Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IA 168



107 Ia 168

33. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. September 1981
i.S. L. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn und Obergericht
(Strafkammer) des Kantons Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 151 Abs. 2/35 Abs. 1 OG. Verspätete Leistung des Kostenvorschusses
durch Erfüllungsgehilfen. Wiederherstellung gegen die Folgen der
Versäumnis.

    Art. 35 OG lässt die Wiederherstellung nur zu, wenn weder der
Partei noch ihrem Vertreter für die Versäumnis ein Vorwurf gemacht
werden kann. Bedient sich die Partei oder ihr Vertreter zur Erfüllung
der Kostenvorschusspflicht eines Erfüllungsgehilfen, so muss sie bzw. ihr
Anwalt sich das Verhalten der Hilfsperson wie ein eigenes anrechnen lassen
(Art. 101 OR). Hilfsperson ist dabei nicht nur, wer der Autorität der
Partei oder ihres Vertreters untersteht, sondern jeder Erfüllungsgehilfe,
auch wenn zu ihm kein ständiges Rechtsverhältnis besteht (E. 2a u. c).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 22. Juni 1981 wurde L., die am 15. Juni 1981
gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 15. Januar
1981 staatsrechtliche Beschwerde eingereicht hatte, vom Bundesgericht
aufgefordert, bis zum 6. Juli 1981 einen Kostenvorschuss von Fr. 900.--
zu leisten. Da Frau L. nicht in der Lage gewesen wäre, diesen Betrag
zu bezahlen, und sich ihre Haftpflichtversicherung, die Schweizerische
National-Versicherung, bereit erklärt hatte, ihr insoweit beizustehen,
setzte sich der Verteidiger telefonisch mit einem Vertreter der
Versicherung in Verbindung und ersuchte ihn, den Betrag von Fr. 900.--
an die Bundesgerichtskasse zu überweisen, wobei es ihn darauf aufmerksam
gemacht haben soll, dass der Betrag bis spätestens 6. Juli 1981 einbezahlt
werden müsse. Am 24. Juni 1981 übermittelte der Anwalt der Versicherung die
bundesgerichtliche Verfügung vom 22. Juni 1981 samt dem Einzahlungsschein
der Bundesgerichtskasse und einem beigehefteten roten Avis. Am 9. Juli
1981 erhielt indes der Verteidiger der Frau L. mit der Post von der
Schweizerischen National-Versicherung den Betrag von Fr. 900.-- mit dem
Vermerk "Honorar Schadenfall vom 2.10.1979 13.79 L.C.B.". Die Versicherung
hatte irrtümlich angenommen, der Anwalt werde den Betrag selber an die
Bundesgerichtskasse einzahlen. Die Fr. 900.-- wurden gleichentags vom
Verteidiger dem Bundesgericht überwiesen.

    B.- Mit Eingabe vom 22. Juli 1981 ersucht Frau L. um Wiederherstellung
der Frist gemäss Art. 35 OG.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 35 Abs. 1 OG kann die Wiederherstellung gegen die Folgen
der Versäumnis einer Frist nur dann erteilt werden, wenn der Gesuchsteller
oder sein Vertreter durch ein unverschuldetes Hindernis abgehalten worden
ist, innert Frist zu handeln.

    a) Damit lässt das Gesetz die Wiederherstellung nur zu, wenn weder der
Partei noch ihrem Vertreter ein Vorwurf gemacht werden kann. Bedient sich
die Partei oder ihr Vertreter zur Erfüllung der Kostenvorschusspflicht
eines Erfüllungsgehilfen, so ist ihr bzw. dem Anwalt das Verhalten der
Hilfsperson wie ein eigenes zuzurechnen (Art. 101 OR); denn wer den
Vorteil hat, Pflichten durch eine Hilfsperson erfüllen zu lassen, der
soll auch die Nachteile daraus tragen (BGE 96 I 164, 94 I 251, 90 II 21,
87 IV 150, 85 II 47, 78 IV 133). Hilfsperson ist dabei nicht nur, wer der
Autorität der Partei oder ihres Vertreters untersteht (z.B. Angestellte des
Anwalts), sondern jeder Erfüllungsgehilfe; ein ständiges Rechtsverhältnis
zur Hilfsperson ist nicht nötig (BECKER, Kommentar, N. 9 ad Art. 101 OR;
OSER/SCHÖNENBERGER, Kommentar, N. 5 zu Art. 101 OR).

    b) Im vorliegenden Fall hatte der Verteidiger die Schweizerische
National-Versicherung ersucht, den von seiner Klientin zu leistenden
Kostenvorschuss direkt und innert Frist an die Bundesgerichtskasse
zu zahlen. Die Weisung wurde der Versicherung telefonisch erteilt,
von der Versicherung aber offensichtlich missverstanden mit der Folge,
dass sie den Betrag von Fr. 900.-- am 9. Juli 1981 dem Anwalt überwies in
der Annahme, dieser werde die Zahlung an das Bundesgericht leisten. Diese
Tatsache macht deutlich, dass der Anwalt seiner Sorgfaltspflicht nicht
genügt hat. Angesichts der Wichtigkeit der Rechtshandlung hätte er der
Versicherung den Inhalt des Telefongesprächs schriftlich bestätigen und
dabei unmissverständlich festhalten müssen, dass die Zahlung von ihr
selber direkt an die Bundesgerichtskasse zu leisten sei. Der Umstand,
dass der Anwalt der Versicherung die Verfügung des Bundesgerichts samt
Einzahlungsschein zustellte, reichte offensichtlich nicht aus, um ein
Missverständnis zu vermeiden; denn dass er bei dieser Gelegenheit
schriftlich festgehalten hätte, der Vorschuss sei abmachungsgemäss
unmittelbar von ihr an die Bundesgerichtskasse zu bezahlen, behauptet er
selber nicht.

    Wollte er aber von einer schriftlichen Bestätigung der telefonischen
Abmachung absehen, so hätte er zumindest kurze Zeit vor Ablauf der
Frist sich nochmals bei der Versicherung erkundigen müssen, ob sie
den Kostenvorschuss gezahlt habe. Dazu bestand umsomehr Anlass, als
Versicherungen - anders als Banken (s. BGE 104 II 63, 96 I 472) -
in solchen Angelegenheiten üblicherweise nicht als Erfüllungsgehilfen
eingesetzt werden, weshalb nicht mit einer entsprechenden Erfahrung
von ihrer Seite gerechnet werden konnte. Im vorliegenden Fall hat der
Verteidiger auch eine solche Vorsichtsmassnahme unterlassen. Die Säumnis
ist folglich auf sein eigenes Verschulden zurückzuführen.

    c) Selbst wenn man aber annehmen wollte, er habe seiner
persönlichen Sorgfaltspflicht genügt, d.h. dem Erfüllungsgehilfen eine
unmissverständliche Weisung gegeben, wäre das Ergebnis kein anderes. Gemäss
Art. 101 OR, welche Bestimmung nicht nur im rechtsgeschäftlichen Verkehr,
sondern auch im Verkehr zwischen Privaten und Amtsstellen (z.B. Gerichten)
anzuwenden ist (s. BGE 94 I 251 in fine), müsste sich der Anwalt das
diesfalls in der Missachtung einer klaren Anordnung bestehende Verhalten
der Hilfsperson wie sein eigenes anrechnen lassen. Als eigenes Handeln
des Verteidigers aber wäre ein solches ohne Zweifel schuldhaft (s. KELLER,
Haftpflicht im Privatrecht, 3. Aufl. S. 316).

Erwägung 3

    3.- Das Wiederherstellungsgesuch muss nach dem Gesagten abgewiesen
werden. Entsprechend ist auf die staatsrechtliche Beschwerde mangels
rechtzeitiger Leistung des Kostenvorschusses androhungsgemäss nicht
einzutreten.