Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IA 234



107 Ia 234

47. Urteil der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung vom 27. November
1981 i.S. Wyss gegen Gemeinderat Altdorf und Regierungsrat des Kantons
Uri (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Meinungsäusserungs- bzw. Informationsfreiheit Einsicht in das
Steuerregister.

    Die Weigerung einer urnerischen Gemeinde, einem in der Gemeinde
wohnhaften Steuerpflichtigen die Einsichtnahme in das Steuerregister zu
gestatten, ist mit dem kantonalen Recht unvereinbar und verstösst gegen
die Informationsfreiheit.

Sachverhalt

    A.- Art. 57 Abs. 1 des Steuergesetzes des Kantons Uri vom 16.  Mai 1965
(StG) bestimmt:

    "Die Steuerorgane haben über die Verhältnisse der Steuerpflichtigen,
   von denen sie in Ausübung ihres Amtes Kenntnis erhalten, sowie über die

    Verhandlungen in den Behörden strenge Verschwiegenheit zu
beobachten. Die

    Schweigepflicht besteht nicht gegenüber anderen inländischen

    Steuerbehörden. Das Recht des Steuerpflichtigen, Einsicht in die

    Steuerregister zu verlangen, bleibt vorbehalten."

    Art. 2 der dazugehörenden Vollziehungsverordnung vom 30. Oktober
1968 lautet:

    "Steuerauszüge und die Bekanntgabe von Einzelheiten, die im Register
   nicht enthalten sind, sind verboten. Dem Steuerpflichtigen steht die

    Einsicht in das Steuerregister jener Gemeinde offen, in welcher er
   unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtig ist."

    Regula Wyss verlangte am 24. September 1979 auf der
Gemeindekanzlei Altdorf Einblick in das Steuerregister bezüglich
zweier Altdorfer Steuerzahler. Nachdem ihr der Einblick bezüglich
eines Unselbständigerwerbenden gewährt worden war, verweigerte man ihr
diesen bezüglich eines Altdorfer Arztes mit dem Hinweis, dass sie als
Arbeitnehmerin nur in die Steuerfaktoren von Arbeitnehmern, nicht aber
von Selbständigerwerbenden Einsicht nehmen könne. Eine dagegen gerichtete
Beschwerde wies sowohl der Gemeinderat Altdorf als auch der Regierungsrat
des Kantons Uri ab.

    Regula Wyss führt staatsrechtliche Beschwerde mit den Anträgen,
der Entscheid des Regierungsrates vom 11. November 1980 sei aufzuheben
und Art. 2 der Vollziehungsverordnung sei die künftige Anwendbarkeit zu
versagen. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich, soweit erforderlich,
aus den nachfolgenden Erwägungen.

    Der Gemeinderat von Altdorf verzichtet auf eine Vernehmlassung und
der Regierungsrat des Kantons Uri beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung des
regierungsrätlichen Entscheides. Sinngemäss ist damit aber offensichtlich
nur Ziff. 1 des Dispositivs (Abweisung der Beschwerde) gemeint, nicht
aber Ziff. 2 (Verzicht auf Kostenerhebung) und Ziff. 3 (Weisung an
die Finanzdirektion zur Vorbereitung von Weisungen nach Eintritt der
Rechtskraft des Entscheides). Im übrigen wäre die Beschwerdeführerin zur
Anfechtung der regierungsinternen Weisung auch gar nicht befugt.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde kann nur die Aufhebung des
angefochtenen Entscheides verlangt werden. Auf den Antrag der
Beschwerdeführerin, Art. 2 der Vollziehungsverordnung sei die
künftige Anwendbarkeit zu versagen, kann deshalb nicht eingetreten
werden. Im übrigen ist die Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall von
der beanstandeten Verordnungsbestimmung nicht negativ betroffen, weil
sie deren einschränkende Voraussetzung (Steuerpflicht am Ort, wo die
Einsichtnahme verlangt wird) erfüllt.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie habe einen Anspruch
darauf, Einsicht in das Steuerregister zu nehmen.

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gewährleistet die
Meinungsäusserungsfreiheit die Freiheit der Meinung, die Freiheit zum
Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Meinungen einschliesslich
der Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten. Die
Meinungsäusserungsfreiheit umfasst daher auch die Informationsfreiheit
als Anspruch, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten
(BGE 105 Ia 182 E. 2a mit Hinweisen). ob die Steuerregister als allgemein
zugängliche Informationsquellen zu betrachten sind, ergibt sich aus
dem kantonalen Recht. Das Bundesgericht überprüft die Auslegung und
Anwendung kantonalen Rechts der Gesetzes- oder Verordnungsstufe lediglich
auf Willkür, da vorliegend kein schwerer Eingriff in das in Frage stehende
Grundrecht zur Beurteilung steht (BGE 105 Ia 184 E. 3b mit Hinweis).

Erwägung 3

    3.- Der Regierungsrat anerkennt ausdrücklich, dass es sich ursprünglich
beim Steuerregister um ein öffentliches Register gehandelt habe,
in das jeder Steuerpflichtige ohne Vorbedingung habe Einsicht nehmen
können und das sogar von gewissen Gemeinden in Form einer Broschüre
veröffentlicht worden sei. Er macht aber geltend, die entstehungszeitliche
Auslegungsmethode dürfe hier nicht angewandt werden. Der heutige Wortlaut
der fraglichen Bestimmung gehe auf das Steuergesetz von 1955 zurück,
zu welcher Zeit das praktizierte Einsichtsrecht, welches Gegenstand
des Vorbehaltes bildete, bereits fernliegender Vergangenheit angehört
habe. Das vom Gesetzgeber nur vorbehaltsweise erwähnte, von ihm jedoch
seit langem nicht mehr definierte Einsichtsrecht müsse geltungszeitlich,
d.h. im Lichte der heute bestehenden Rechtsauffassung ausgelegt werden.

    Die erwähnte geltungszeitliche Interpretation des Einsichtsrechtes
nach Art. 57 StG ist vom Regierungsrat als letzter kantonaler Instanz
offensichtlich erstmals im vorliegenden Fall angewandt worden. Dieser
Schluss ist nicht nur daraus zu ziehen, dass sich der Regierungsrat
auf keinerlei Präjudizien stützt, sondern insbesondere aus dem
im Zusammenhang mit der Kostenfrage gemachten Hinweis, es habe im
Interesse des Gemeinwesens (d.h. der Gemeinde Altdorf) gelegen, dass
die Beschwerdeinstanz (d.h. der Regierungsrat) Gelegenheit bekam,
das Problem zu überdenken. Wenn ferner der Regierungsrat im gleichen
Zusammenhang erklärt, es liege am unklaren Wortlaut des Gesetzes und
an der dadurch bewirkten bisherigen Praxis der Behörden, wenn die
Beschwerdeführerin zur Auffassung verleitet wurde, es stehe ihr ein
formelles und voraussetzungsfreies Einsichtsrecht zu, so ist das wohl dahin
zu verstehen, dass auch bei den untergeordneten Steuerbehörden noch keine
Praxis im Sinne der nunmehrigen Gesetzesinterpretation des Regierungsrates
bestand. Bezeichnenderweise ist denn auch das Einsichtsbegehren der
Beschwerdeführerin vom Gemeindesteueramt und danach vom Gemeinderat mit
je einer abweichenden Begründung abgelehnt worden, und der Regierungsrat
seinerseits hat beide Begründungen als unhaltbar bezeichnet. Selbst im
Rundschreiben der kantonalen Steuerverwaltung an die Gemeindesteuerämter
vom 28. Februar 1977 ist noch mit keinem Wort von einer Vorbedingung im
Sinne eines wie immer gearteten Interessennachweises die Rede.

Erwägung 4

    4.- a) Die vom Regierungsrat in Anspruch genommene "geltungszeitliche
Gesetzesinterpretation" entspricht der sog. objektiv-zeitgemässen
Auslegung. Grundsätzlich darf in objektiv-zeitgemässer Auslegung einer
Gesetzesnorm ein Sinn gegeben werden, der für den historischen Gesetzgeber
infolge eines Wandels der tatsächlichen Verhältnisse nicht voraussehbar
war und in der bisherigen Anwendung auch nicht zum Ausdruck gekommen ist,
wenn er noch mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbar ist (BGE 103 Ia 403
mit Hinweis).

    b) Zur Begründung seiner Praxisänderung geht der Regierungsrat
davon aus, dass sich in der Praxis betreffend die Öffentlichkeit
des Steuerregisters erstmals im Steuergesetz von 1955 eine gewisse
Sensibilisierung des Problems angedeutet habe, und zwar in der Hinsicht,
dass nunmehr das Amtsgeheimnis in Steuersachen, welches bis anhin einer
positiven Regelung gar nicht gewürdigt worden sei, in Art. 50 Abs. 1
neu eingeführt und in den Vordergrund gerückt worden sei. Ausserdem
habe der Regierungsrat in seinem Beschluss vom 1. Mai 1957 erklärt,
dass die Veröffentlichung des Steuerregisters mit den Bestimmungen des
Steuergesetzes nicht vereinbar sei. Diese Hinweise besagen aber keineswegs,
dass sich die Verhältnisse bzw. die Anschauungen zur Frage des bis anhin
unbedingten Einsichtsrechtes des Steuerpflichtigen ins Steuerregister
wesentlich geändert hätten. Selbst wenn vor 1955 überhaupt keine
Schweigepflicht in Steuersachen bestanden haben und diese Schweigepflicht
erst 1955 neu eingeführt worden sein sollte, zeigt doch gerade die lapidare
Kürze, mit welcher das Einsichtsrecht ins Steuerregister vorbehalten
wurde, dass diesbezüglich am bis anhin praktizierten Rechtszustand nichts
geändert werden sollte. Es handelt sich um eine auf zwei Fakten, nämlich
auf die Höhe von Einkommen und Vermögen beschränkte Ausnahmebestimmung
zur generellen Schweigepflicht, die sich ihrerseits auf alle übrigen,
für den Steuerpflichtigen weitaus wichtigeren Details der Steuerakten
erstreckt. Auch im Regierungsratsbeschluss vom 1. Mai 1957, welcher die
Unzulässigkeit der Veröffentlichung des Steuerregisters feststellte, wurde
das Einsichtsrecht als solches ohne jede Einschränkung vorbehalten. In der
Folgezeit hat sich an der Praxis der Steuerbehörden zum Einsichtsrecht
ohne Interessennachweis bis zum nunmehr angefochtenen Entscheid des
Regierungsrates nichts geändert. Offenbar ist aber auch beim Stimmbürger
in diesem Punkt kein Gesinnungswandel eingetreten, ist doch im neuen,
heute noch geltenden Steuergesetz von 1965 das Einsichtsrecht wörtlich
aus dem Gesetz von 1955 übernommen worden und selbst bei der neuesten
Revision von 1980 unverändert geblieben.

    c) In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass auch aus
gesamtschweizerischer Sicht nicht die Rede davon sein kann, dass
das Einsichtsrecht in die Steuerregister ohne Interessennachweis der
heutigen allgemeinen Auffassung widerspreche und überholt sei. Die
Steuerregister sind lediglich in den drei Kantonen Basel-Stadt, Genf und
Glarus geheim. Das gleiche gilt für das Wehrsteuerrecht des Bundes. Nur
mit Interessennachweis (in mehr oder weniger strenger Form) wird das
Einsichtsrecht gewährt von den vier Kantonen Appenzell-I.Rh., Basel-Land,
Graubünden, St. Gallen. Die acht Kantone Appenzell-A.Rh., Nidwalden,
Schaffhausen, Schwyz, Thurgau (evt. sogar Veröffentlichung), Wallis,
Waadt und Zürich kennen das Einsichtsrecht ohne Interessennachweis,
und in den restlichen zehn Kantonen Aargau, Bern, Freiburg, Jura (als
neuer Kanton), Luzern, Neuenburg, Obwalden, Solothurn, Zug und Tessin
ist in irgend einer Form die öffentliche Auflage und teils sogar die
Veröffentlichung der Steuerregister vorgesehen.

    d) Der Regierungsrat begründet denn auch seine Praxisänderung
lediglich mit seiner eigenen Auffassung, dass die Steuerkontrolle
intensiver und der Steuerpflichtige datenschutzempfindlicher geworden
sei und dass das Recht auf Einsicht in die Steuerregister mit einem sehr
grundlegenden, rechtsgrundlagemässig mit Verfassungsrang abgestützten
Menschenrecht auf Wahrung der persönlichen Sphäre kollidiere. Dass das
ohne Interessennachweis gewährte Einsichtsrecht in das Steuerregister
einen Rechtsgrundsatz von Verfassungsrang verletzen würde, ist bisher
noch nie anerkannt worden und es ist auch nicht anzunehmen, dass dies
je der Fall sein wird, solange acht Kantone die Einsicht ohne diese
Vorbedingung gewähren und in weiteren zehn Kantonen die Steuerregister
sogar (mehr oder weniger) öffentlich aufgelegt werden.

Erwägung 5

    5.- Die Auffassung des Regierungsrates, dass das Einsichtsrecht
in das Steuerregister von einem Interessennachweis abhängig gemacht
werden sollte, ist zwar an sich durchaus vertretbar. Im vorliegenden
Fall führt jedoch die neue Gesetzesinterpretation des Regierungsrates
zu einer eigentlichen Zäsur gegenüber einer von jeher, jedenfalls seit
über einem Jahrhundert bestehenden Rechtspraxis. Unter diesen Umständen
hätte die Rechtsänderung, die zwar einerseits dem an der Geheimhaltung
des Steuerregisters interessierten Steuerpflichtigen einen höheren
Schutz bringt, anderseits aber die Rechtsstellung der am Einsichtsrecht
interessierten Steuerpflichtigen schmälert, vom Gesetzgeber vorgenommen
werden müssen. Die Vornahme einer solchen Rechtsänderung auf dem Wege einer
lediglich auf dem Sinneswandel der Regierung beruhenden Neuinterpretation
einer Gesetzesbestimmung, deren Änderung dem Stimmbürger trotz mehrfacher
Gesetzesrevisionen nicht notwendig erschien, muss als willkürlich
betrachtet werden, und die Beschwerde ist in diesem Punkte gutzuheissen.

Erwägung 6

    6.- Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden keine Gerichtskosten
erhoben (Art. 156 Abs. 2 OG).

    Der Beschwerdeführerin wird keine Parteientschädigung zugesprochen,
da sie vor Bundesgericht nicht durch einen Anwalt vertreten ist und eine
Umtriebsentschädigung nicht geltend macht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf eingetreten werden
kann, und Ziff. 1 des Entscheides des Regierungsrates des Kantons Uri
vom 11. November 1980 wird aufgehoben.