbaut
werden konnte. Es ist daher belanglos, ob sich am Korbackerweg seit 1971
nichts geändert, der Mangel einer genügenden Erschliessung latent also
schon bei Vertragsabschluss bestanden habe; der Beklagte hätte auch die
zweite Parzelle gleichwohl noch vor dem Baustopp überbauen können.

Erwägung 2

    2.- Daran scheitert auch die Kritik am Vorhalt des Obergerichts, der
Beklagte hätte als Generalunternehmer das grosse Risiko erkennen und sich
durch eine entsprechende Klausel gegen die Folgen einer Praxisänderung
absichern müssen.

    Bei langfristigen Verträgen müssen die Parteien damit rechnen,
dass die zur Zeit des Vertragsabschlusses bestehenden Verhältnisse sich
später ändern können. Sehen sie ausdrücklich oder sinngemäss davon
ab, den Einfluss solcher Änderungen auf die gegenseitigen Leistungen
auszuschliessen, so entspricht es dem Wesen des Vertrages, dass er so
erfüllt wird, wie er abgeschlossen worden ist. Diesfalls hat jede Partei
grundsätzlich die Risiken zu tragen, die sich für sie aus Änderungen der
Verhältnisse ergeben. Sie hat keinen Anspruch darauf, dass der Vertrag
unverbindlich erklärt oder geändert werde, wenn ihre Erwartungen oder
Spekulationen sich nicht erfüllen (BGE 63 II 82, 59 II 304 mit weiteren
Zitaten; MERZ, N. 188 zu Art. 2 ZGB). Ein richterlicher Eingriff auf
Verlangen des Schuldners ist gestützt auf Art. 2 ZGB nur zulässig, wenn
das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung infolge ausserordentlicher
Änderung der Umstände so gestört ist, dass das Beharren des Gläubigers
auf seinem Vertragsanspruch geradezu eine wucherische Ausbeutung des
Missverhältnisses und damit einen offenbaren Rechtmissbrauch darstellt,
der nach Art. 2 Abs. 2 ZGB keinen Rechtsschutz findet (BGE 93 II 188,
68 II 173, 67 I 300, 62 II 45, 59 II 378/9).

    Dass diese Voraussetzungen hier zuträfen, lässt sich schon angesichts
des vorübergehenden Baustopps nicht sagen und wird vom Beklagten auch
nicht ernsthaft behauptet. Er argumentiert vielmehr damit, dass er die
zweite Parzelle "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" selbst
bis zum Auslauf des Vertrages im Jahre 2021 nicht überbauen könne, aber
bis dahin für lediglich landwirtschaftlich genutztes Land schon nach der
derzeitigen Berechnung rund Fr. 993'000.-- bezahlen müsse. Damit setzt
er sich indes erneut über tatsächliche Feststellungen hinweg, die das
Bundesgericht binden. Es erübrigt sich daher auch, die Interessen der
Parteien gegeneinander abzuwägen, wie die Vorinstanz dies ergänzend getan
hat; nach dem festgestellten Sachverhalt ist das angefochtene Urteil so
oder anders auch nach Art. 2 Abs. 2 ZGB nicht zu beanstanden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts (2.
Zivilabteilung) des Kantons Aargau vom 29. Januar 1981 bestätigt.