Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IB 261



107 Ib 261

48. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14.
September 1981 i.S. P. AG und Frau X. gegen Staatsanwaltschaft und
Kantonsgericht Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom
20. April 1959 (EUeR).

    - Der ausländische Staat darf die von der Schweiz im
Rechtshilfeverfahren übermittelten Erkenntnisse zur Abklärung von
Delikten im Sinne von Art. 2 lit. a EueR nur dann verwenden, wenn die
schweizerische Behörde das Rechtshilfegesuch unter einer entsprechenden,
einschränkenden Bedingung bewilligt hat.

    - Begriff des Fiskaldelikts.

Sachverhalt

    A.- Die Staatsanwaltschaft am Landgericht Bochum führt gegen B. und
S., Geschäftsführer der D. GmbH, eine Strafuntersuchung wegen Verdachts
des Bankrotts im Sinne von § 283 des deutschen StGB. Beiden Personen wird
vorgeworfen, die Zahlungsunfähigkeit der in Konkurs gegangenen erwähnten
Firma strafrechtlich verschuldet zu haben. Dadurch sei das Hauptzollamt
Essen, die praktisch einzige Gläubigerin der erwähnten GmbH, mit einem
Betrag von ca. 29 Millionen DM zu Verlust gekommen. Unter anderem hätten
B. und S. Vermögensbestandteile an die Firma L. B.V. (Niederlande)
überwiesen, deren Kapital die Firma C., mit Sitz auf den niederländischen
Antillen, halte. Diese wiederum werde von der P. AG beherrscht, deren
einziger Verwaltungsrat Frau X. sei. In diesem Zusammenhang stellte der
leitende Oberstaatsanwalt am Landgericht Bochum am 17. August 1980 ein
Rechtshilfegesuch an die Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Er
verlangte die Vernehmung von Frau X. als Zeugin, welche Aufschluss über
die Umstände der Gründung der P. AG geben sollte. Ausserdem sollten
in der Zeugeneinvernahme die nicht genannten Gesellschafter der P. AG
festgestellt werden. Ferner ersuchte die deutsche Behörde um Bewilligung
zur Teilnahme ihrer Beamten an der Zeugeneinvernahme.

    Am 17. Oktober 1980 wurde Frau X. vom Untersuchungsrichter Samedan in
Gegenwart zweier Beamter der Staatsanwaltschaft Bochum einvernommen. Diese
sicherten schriftlich zu, die Zeugenvernehmung von Frau X. sowie die
beschlagnahmten Akten der P. AG würden in keiner Weise in irgendwelchen
Steuerverfahren in der Bundesrepublik Deutschland verwendet. Der
Untersuchungsrichter gestattete beiden Beamten, Fragen direkt an Frau X. zu
stellen. Zudem wurden verschiedene Dokumente zuhanden der ersuchenden
Behörde beschlagnahmt, welche sich im Besitz von Frau X. bzw. der
P. AG befanden. Diese reichten gegen die Beschlagnahmeverfügung des
Untersuchungsrichters Samedan bzw. gegen die Zeugeneinvernahme Beschwerde
bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden ein. Der I. Staatsanwalt
des Kantons Graubünden wies beide Beschwerden ab. Das Kantonsgericht
Graubünden bestätigte auf Beschwerde Frau X.'s und der P. AG hin diesen
Entscheid. Die P. AG und Frau X. führen staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4 BV und wegen Verletzung von Staatsverträgen
im Sinne von Art. 84 lit. c OG. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 2 lit. a EUeR kann Rechtshilfe verweigert werden,
wenn sich das Ersuchen auf strafbare Handlungen bezieht, die vom ersuchten
Staat als politische, als mit solchen zusammenhängende oder als fiskalische
strafbare Handlungen angesehen werden. Nach der schweizerischen Praxis wird
die Rechtshilfe in Fiskalstrafsachen verweigert. Die Schweiz behält sich
denn auch im Falle der Rechtshilfe für gemeinrechtliche Delikte das Recht
vor, "in besonderen Fällen Rechtshilfe aufgrund dieses Übereinkommens nur
unter der ausdrücklichen Bedingung zu leisten, dass die Ergebnisse der in
der Schweiz durchgeführten Erhebungen und die in herausgegebenen Akten oder
Schriftstücken enthaltenen Auskünfte ausschliesslich für die Aufklärung
und Beurteilung derjenigen strafbaren Handlungen verwendet werden dürfen,
für die die Rechtshilfe bewilligt wird" (AS 1967 S. 809). Die auf dem
Rechtshilfeweg gewonnenen Erkenntnisse dürfen daher in keinem Fall
zur Abklärung fiskalischer Delikte benutzt werden, soweit die Schweiz
einen Vorbehalt im Sinne dieser Erklärung gemacht hat. Die Erklärung
der Schweiz zu Art. 2 EUeR besagt nicht, dass Rechtshilfe für Delikte
im Sinne von Art. 2 lit. a EUeR generell verweigert wird. Der darin
erwähnte Vorbehalt, unter welchem Rechtshilfe gewährt werden kann, ist
vielmehr bloss fakultativer Natur und schliesst deshalb Rechtshilfe für
Delikte im Sinne von Art. 2 lit. a EUeR nicht zwingend aus. Angesichts
dessen muss im Einzelfall stets ein entsprechenden Vorbehalt angebracht
werden, um die Verwendung der gewonnenen Erkenntnisse für die Abklärung
von Delikten im Sinne von Art. 2 lit. a EUeR auszuschliessen (vgl.
SCHMID/FREI/WYSS/SCHOUWEY, L'entraide judiciaire internationale en matière
pénale, ZSR 100 II S. 314 Anm. 167; anders BGE 106 Ib 269).

    Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen ist nicht zu
prüfen, ob das neue Recht, namentlich Art. 3 Abs. 3 Bundesgesetz über
die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (ISRG; BBl 1981 I S. 808)
den Begriff des Fiskaldelikts erweitert hat, denn das ISRG ist bisher noch
nicht in Kraft gesetzt worden. Auch braucht nicht entschieden zu werden,
ob das Verhalten der beiden Angeschuldigten als Steuerbetrug zu würdigen
ist, für dessen Verfolgung nach dem neuen Recht Rechtshilfe gewährt
werden könnte. Entscheidend ist vielmehr, dass die den Angeschuldigten
zur Last gelegten Tatsachen nach dem geltenden inländischen Recht
nicht den Vorwurf eines Fiskaldelikts begründen. Art. 2 lit. a EUeR
stellt für die Beurteilung des Fiskalstrafcharakters auf das Recht des
Staates ab, der um Gewährung der Rechtshilfe angegangen wird. Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts fallen unter den Begriff des fiskalischen
Delikts Straftatbestände, die ausschliesslich eine Widerhandlung
gegen die Vorschriften über die Veranlagung und den Bezug von Abgaben
irgendwelcher Art erfassen (Urteil des Bundesgerichts vom 16. November
1977 i.S. G.; SCHULTZ, Das schweizerische Auslieferungsrecht, S. 464,
insbes. Anm. 17). Diese im Auslieferungsrecht entwickelte Definition gilt
auch im Rechtshilfeverfahren.

    Die Tatbestände von Art. 163-165 StGB (Konkurs- und
Betreibungsverbrechen oder -vergehen) stellen nach schweizerischer
Rechtsauffassung gemeinrechtliche Delikte dar, auch wenn das Gemeinwesen
als Gläubiger zu Schaden kommt. Im Falle des schuldnerischen Konkurses
werden die Forderungen des Gemeinwesens gegenüber Forderungen anderer
Gläubiger nicht unterschiedlich behandelt. Die erwähnten Bestimmungen
des StGB verfolgen den Zweck, den Schuldner zu einem korrekten
Geschäftsgebahren zu veranlassen und dadurch die Gläubiger zu schützen. Sie
gehören ihrer Natur nach nicht zum Steuerrecht. Folglich kommt es nicht
darauf an, dass durch die den Angeschuldigten vorgeworfenen Konkursdelikte
das Gemeinwesen praktisch ausschliesslich geschädigt wurde. Die Gewährung
der Rechtshilfe wegen Verdachts des Bankrotts im Sinne von § 283 des
deutschen StGB erfolgte daher zu Recht.