Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IA 35



107 Ia 35

8. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11.
Februar 1981 i.S. Chemische Fabrik Ütikon gegen Gemeinde Full-Reuenthal
und Regierungsrat des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 22ter BV; Verkleinerung einer ausgedehnten Industriezone.

    Verhältnis von Zonenplanung und mittelfristiger Planung eines
Industriebetriebes. Bei der Ermittlung des Industrielandbedarfs sind auch
die Anliegen der Raumplanung und insbesondere die Grenzen zu beachten,
die sich im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung wohnlicher
Siedlungen ergeben. Berücksichtigung der bisherigen Entwicklung und
künftigen Ausbaupläne eines Industrieunternehmens sowie Feststellung
der verbleibenden Landreserven. Das öffentliche Interesse an einer
befriedigenden Ortsplanung geht dem Vertrauen in die Beständigkeit eines
vor längerer Zeit festgesetzten Planes vor.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Auszonung einer Fläche
von rund 6 ha, welche nach dem Teilzonenplan der Gemeinde Full-Reuenthal
vom 10. Januar 1954 einer ausgedehnten Industriezone zugewiesen war. Es
handelt sich um das nördlich der Bahnlinie und zwischen dem bestehenden
Werk der Beschwerdeführerin (Produktionsbetrieb der Grundstoffchemie)
und dem überbauten Gebiet von Full gelegene Areal. Die Beschwerdeführerin
betont mit Nachdruck, die frühere Industriezone sei mit Rücksicht auf
ihre Bedürfnisse geschaffen worden.

    a) Wie das Bundesgericht bereits wiederholt entschieden hat, gibt die
Eigentumsgarantie dem Eigentümer keinen Anspruch darauf, dass sein Land
dauernd in jener Zone verbleibt, in die es einmal eingewiesen worden
ist. Die verfassungsmässige Gewährleistung des Eigentums steht einer
nachträglichen Änderung oder Beschränkung der aus einer bestimmten
Zoneneinteilung folgenden Nutzungsmöglichkeiten nicht entgegen (BGE
104 Ia 126 E. 2a; 102 Ia 336 E. 3c mit Hinweisen). Auch unter dem
Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist - von Sonderfällen abgesehen
- nicht zu beanstanden, wenn Nutzungsmöglichkeiten abgeändert oder
eingeschränkt werden; der Grundeigentümer hat keinen als wohlerworbenes
Recht selbständig gesicherten Anspruch darauf, dass die für sein Grundstück
einmal festgelegten baulichen Nutzungsmöglichkeiten unbeschränkt bestehen
bleiben. Die Beschwerdeführerin macht mit Recht nicht geltend, der ihren
Wünschen entgegenkommende Teilzonenplan der Gemeinde Full-Reuenthal
aus dem Jahre 1954 stehe unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes
der Auszonung entgegen. Sie betont lediglich, dass bei der Prüfung des
öffentlichen Interesses und der dabei vorzunehmenden Interessenabwägung
besonders gewichtige öffentliche Interessen vorliegen müssten, um die
Auszonung zu rechtfertigen. Zu prüfen ist daher einzig, ob die von der
Gemeinde beschlossene und vom Regierungsrat genehmigte Auszonung durch
ausreichende öffentliche Interessen gerechtfertigt ist, welche die
entgegenstehenden privaten Interessen überwiegen.

    Die Beschwerdeführerin bestreitet weder das öffentliche Interesse an
einer Trennung von Bau- und Landwirtschaftsgebiet noch dasjenige an der
Schaffung eines Trenngürtels zwischen Industrie- und Wohnzonen. Sie macht
jedoch geltend, die Industriezone gemäss dem Teilzonenplan Full aus dem
Jahre 1954 sei nicht zu gross, und die Schaffung eines Trenngürtels
sei ohne so erhebliche Auszonung von Industriezonenland möglich.
(...) Demgegenüber sei ihr privates Interesse an der uneingeschränkten
Erhaltung der heutigen Industriezone ausserordentlich gross; es sei
identisch mit dem Interesse an der Erhaltung und Weiterentwicklung des
Unternehmens. (...)

    b) Im Rahmen einer den heutigen Anforderungen entsprechenden
Raumplanung, welche eine weitsichtige Koordination aller raumwirksamen
Tätigkeiten im Blick auf das verfassungsmässige Ziel erfordert, um eine
zweckmässige Nutzung des Bodens und geordnete Besiedlung des Landes
sicherzustellen (Art. 22quater BV), sind sowohl die Bedürfnisse des
Betriebes der Beschwerdeführerin als auch diejenigen der Bevölkerung in
ausgewogener Weise zu berücksichtigen. Dabei ist der vom aargauischen
Baugesetz ausgesprochene Grundsatz der Überprüfung und Anpassung der Pläne
an veränderte Verhältnisse zu beachten (§ 120 Abs. 2 BauG). Das seit
dem 1. Januar 1980 in Kraft stehende eidgenössische Raumplanungsgesetz
vom 22. Juni 1979 (RPG), dessen Grundsätze auch bei der Beurteilung
von Zonenplänen, die vor seinem Inkrafttreten festgesetzt wurden,
berücksichtigt werden dürfen, verpflichtet ebenfalls zur Überprüfung und
Anpassung der Nutzungspläne (Art. 21 Abs. 2 RPG). Ausserdem verlangt es,
dass die Richtpläne, die zufolge ihrer für die Behörden verbindlichen
Wirkung allenfalls zu einer Änderung der Nutzungspläne führen müssen, in
der Regel alle 10 Jahre gesamthaft überprüft und nötigenfalls überarbeitet
werden (Art. 9 Abs. 2 und 3 RPG). Dabei sind die Planungsgrundsätze zu
beachten, welche verlangen, dass die Landschaft zu schonen ist und die
Siedlungen nach den Bedürfnissen der Bevölkerung zu gestalten und in ihrer
Ausdehnung zu begrenzen sind (Art. 3 Abs. 2 und 3 RPG). U.a. sollen die
Wohngebiete von schädlichen und lästigen Einwirkungen verschont werden
(Art. 3 Abs. 3 lit. b RPG). Das aargauische Baugesetz ordnet deshalb an,
dass die Trennung der Industrie- und Gewerbezonen von den übrigen Zonen
anzustreben sei (§ 132 Abs. 2).

    c) Im Lichte dieser Grundsätze kann der Auffassung der
Beschwerdeführerin nicht gefolgt werden, das Ausmass einer
Industriezone dürfe nicht in Relation gesetzt werden zur Grösse des
übrigen Gemeindegebietes. Die Berücksichtigung sowohl der natürlichen
Gegebenheiten als auch der Bedürfnisse von Bevölkerung und Wirtschaft
(Art. 1 Abs. 1 RPG) erfordert vielmehr eine Gesamtschau. Diese schliesst
zwar nicht aus, dass eine Industriezone flächenmässig grösser sein
kann als die Wohnzonen. Doch müssen die für eine weitere industrielle
Entwicklung zur Verfügung stehenden Reserven in Einklang stehen mit dem
Ziel, wohnliche Siedlungen zu schaffen und zu erhalten.

    Bei der Abwägung der hiefür massgebenden Faktoren kommt der
Würdigung der örtlichen Verhältnisse naturgemäss grosses Gewicht
zu. Auch hat das Bundesgericht wiederholt erkannt, dass sich bei der
Schaffung und Abgrenzung der Bauzonen ausgesprochene Ermessensfragen
stellen (BGE 105 Ia 227 E. 2b; 103 Ia 252 E. 2a). Es hat daher auch
bei der grundsätzlich freien Prüfung des öffentlichen Interesses den
Beurteilungs- und Ermessensspielraum der kommunalen und kantonalen Behörden
zu respektieren. Es kann nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen der
kantonalen Instanzen setzen. Vielmehr hat es zu prüfen, ob die zuständigen
Behörden im Rahmen pflichtgemässen Ermessens entschieden haben.

    d) Bei der Annahme, die bestehende Industriezone gemäss dem
Teilzonenplan von 1954 sei zu gross, haben die Behörden erwogen, dass
seit deren Festsetzung, somit seit über 25 Jahren, die Beschwerdeführerin
für ihren Fabrikationsbetrieb nur einen kleineren Teil des zwischen
Bahnlinie und Rhein gelegenen Areales in Anspruch nahm und dass sie nicht
in der Lage war, klare Angaben über ihre Ausbaupläne in räumlicher und
zeitlicher Hinsicht zu geben. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin
bestätigen die gegenwärtige Ungewissheit. Sie anerkennt, dass es offen
sei, wann die unternehmerische Entscheidung gefällt werde, welche die
Verdoppelung oder "Vermehrfachung" der heutigen Werkgrösse in Full nach
sich ziehen könne. Es hänge dies, abgesehen von der wirtschaftlichen und
politischen Entwicklung im allgemeinen, unter anderem davon ab, wie sich
die Verhältnisse im Stammbetrieb in Ütikon entwickeln und wie die Frage
der Rheinschiffahrt schliesslich entschieden werde.

    Gewiss ist der Beschwerdeführerin darin beizupflichten, dass der
Landbedarf für ein industrielles Unternehmen nicht in gleicher Weise
ermittelt werden kann, wie dies für die Schätzung des Ausmasses der
Wohnzonen mit Hilfe von Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung und
den Flächenbedarf pro Einwohner zutrifft. Bei den für den Landbedarf
wesentlichen unternehmerischen Entscheiden sind hingegen - wie bereits
festgestellt wurde - auch die Anliegen der Raumplanung zu berücksichtigen
und die Grenzen zu respektieren, die sich mit Rücksicht auf die Schaffung
und Erhaltung wohnlicher Siedlungen ergeben.

    Bei der Beurteilung des Ausmasses der Industriezone durften daher
die Behörden trotz der Schwierigkeit, den voraussichtlichen Landbedarf
abzuschätzen, mit Recht die bisherigen Erfahrungen über die Entwicklung des
Werkes Full berücksichtigen und feststellen, dass innerhalb der definitiven
Industriezone zwischen Bahnlinie und Rhein noch grosse Raumreserven
vorhanden sind. Der Augenschein hat dies bestätigt. Der entlang dem
Rhein angeordnete, mit Rücksicht auf den Schutz der Landschaft und des
Rheinufers gerechtfertigte Grünzonenstreifen (Art. 17 Abs. 1 lit. a RPG)
führt zu keiner ins Gewicht fallenden Beschneidung des für industrielle
Zwecke nutzbaren, sich vollständig im Besitz der Beschwerdeführerin
befindenden Landes.

    Die Behörden hatten sich ausserdem von der auch der aargauischen
Praxis zugrunde liegenden Regel leiten zu lassen, dass die definitiven
Bauzonen ausser dem überbauten Gebiet das Land umfassen sollen, das
voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt und erschlossen wird (Art. 15
RPG; ERICH ZIMMERLIN, Kommentar zum aargauischen Baugesetz, N. 6 zu §
128). Wird berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin, wie dies die
Aussagen ihres Direktors an der Augenscheinverhandlung bestätigt haben,
noch nicht in der Lage ist, den Zeitpunkt der zu treffenden Entscheide und
deren Tragweite für den Landbedarf vorauszusehen, so kann den Behörden
keine Pflichtwidrigkeit bei der Ermessensausübung vorgeworfen werden,
wenn sie dasjenige Areal der definitiven Industriezone zugewiesen haben,
über das die Beschwerdeführerin für Betriebserweiterungen jederzeit
verfügen kann.

    Es trifft freilich zu, dass eine weitsichtige Unternehmensführung
ihre Planung nicht auf 10 bis 15 Jahre beschränken kann. Doch legt
der Zonenplan die Beschwerdeführerin auch nicht auf das definitive
Industriezoneareal fest. Vielmehr sieht er südlich der Bahnlinie eine
Industriezone zweiter Etappe vor, deren Ausmass grösser ist als die
definitive Industriezone nördlich der Bahnlinie. Ausserdem bezeichnet er
auch nördlich der Bahnlinie zusätzliches Industrie- und Gewerbeareal. Eine
derartige Festlegung für eine mittelfristige Entwicklung von in der
Regel 20 bis 25 Jahren (E. ZIMMERLIN, aaO N. 6 zu § 128, S. 337) ist
zulässig (BGE 104 Ia 140 ff. E. 4b und c) und widerspricht auch nicht den
Grundsätzen des eidgenössischen Raumplanungsgesetzes (Art. 18 Abs. 2). Sie
räumt der Beschwerdeführerin einen weiten Spielraum für die zu treffenden
unternehmerischen Entscheidungen ein. Flächenmässig erlauben die definitive
und die zusätzliche Industriezone weit mehr als nur eine Verdoppelung
des heute für die Fabrikation beanspruchten Areales. Ausserdem ist der
erwähnte Grundsatz der Anpassung der Planungen an veränderte Verhältnisse
zu beachten. Sollte die Beschwerdeführerin aufgrund einer von ihr zu
erarbeitenden Gesamtkonzeption für den Ausbau des Werkes Full zum Schluss
gelangen, dass die bestehende und die zusätzliche Industriezone für ihre
Bedürfnisse nicht ausreiche, so steht es ihr frei, den Behörden ein Gesuch
um Erweiterung der Industriezone zu stellen.

    Werden die dargelegten Gegebenheiten sowie die befristete Natur der
Planfestsetzungen beachtet, so erscheint die Feststellung der zuständigen
Behörden, die Ausdehnung der Industriezone gemäss dem Teilzonenplan aus
dem Jahre 1954 sei zu gross, keineswegs als unzutreffend. Die Behörden
durften daher bei der Ausarbeitung einer den heutigen Anforderungen der
Raumplanung entsprechenden Ortsplanung deren Verkleinerung ins Auge fassen.

    Nachdem seit der Festsetzung der Industriezone im Jahre 1954
über 25 Jahre verstrichen sind und sich seither das kantonale und das
eidgenössische Bau- und Planungsrecht wesentlich entwickelt hat, geht das
öffentliche Interesse an einer befriedigenden Ortsplanung dem Vertrauen
in die Beständigkeit des früheren Planes vor (nicht veröffentlichtes
Urteil Ernst & Co. vom 16. Mai 1979, E. 4a S. 11). Das Vertrauen, das
die Beschwerdeführerin mit Rücksicht darauf, dass die Industriezone
weitgehend in ihrem Interesse geschaffen wurde, in den Bestand der
Planfestsetzung haben durfte, fällt freilich stark ins Gewicht (BGE 102
Ia 338 E. 3d). Entgegen ihrer Auffassung vermag es jedoch das öffentliche
Interesse an der Planänderung, zu der die Behörden auch aufgrund des am
2. Februar 1971 erlassenen aargauischen Baugesetzes verpflichtet sind,
nicht zu überwiegen, nachdem sich das Werk Full, wie die Beschwerdeführerin
anerkennt, seit der Erstellung der ersten Werkanlagen kaum wesentlich
vergrössert hat und das verbleibende Ausmass der Industriezone der ersten
und der zweiten Etappe ihr nach wie vor grosse Möglichkeiten für eine
Ausdehnung ihres Werkes belässt.