Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IB 74



107 Ib 74

16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27.
März 1981 i.S. W. gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft und Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement (Einsprache gemäss Auslieferungsgesetz) Regeste

    Art. 10 und Art. 28 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens;
Art. IV Abs. 1 des Vertrages zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft
und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen
Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung
(SR 0.353.913.61).

    Durch welche Handlungen die Verjährung unterbrochen wird, bestimmt
sich im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz
gemäss Art. IV Abs. 1 der von diesen beiden Staaten abgeschlossenen
Zusatzvereinbarung allein nach dem Recht des um die Auslieferung
ersuchenden Staates. Mit dieser Bestimmung sollte nach dem Willen der
Bundesversammlung eine Lücke im Europäischen Auslieferungsübereinkommen
geschlossen werden; das Bundesgericht kann daher nicht prüfen, ob diese
Regelung mit den Bestimmungen des Auslieferungsübereinkommens in Einklang
stehe.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- W. macht geltend, die Strafverfolgung sei sowohl nach
schweizerischem wie nach deutschem Recht verjährt.

    Nach Art. 10 EAUe wird die Auslieferung nicht bewilligt, wenn nach
den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die
Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist.

    a) Die ungetreue Geschäftsführung nach Art. 159 StGB und die
Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 StGB verjähren relativ in 5,
absolut in 7 1/2 Jahren (Art. 70 Abs. 3, 72 Ziff. 2 Abs. 2 StGB); die
qualifizierte Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 2 StGB verjährt
relativ in 10, absolut in 15 Jahren. Die Untreue gemäss § 266 dStGB
verjährt - auch in besonders schweren Fällen (dazu § 78 Abs. 4 dStGB)
- relativ in 5, absolut in 10 Jahren (§ 78 Abs. 3 Ziff. 4, 78c Abs. 3
dStGB). Die Verjährung beginnt an dem Tag, an dem der Täter die strafbare
Tätigkeit ausführt (Art. 71 Abs. 1 StGB; § 78a dStGB), wobei nach
schweizerischer Praxis (BGE 97 IV 238), anders als im deutschen Recht
(DREHER/TRÖNDLE, N. 12 zu § 78a dStGB), der Tag der Tatausführung nicht
mitgezählt wird. Beim fortgesetzten Delikt, das dann vorliegt, wenn die
mehreren gleichartigen oder ähnlichen strafbaren Handlungen, die gegen
dasselbe Rechtsgut gerichtet sind, auf ein und denselben Willensentschluss
des Täters zurückgehen (BGE 102 IV 77 E. 2a mit Verweisungen; entsprechend
die deutsche Lehre und Rechtsprechung, s. SCHÖNKE/SCHRÖDER, N. 34 ff. der
Vorbem. zu §§ 52 ff., DREHER/TRÖNDLE, N. 25 ff. vor § 52 dStGB), beginnt
die Verjährung an dem Tag, an dem die letzte Tätigkeit ausgeführt wurde
(Art. 71 Abs. 2 StGB; ebenso für das deutsche Recht DREHER/TRÖNDLE,
N. 6 zu § 78a mit Hinweisen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung,
a.A. SCHÖNKE/SCHRÖDER, N. 9 zu § 78a, N. 33 vor § 52 ff.).

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, zwischen den mehreren ihm zur
Last gelegten Untreuehandlungen bestehe kein Fortsetzungs-, sondern ein
Wiederholungszusammenhang, weshalb hinsichtlich einer Vielzahl dieser
Handlungen die Verjährung eingetreten sei.

    Im Haftbefehl des Landgerichts Frankfurt/Main, der dem
Auslieferungsgesuch des Hessischen Ministers der Justiz beigelegt ist,
wird W. vorgeworfen, er habe die strafbaren Handlungen "in Tatmehrheit"
verübt. Auf Verlangen des Bundesgerichts ersuchte das Bundesamt für
Polizeiwesen (gestützt auf Art. 13 EAUe) die deutschen Behörden unter
anderem um eine Klärung dieses Begriffs. Die Staatsanwaltschaft beim
Landgericht Frankfurt/Main und dieses selber hielten übereinstimmend fest,
dass die Worte "in Tatmehrheit" irrtümlich in den Auslieferungshaftbefehl
übernommen worden seien; denn die Delikte, mit welchen die fortgesetzte
Untreue hätte "in Tatmehrheit" stehen können (Mitgliedschaft in einer
kriminellen Vereinigung, Vergehen nach dem Wirtschaftsstrafgesetz 1952 in
Verbindung mit Militärregierungsgesetz Nr. 53 sowie Steuerhinterziehung)
seien mangels Auslieferungsfähigkeit weggefallen. Aus diesen einleuchtenden
Erklärungen geht deutlich hervor, dass nach Ansicht der deutschen Behörden
zwischen den verschiedenen W. zur Last gelegten Untreuehandlungen ein
Fortsetzungs- und nicht ein Wiederholungszusammenhang bestehe. Der
im Haftbefehl geschilderte Sachverhalt, von dem der schweizerische
Auslieferungsrichter grundsätzlich nur im Falle offensichtlicher Fehler,
Lücken und Widersprüche abweichen kann (BGE 105 Ib 425 E. 4b, 103 Ia 629,
101 Ia 424 E. 5, 611), die hier nicht ersichtlich sind, lässt den Schluss
auf einen einheitlichen Willensentschluss des Täters und demzufolge auf
eine Fortsetzungstat an sich durchaus zu.

    Die letzte Tathandlung wurde laut Haftbefehl am 23. November 1973
verübt. Die Verfolgungsverjährung begann somit nach deutschem Recht an
diesem, nach schweizerischer Rechtsprechung am darauffolgenden Tag.

    c) Im folgenden ist zu prüfen, ob die bei Annahme ungetreuer
Geschäftsführung (Art. 159 StGB) bzw. Untreue (§ 266 dStGB) 5 Jahre
betragende Verjährungsfrist unterbrochen worden sei, wie die deutschen
Behörden annehmen und was der Einsprecher bestreitet.

    Gemäss Art. IV Abs. 1 des Vertrages zwischen der Schweiz und
der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen
Auslieferungsübereinkommens und die Erleichterung seiner Anwendung
(SR 0.353.913.61) sind für die Unterbrechung der Verjährung allein die
Vorschriften des ersuchenden Staates massgebend. Nach Auffassung der
schweizerischen (und wahrscheinlich auch der deutschen) Behörden ist
die Unterbrechung der Verjährung im EAUe nicht geregelt (BBl 1970 II
245). Diese Lücke sollte im Vertrag zwischen der BRD und der Schweiz
geschlossen werden. Dabei sollte namentlich auch den Interessen der
Schweiz, nach deren Recht (Art. 72 Ziff. 2, 75 Ziff. 2 StGB) die
Strafverfolgungsverjährung nicht nur durch richterliche Handlungen,
sondern auch durch bestimmte Handlungen der Strafverfolgungs- und
Strafvollstreckungsorgane unterbrochen werden kann (s. die von beiden
Vertragsparteien unterzeichneten "Bemerkungen" zu Art. IV des Vertrages),
Rechnung getragen werden (BBl 1970 II 242, 243; s. auch MÖRSBERGER, Das
Prinzip der identischen Strafrechtsnorm im Auslieferungsrecht, Berlin 1969,
S. 112 ff.; BENZ, Das Prinzip der identischen Norm im internationalen
Auslieferungsrecht, Diss. Zürich 1941, S. 123 ff.). Die Eidgenössischen
Räte haben sich dieser Betrachtungsweise ohne Diskussion angeschlossen
(Sten.Bull. NR 1971 S. 297). Unter diesen Umständen ist das Bundesgericht
an Wortlaut und Inhalt von Art. IV Abs. 1 der deutsch-schweizerischen
Zusatzvereinbarung gebunden (Art. 113 Abs. 3 BV; s. BGE 99 Ib 44 E. 4)
und hat es nicht zu prüfen, ob dieser mit den Bestimmungen des EAUe
in Einklang stehe. Die Unterbrechung der Verjährung wird demnach im
vorliegenden Fall durch das deutsche Recht bestimmt.
   ...

    Nach dem massgebenden § 78c Abs. 1 Ziff. 4 dStGB wird die Verjährung
durch jede richterliche Beschlagnahme- oder Durchsuchungsanordnung
unterbrochen; die Unterbrechung erfolgt in dem Zeitpunkt, in welchem
die Anordnung unterzeichnet wird, vorausgesetzt dass das Schriftstück
"alsbald nach der Unterzeichnung in den Geschäftsgang gelangt" (§ 78c
Abs. 2 dStGB), was hier der Fall war. Die Verjährung ist demnach am
17. November 1978 unterbrochen worden. Da die Veruntreuung im Sinne von
Art. 140 Ziff. 1 StGB in 7 1/2 Jahren und die Untreue im Sinne von §
266 dStGB in 10 Jahren absolut verjähren und im vorliegenden Fall die
Verjährung nach schweizerischer Praxis mit dem 24. November 1973, nach
deutschem Recht mit dem 23. November 1973 resp. mit dem Tag, an dem der
durch die letzte Handlung bewirkte tatbestandsmässige Erfolg eintrat
(dazu § 78a 2. Satz dStGB), begann, ist die Verjährung im Zeitpunkt des
Entscheides über das Auslieferungsgesuch weder nach schweizerischem noch
nach deutschem Recht eingetreten.