Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IA 212



107 Ia 212

43. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. Dezember 1981
i.S. R.H. gegen Staatsanwaltschaft und Kassationsgericht des Kantons
Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV. Beweiswürdigung, Rechtsverweigerung.

    Das aus einem anderen Verfahren beigezogene Gutachten, welches sich
zu einer abstrakt-wissenschaftlichen Fachfrage äussert und nicht auf
den Einzelfall zugeschnitten ist, kann prozessual einer Äusserung im
wissenschaftlichen Schrifttum gleichgestellt werden; die Anwendung
der für formelle Beweismittel geltenden Vorschriften ist nicht
erforderlich. Gleiches gilt für den Beizug des Einvernahmeprotokolls
der in einem anderen Verfahren gemachten Aussage eines Gutachters mit
abstrakt-wissenschaftlichem Gehalt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht hatte zur Frage der Gefährlichkeit von Kokain
für die Gesundheit des Menschen verschiedene Gutachten und gutachtliche
Berichte aus anderen, den Beschwerdeführer nicht betreffenden Verfahren
beigezogen und deren Kopien zu den Akten genommen. Es tat dies in der
Überlegung, dass die fraglichen Gutachten den Charakter allgemeiner
Berichte im Sinne von Fachliteratur hätten, auf welche ein Gericht ohne
weiteres abstellen dürfe. Diese Auffassung wurde vom Kassationsgericht
geteilt, zumal der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt habe, zu ihnen
Stellung zu nehmen.

    H. findet, die Gutachten genügten den formellen Erfordernissen der §§
113 und 114 ZH/StPO nicht und hinsichtlich der in einem anderen Verfahren
gemachten Zeugenaussagen Dr. X., in welchen dieser sein Gutachten bestätigt
hatte, liege ein Verstoss gegen die §§ 14 und 15 ZH/StPO vor.

    Die Beschwerde legt nicht dar, inwiefern die Auffassung,
dass die aus anderen Verfahren beigezogenen Gutachten wegen ihres
abstrakt-wissenschaftlichen Gehalts zur Frage der Gefährlichkeit von Kokain
die Bedeutung von Fachliteratur hätten und daher vom Richter gleich dieser
beigezogen werden durften, sachlich nicht vertretbar sei. In der Tat ist
nicht einzusehen, wieso in einem früheren Verfahren eingeholte gutachtliche
Berichte, die nicht auf einen Einzelfall zugeschnitten, sondern von
allgemeiner wissenschaftlicher Tragweite sind, nicht gleich einer
wissenschaftlichen Fachschrift vom Richter in Fällen sollten herangezogen
werden dürfen, die mit dem früheren Verfahren nicht zusammenhängen. Ihrem
Gehalt nach - und darauf allein kommt es an, nicht auf ihre Form - sind
sie von einer im Schrifttum erschienenen wissenschaftlichen Publikation
nicht wesentlich verschieden. Wo der Richter aber auf sie zurückgreift,
erhebt er nicht ein Beweismittel und verfährt er auch nicht im Sinne
der §§ 109 ff. ZH/StPO, sondern zieht er eine Schrift heran, wie wenn
er ein Buch über den einschlägigen Fachbereich konsultierte. Das gilt
ebenso für die von einem Wissenschaftler in einem anderen Verfahren als
"Zeugen" gemachten Aussagen, in welchen er sich abstrakt zu bestimmten
Fachfragen geäussert und seine schriftlichen Ausführungen präzisierend
bestätigt hat. Das Einvernahmeprotokoll wird hier vom Richter nicht
als Beweismittel im strafprozessualen Sinn beigezogen, sondern als
eine Schrift mit abstrakt-wissenschaftlichem Gehalt zu einer bestimmten
Fachfrage. Die §§ 14 und 15 ZH/StPO fallen deshalb ausser Betracht. Ist
dem aber so, hat das Kassationsgericht weder §§ 113 und 115, noch §§ 14
und 15 ZH/StPO willkürlich ausgelegt oder angewendet, wenn es im Beizug
jener gutachtlichen Berichte und Aussagen, die ja nicht nur dem Gericht,
sondern auch dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger zur Verfügung
standen und von ihnen auch herangezogen wurden, keinen Kassationsgrund
gesehen hat. Im übrigen pflegt auch das Bundesgericht immer wieder
auf früher von ihm selbst oder einer anderen Behörde eingeholte
Gutachten zu bestimmen Fachfragen gleich wie auf wissenschaftliche
Veröffentlichungen zurückzugreifen (z.B. auf das in BGE 90 IV 163
wiedergegebene Gutachten; das vom EJPD eingeholte Gutachten über die
Auswirkungen des Schlusssturztrunks usw.).

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.