Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 107 IA 103



107 Ia 103

20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 23. September 1981 i.S. X. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; § 494 der zürcherischen Strafprozessordnung.

    Der Entscheid über ein Begnadigungsgesuch bedarf von Bundesrechts
wegen keiner Begründung (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Frau X. wurde im Laufe der letzten zehn Jahre mehrmals
strafrechtlich verurteilt. Bezüglich zweier im Kanton Zürich ausgefällter
Strafen von acht Monaten Gefängnis und zwei Jahren Zuchthaus reichte sie
beim Regierungsrat ein Begnadigungsgesuch ein, das sie in der Folge auf ein
drittes Urteil (sechs Monate Gefängnis) ausdehnte. Der Regierungsrat wies
das Gesuch ab. Gestützt auf § 494 der zürcherischen Strafprozessordnung,
wonach Beschlüsse über Begnadigungsgesuche nicht begründet werden,
verzichtete er auf eine Begründung. Frau X. erhob staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Das Bundesgericht weist die
Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 3

    3.- a) Das Bundesgericht hatte sich vor einiger Zeit bereits mit der
Frage zu befassen, ob Entscheide betreffend ein Begnadigungsgesuch von
Bundesrechts wegen einer Begründung bedürften. Es hat dies abgelehnt,
wobei es in den Erwägungen ausführte, Entscheide dieser Art gingen nicht
vom Richter aus, sondern stellten einen Hoheitsakt dar, der ausserhalb
des prozessualen Rechtsganges gewährt werde; eine schriftliche Begründung
sei daher nicht notwendig. Angesichts der für den Entscheid massgebenden
Gesichtspunkte wäre dessen Begründung auch nicht leicht möglich (BGE 95 I
546). Seither wurde die Frage, soweit ersichtlich, vor Bundesgericht nicht
mehr aufgeworfen. Dagegen haben sich mehrere schweizerische Autoren damit
befasst. SCHLATTER (Die Begnadigung im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1970,
S. 71) hält § 494 StPO als mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs schwer
vereinbar. Er glaubt, der Gesuchsteller benötige die Begründung, wenn
er ein Wiedererwägungsgesuch stellen wolle, und er verweist im gleichen
Zusammenhang auch auf die Möglichkeit einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
die aber nicht in Betracht fällt. REAL (Die Begnadigung im Kanton Aargau,
Diss. Zürich 1981, S. 202 f.) gelangt zum gleichen Ergebnis. Er stützt
sich darauf, dass nach neuerer bundesgerichtlicher Rechtsprechung jeder
eine Person belastende Verwaltungsakt mindestens summarisch zu begründen
sei, SCHULTZ (Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts,
3. A., Bd. I, S. 232 f.) behandelt die Frage, ob die Abweisung eines
Begnadigungsgesuches begründet werden müsse, an sich nicht, führt aber
aus, eine grundlos in Abweichung von einer langjährigen kantonalen Praxis
ausgesprochene Abweisung könnte mit Art. 4 BV kaum in Einklang gebracht
werden, obschon kein Anspruch auf Begnadigung bestehe. Im gleichen Sinne
wird das Problem erörtert von GEORG MÜLLER (Reservate staatlicher Willkür
- Grauzonen zwischen Rechtsfreiheit, Rechtsbindung und Rechtskontrolle,
in: Recht als Prozess und Gefüge, Festschrift für Hans Huber, 1981,
S. 111 ff. und 123). Dieser Autor unterscheidet zwischen der Bindung der
Begnadigungsbehörde an das Recht und der Überprüfbarkeit ihrer Entscheide
durch die Gerichte. Er gelangt zur Auffassung, die Grundsätze der
Rechtsgleichheit und des Willkürverbotes müssten auch beim Gnadenentscheid
respektiert werden, postuliert aber nicht dessen Unterstellung unter eine
gerichtliche Kontrolle. Erwähnt sei schliesslich, dass das deutsche
Bundesverfassungsgericht im Jahre 1969 fand, Entscheidungen betreffend
die Begnadigung unterlägen keiner richterlichen Nachprüfung, wobei sich
aus den Erwägungen schliessen lässt, dass auch eine Begründung nicht als
erforderlich betrachtet wurde; allerdings erging dieser Entscheid nur
mit 4:4 Stimmen (BVerfGE 25, 352 ff.).

    b) Prüft man die hier streitige Frage unter Berücksichtigung der
erwähnten Literatur und Rechtsprechung, so gelangt man zu folgenden
Schlüssen:

    Es ist unbestritten, dass der schweizerische Gesetzgeber - wie übrigens
die Gesetzgeber aller einer verwandten Rechtsauffassung verpflichteten
Staaten - die Begnadigung als Eingriff einer hohen politischen Behörde
in die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ausgestaltet hat, wobei es im
vorliegenden Zusammenhang unerheblich ist, ob das Begnadigungsrecht dem
Parlament oder der Kantonsregierung zusteht (vgl. zu dieser Frage BGE
95 I 542 ff.). Aus der Natur des Institutes sowie aus dem Schweigen des
Gesetzgebers hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen der Begnadigung
lässt sich schliessen, dass diese nicht nach abstrakt formulierbaren,
einheitlichen Regeln zugelassen oder ausgeschlossen werden sollte. Die
Beschwerdeführerin macht dies selbst nicht geltend. Bei der Ausübung des
Begnadigungsrechtes steht der zuständigen Behörde vielmehr ein praktisch
kaum begrenzbares freies Ermessen zu. Sie kann dieses Ermessen nicht nur
unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Gesuchstellers
ausüben, sondern sie darf daneben z.B. auch politische Gesichtspunkte in
Betracht ziehen. Den Überlegungen der angeführten Autoren, namentlich von
SCHULTZ und MÜLLER, wonach sich der Entscheid immerhin auf sachliche Gründe
müsse stützen können oder, mit anderen Worten, nicht willkürlich ergehen
dürfe, ist zwar zuzustimmen. Indessen handelt es sich hierbei um ein
rechtspolitisches Postulat, das nicht mit einer Sanktion verbunden ist. Es
darf als ausgeschlossen betrachtet werden, dass der Gesetzgeber auch
nur habe in Kauf nehmen wollen, dass sich in einer nach eidgenössischem
Recht zu beurteilenden Strafsache an die Fällung des rechtskräftigen
Entscheides nochmals ein gerichtliches Verfahren über die Strafwürdigkeit
des Beschuldigten anschliesse, wenn auch unter dem Titel "Begnadigung". Auf
nichts anderes aber liefe es hinaus, wenn das Bundesgericht für sich das
Recht in Anspruch nähme, kantonale Begnadigungsentscheide in der Sache
selbst unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbotes zu überprüfen.

    Damit kann sich allein noch die Frage stellen, ob eine
Begründungspflicht auch dann noch einen praktischen Sinn habe, wenn
davon ausgegangen wird, dass gegen den Entscheid ein Rechtsbehelf nicht
zur Verfügung steht. Dies ist zu verneinen. Als einziger Fall, in dem
es unter Umständen wünschbar sein könnte, die Gründe der Abweisung des
Gesuches zu kennen, kommt jener eines zweiten Begnadigungsverfahrens
in Frage. Indessen ist auch hier von grundlegender Bedeutung, dass die
Begnadigung ein besonderes, von der Rechtsprechung unabhängiges Institut
ist, über das eine politische Behörde mit praktisch unbegrenzt freiem
Ermessen entscheidet. Die Gründe für den früheren Entscheid können zwar
von Interesse sein, binden aber die Behörde in keiner Weise. Auch dieser
Gesichtspunkt führt somit nicht zur Annahme einer Begründungspflicht.
Abgesehen davon weiss der Gesuchsteller sehr wohl, mit welcher Begründung
er um Begnadigung nachsucht. Er ist daher bei Ablehnung seines
Gesuches selbst in der Lage, die Entscheidungsgründe der Behörde zu
ermessen. Schliesslich liegt in der Regel auch ein begründeter Antrag der
vorprüfenden Stelle bei den Akten, auf den nötigenfalls zurückgegriffen
werden könnte. Aus der nahezu vollkommenen Ermessensfreiheit der
Begnadigungsbehörde ergibt sich, dass ein praktisches Interesse der
Beschwerdeführerin an einer Begründung des Entscheids zu verneinen ist.

    Damit liesse sich eine Begründungspflicht für Entscheide in
Begnadigungssachen höchstens noch mit abstrakten Erwägungen (etwa im
Sinne der angeführten Ausführungen von GEORG MÜLLER) rechtfertigen. Dies
liefe jedoch auf eine formalistische Betrachtung hinaus, die hier nicht am
Platze ist, umso weniger, als in den meisten Kantonen alle oder ein Teil
der Begnadigungssachen vom Parlament entschieden werden und die Gründe
der Stimmabgabe der Parlamentarier nach der Natur der Sache überhaupt
nicht erfassbar sind. Es erscheint daher als geboten, in Bestätigung der
im Urteil BGE 95 I 542 ff. zum Ausdruck kommenden Auffassung aus Art. 4
BV keine Pflicht zur Begründung von Entscheiden in Begnadigungssachen
abzuleiten. Demgemäss ist die Beschwerde abzuweisen.