Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IA 148



107 Ia 148

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 21. Oktober 1981 i.S. X. gegen Untersuchungsrichter 6 von Bern
und Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit, Art. 8 EMRK; Schutz des Briefgeheimnisses des
Untersuchungsgefangenen.

    Bei der Briefkontrolle ist darauf zu achten, dass das Personal,
welches die Post vom Untersuchungsrichter zum Untersuchungsgefangenen
und umgekehrt befördern muss, nicht in die Briefe Einsicht nehmen kann.

Sachverhalt

    A.- Der Untersuchungsgefangene X. reichte gegen den
Untersuchungsrichter 6 von Bern Beschwerde bei der Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern ein. Er rügte unter anderem, dass die für ihn
eingehende Post vom Untersuchungsrichter nach der Kontrolle unverschlossen
weitergegeben werde; durch dieses Vorgehen könnten zur Zensur nicht
befugte Dritte in seine Post Einsicht nehmen, was eine Verletzung des
Briefgeheimnisses bedeute. Die Anklagekammer des Obergerichts wies
die Beschwerde mit Beschluss vom 21. Juli 1981 ab. Hinsichtlich der
unverschlossenen Weitergabe der zensurierten Post vertrat sie die Ansicht,
die mit der Zustellung beauftragten Funktionäre handelten als Organe der
gerichtlichen Polizei und unterstünden dem Amtsgeheimnis; eine Verletzung
des Postgeheimnisses liege daher nicht vor.

    X. führt gegen den Entscheid der Anklagekammer staatsrechtliche
Beschwerde, soweit er sich auf die Frage der offenen Weiterleitung der
eingehenden Post bezieht.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Wenn der Untersuchungsrichter die für den Beschwerdeführer
eingehende Post nach der Kontrolle unverschlossen weitergibt,
kann das Gefängnispersonal, das die Briefe vom Untersuchungsrichter
zum Untersuchungsgefangenen befördern muss, vom Inhalt der für den
Beschwerdeführer bestimmten Post Kenntnis nehmen. Es steht somit ein
Eingriff in das Briefgeheimnis zur Diskussion. Art. 36 Abs. 4 BV, der die
Unverletzlichkeit des Post- und Telegraphengeheimnisses gewährleistet,
kommt hier jedoch nicht zur Anwendung, denn das Briefgeheimnis fällt nur
insoweit in den Schutzbereich dieser Vorschrift, als ein Eingriff durch die
Angestellten der Postverwaltung in Frage steht (BURCKHARDT, Kommentar zur
schweizerischen Bundesverfassung, 3. Aufl. 1931, S. 313; FRITZ FLEINER,
Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 505). Der Beschwerdeführer stützt
sich denn auch zu Recht nicht auf Art. 36 Abs. 4 BV, sondern beruft sich
auf das ungeschriebene verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit
bzw. der Intimsphäre sowie auf die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK). Es ist zu prüfen, ob das Vorgehen des Untersuchungsrichters unter
diesen beiden Gesichtspunkten zulässig ist.

    Gemäss Art. 122 Abs. 2 des Gesetzes über das Strafverfahren des
Kantons Bern (StrV) ist gegenüber Untersuchungsgefangenen jede unnötige
Strenge untersagt. Sie sollen in ihrer persönlichen Freiheit nur
soweit beschränkt werden, als es der Untersuchungszweck erheischt. Diese
kantonalrechtliche Bestimmung steht mit der vom Bundesgericht aus dem
verfassungsmässigen Recht auf persönliche Freiheit in Verbindung mit dem
Grundsatz der Verhältnismässigkeit abgeleiteten Regel im Einklang, wonach
die Freiheit des Untersuchungsgefangenen nur soweit beschränkt werden
darf, als der Zweck der Untersuchung oder die Anstaltsordnung es erfordern
(BGE 102 Ia 282 ff., 304 f.; 99 Ia 270 E. IV). Das gleiche ergibt sich
aus Art. 8 EMRK, der unter anderem die Freiheit des Briefverkehrs erwähnt
und die Voraussetzungen für deren Einschränkung umschreibt (vgl. BGE 106
Ia 140). Die Kontrolle der Korrespondenz von Untersuchungsgefangenen ist
mit Rücksicht auf den Untersuchungszweck unerlässlich und deshalb - von
bestimmten Ausnahmefällen abgesehen - zulässig; diese Zensur bildet denn
auch als solche nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde. Hingegen ist
nicht einzusehen, weshalb der Briefverkehr von Häftlingen noch von anderen
Personen als von dem mit der Kontrolle beauftragten Richter oder Beamten
sollte eingesehen werden können. Der Zweck der Untersuchung erfordert dies
nicht. Mit Gründen der Anstaltsordnung lässt sich die offene Weiterleitung
der zensurierten Post ebenfalls nicht rechtfertigen. Es bedeutet keinen
ins Gewicht fallenden Mehraufwand für den Untersuchungsrichter, den
kontrollierten Brief mit einem Klebstreifen oder auf andere Art wieder zu
verschliessen. In der deutschen Rechtslehre wird beispielsweise die Ansicht
vertreten, der Richter habe die eingehende Post nach der Zensurlektüre
in einem verschlossenen Begleitumschlag an den Untersuchungsgefangenen
weiterzuleiten (Kommentar LÖWE/ROSENBERG zur deutschen Strafprozessordnung,
23. Aufl., Band 2, N. 107 zu § 119). Weder bei diesem noch bei einem
allenfalls in Betracht zu ziehenden anderen System wird der Anstaltsbetrieb
in untragbarer Weise erschwert oder der Untersuchungsrichter übermässig
belastet, wenn die kontrollierte eingehende Post verschlossen an den
Untersuchungsgefangenen weitergeleitet werden muss. Was die ausgehende Post
betrifft, die zwar nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde bildet,
aber hier gleichwohl zu erwähnen ist, so kann ebenfalls nicht von einer
unzumutbaren Erschwerung des Anstaltsbetriebs gesprochen werden, wenn dem
Untersuchungsgefangenen gestattet wird, die von ihm verfassten Briefe
in einem verschlossenen Kuvert dem Untersuchungsrichter zur Kontrolle
zuzuleiten.

    Der Untersuchungsgefangene hat ein durchaus beachtliches Interesse
an der verschlossenen Weiterleitung der zensurierten eingehenden
Post. Der Eingriff in die Privatsphäre, der mit der Postkontrolle
verbunden ist, wirkt sich ungleich schwerer aus, wenn nicht nur der
Untersuchungsrichter, sondern auch die Gefängnisangestellten, mit denen
der Untersuchungsgefangene in täglichem Kontakt steht, vom Inhalt der
gesamten an ihn gerichteten Post Kenntnis erlangen können. Dass diese
Angestellten ebenfalls dem Amtsgeheimnis unterstehen, lässt den Schutz
- entgegen der Auffassung der Anklagekammer - nicht als entbehrlich
erscheinen. Die Verletzung des verfassungsmässigen Rechtes auf die
persönliche Intimsphäre liegt nicht bloss in der Gefahr, dass die
Gefängnisangestellten ihre Kenntnisse nach aussen weitergeben könnten,
sondern auch darin, dass sie diese überhaupt erlangen und allenfalls
(ohne dadurch gegen Art. 320 StGB zu verstossen) gegenüber dem Häftling
selbst in der einen oder andern Form davon Gebrauch machen könnten.

    Die unverschlossene Weiterleitung der kontrollierten eingehenden
Post bildet nach dem Gesagten eine "unnötige Strenge" gegenüber
dem Untersuchungsgefangenen (Art. 122 Abs. 2 StrV) und stellt einen
unverhältnismässigen Eingriff dar. Das Vorgehen des Untersuchungsrichters
6 von Bern ist daher unter dem Gesichtspunkt des verfassungsmässigen
Rechtes auf die persönliche Geheimsphäre wie auch aufgrund von Art. 8
EMRK unzulässig. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und der
Beschluss der Anklagekammer des Berner Obergerichts vom 21. Juli 1981
aufzuheben. Die Anklagekammer wird in ihrem neuen Entscheid auch die
Kostenfrage unter Berücksichtigung des Umstandes neu zu regeln haben,
dass der Beschwerdeführer mit seinen Anliegen teilweise durchgedrungen ist.