Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IB 233



107 Ib 233

42. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16.
Dezember 1981 i.S. Müller und Koller gegen Regierungsrat des Kantons
Thurgau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Raumplanung; Ausnahmebewilligung.

    1. Gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen
über Ausnahmebewilligungen gemäss Art. 24 RPG ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig, unabhängig davon, ob die Anwendung
von Bundesrecht (Art. 24 Abs. 1 RPG) oder von kantonalem Ergänzungsrecht
(Art. 24 Abs. 2 RPG) streitig ist (E. 1a). Anfechtbar sind sowohl positive
als auch negative Entscheide (Art. 34 Abs. 1 RPG; E. 1b).

    2. Art. 24 Abs. 2 RPG ist eine reine Kompetenznorm; fehlt
entsprechendes kantonales Ergänzungsrecht, dürfen Ausnahmebewilligungen
nur unter den strengeren Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 RPG erteilt
werden (E. 2a).

    3. Kantonales Ergänzungsrecht zu Art. 24 Abs. 2 RPG kann nur sein,
was die Kantone gestützt auf diese Vorschrift erlassen haben (E. 2b).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführer beanspruchen eine Bewilligung für den
Wiederaufbau einer zerstörten Baute ausserhalb der Bauzone. Sie stützen
ihren Anspruch auf Art. 24 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Raumplanung
vom 22. Juni 1979 (RPG) beziehungsweise auf das kantonale Recht, worauf
diese Vorschrift des Raumplanungsgesetzes verweist.

    a) Art. 34 Abs. 1 RPG erklärt die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als
zulässiges Rechtsmittel gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen
über Bewilligungen im Sinne von Art. 24 RPG. Abs. 1 von Art. 24 RPG
enthält eine abschliessende bundesrechtliche Regelung, während es
Abs. 2 dem kantonalen Recht überlässt, in einem beschränkten Umfang
Ausnahmen vorzusehen. Bewilligungen nach Art. 24 Abs. 1 RPG stützen
sich somit auf eidgenössisches, solche nach Art. 24 Abs. 2 RPG auf
kantonales Recht. In beiden Fällen ist gemäss Art. 34 Abs. 1 RPG die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig, ohne dass es
darauf ankäme, ob eine Bewilligung nach Art. 24 Abs. 1 oder Abs. 2 RPG
streitig ist (vgl. HEINZ AEMISEGGER, Leitfaden zum Raumplanungsgesetz,
VLP-Schriftenfolge Nr. 25, Bern 1980, S. 123; FRITZ GYGI, Der Rechtsschutz,
in: Das Bundesgesetz über die Raumplanung, Berner Tage für die juristische
Praxis 1980, Bern 1980, S. 72; EJPD/BRP, Erläuterungen zum Bundesgesetz
über die Raumplanung, Bern 1981, Art. 34 N. 6 lit. a, S. 360, N. 13,
S. 364).

    b) Art. 34 Abs. 1 RPG spricht nur von "Bewilligungen". Damit stellt
sich die Frage, ob ablehnende Entscheide letzter kantonaler Instanzen
im Sinne von Art. 24 RPG nicht mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beim Bundesgericht anfechtbar seien. Einen Anhaltspunkt für eine
solche Betrachtungsweise könnte zunächst der Wortlaut von Art. 34
Abs. 1 RPG geben. Sodann liegt es im Sinne des Raumplanungsgesetzes, die
Gestattung unkontrollierter Ausnahmen möglichst weitgehend zu verhindern;
deshalb erklärt auch Art. 34 Abs. 2 RPG die Kantone und Gemeinden als
beschwerdeberechtigt. Schliesslich liesse sich eine Anmerkung von FRITZ
GYGI in diesem Sinne verstehen (aaO, S. 71, Anm. 20); danach lässt das
Raumplanungsgesetz die Verwaltungsgerichtsbeschwerde für Verfügungen
letzter kantonaler Instanzen über Bauten und Anlagen ausserhalb der
Bauzonen "anscheinend beschränkt auf die Gestattung der Ausnahme"
zu. Eine derart einschränkende Auslegung entspräche indessen nicht dem
Sinn vom Art. 34 Abs. 2 RPG. Abgesehen davon, dass es aussergewöhnlich
wäre, ein bestimmtes Rechtsmittel nur gegen befürwortende, nicht aber
gegen ablehnende Entscheide zuzulassen, schiebt ein Vergleich mit dem
französischen Text von Art. 34 Abs. 1 RPG jegliche Zweifel beiseite. Danach
ist der Aussageteil "Entscheide ... über Bewilligungen im Sinne von
Artikel 24" mit "les décisions ... sur des demandes de dérogation selon
l'art. 24" übersetzt. Diese Formulierung bringt klar zum Ausdruck,
dass sowohl die positiven als auch die negativen Entscheide anfechtbar
sind. Davon ist denn auch das Bundesgericht bereits wiederholt ausgegangen
(unveröffentlichte Urteile Keller vom 15. Oktober 1980; Henselmann vom
18. März 1981, insbesondere E. 1a; Lauchetal AG vom 25. März 1981; SI
Dardagny les Granges S.A. vom 23. September 1981; Pfister vom 7. Oktober
1981; Vögeli vom 25. November 1981).

    c) Die Beschwerde entspricht den Anforderungen von Art. 34 Abs. 1
RPG. Da sie auch die übrigen formellen Voraussetzungen erfüllt, ist
darauf einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Art. 22 Abs. 2 lit. a RPG setzt für die Erteilung einer
Baubewilligung voraus, dass die Bauten und Anlagen dem Zweck der
Nutzungszone entsprechen. Abweichend davon darf nach Art. 24 Abs. 1 RPG
die Errichtung oder Zweckänderung von Bauten und Anlagen ausnahmsweise
bewilligt werden, wenn deren Zweck einen Standort ausserhalb der Bauzonen
erfordert (lit. a) und keine überwiegenden Interessen entgegenstehen
(lit. b). Zudem kann gemäss Art. 24 Abs. 2 RPG das kantonale Recht
gestatten, Bauten und Anlagen zu erneuern, teilweise zu ändern oder
wieder aufzubauen, wenn dies mit den wichtigen Anliegen der Raumplanung
vereinbar ist.

    a) Die Beschwerdeführer berufen sich zur Begründung ihres Anspruchs,
das abgebrannte Badehäuschen wieder aufbauen zu können, auf Art. 24
Abs. 2 RPG. Diese Vorschrift überlässt es dem kantonalen Recht,
die Erneuerung, teilweise Änderung und den Wiederaufbau von Bauten
und Anlagen ausserhalb der Bauzonen gegenüber Art. 24 Abs. 1 RPG zu
erleichtern. Dabei verlangt das Bundesrecht keine Standortbedingtheit
mehr, sondern nur noch, dass das Vorhaben mit den wichtigen Anliegen
der Raumplanung vereinbar ist (Aldo Zaugg, Aufgaben der Kantone, in:
Das Bundesgesetz über die Raumplanung, Berner Tage für die juristische
Praxis 1980, S. 23). Enthält jedoch das kantonale Recht keine Regelung,
so kommt Art. 24 Abs. 2 RPG gar nicht zum Zug; diese Vorschrift ist keine
Bewilligungs-, sondern eine reine Kompetenznorm (HEINZ AEMISEGGER, aaO,
S. 123). Daher dürfen Ausnahmebewilligungen in solchen Fällen nur unter
den strengeren Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 RPG erteilt werden
(PETER LUDWIG, Die Wirkungen der Zuweisung zur Landwirtschaftszone, in:
Blätter für Agrarrecht 1980, S. 99; EJPD/BRP, aaO, Art. 24 N. 33, S. 302).

    b) Kantonales Ergänzungsrecht zu Art. 24 Abs. 2 RPG kann nur sein, was
die Kantone gestützt auf diese Kompetenzvorschrift erlassen haben. Nicht
als Ausführungsrecht in diesem Sinne kommen kantonale Ausnahmevorschriften
in Betracht, die schon vor Erlass des Raumplanungsgesetzes bestanden
haben. Diese beziehen sich nicht auf die bisher vom Bundesrecht
geregelte Frage der Zulässigkeit von Bauvorhaben ausserhalb der Bauzonen
beziehungsweise des durch das GKP abgegrenzten Gebietes (Art. 19 und 20
GSchG, Art. 25-28 AGSchV, je in der bis Ende 1979 geltenden Fassung). Sie
wären nur dann anzuerkennen, wenn sie vom zuständigen kantonalen Organ
gestützt auf Art. 24 Abs. 2 RPG ausdrücklich als Ergänzungsrecht zu dieser
Vorschrift des Raumplanungsgesetzes bezeichnet worden wären.

    Die Beschwerdeführer sehen das im vorliegenden Fall massgebende
kantonale Ergänzungsrecht zu Art. 24 Abs. 2 RPG in erster Linie in §
108 Abs. 1 und in zweiter Linie in § 106 des Thurgauer Baugesetzes vom
28. April 1977 (BauG). Das Baugesetz des Kantons Thurgau ist indessen mehr
als zwei Jahre vor Erlass des Raumplanungsgesetzes in Kraft getreten. Auch
fehlt eine Vorschrift im Thurgauer Recht, die das Baugesetz oder einzelne
Vorschriften davon als Ausführungsrecht zu Art. 24 Abs. 2 RPG bezeichnen
würde. Die angerufenen Bestimmungen kommen daher von vornherein nicht als
kantonales Ergänzungsrecht im Sinne von Art. 24 Abs. 2 RPG in Frage. Das
Vorhaben ist deshalb wie ein Neubau zu behandeln, der nur bewilligt werden
darf, wenn die Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 RPG erfüllt sind.