Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 86



106 V 86

20. Auszug aus dem Urteil vom 4. Juni 1980 i.S. Di Biagio gegen
Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn Regeste

    Art. 4 und 28 IVG. Die Verwaltungspraxis, wonach in der
Invalidenversicherung für den gleichen Gesundheitsschaden kein höherer
Invaliditätsgrad angenommen werden darf als in der obligatorischen
Unfallversicherung oder der Militärversicherung, ist nicht zu beanstanden.
Einschränkungen zu diesem Grundsatz.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 41 IVG sind laufende Renten für die Zukunft zu
erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben, wenn sich der Invaliditätsgrad in
einer für den Anspruch erheblichen Weise ändert. Anlass zur Rentenrevision
gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen,
die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu
beeinflussen. Ob eine solche Änderung eingetreten ist, beurteilt sich
durch Vergleich des Sachverhaltes, wie er im Zeitpunkt der ursprünglichen
Rentenverfügung bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der streitigen
Revisionsverfügung (BGE 105 V 29).

    b) Fehlen die in Art. 41 IVG genannten Voraussetzungen, so kann die
Rentenverfügung lediglich nach den für die Wiedererwägung rechtskräftiger
Verwaltungsverfügungen geltenden Regeln abgeändert werden. Danach
ist die Verwaltung befugt, auf eine formell rechtskräftige Verfügung
zurückzukommen, wenn sich diese als zweifellos unrichtig erweist und ihre
Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Sie ist verpflichtet, darauf
zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden,
die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE
102 V 17, 99 V 103, 98 V 104). Der Richter kann eine zu Unrecht ergangene
Revisionsverfügung gegebenenfalls mit der substituierten Begründung
schützen, dass die ursprüngliche Rentenverfügung zweifellos unrichtig
und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 105 V 29).

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür,
dass sich der Invaliditätsgrad in der Zeit nach Erlass der Verfügung vom
29. Januar 1979, mit welcher ab 1. Januar 1979 weiterhin eine halbe Rente
gewährt wurde, bis zum Erlass der Aufhebungsverfügung vom 14. März 1979
in einer für den Rentenanspruch erheblichen Weise geändert hätte. Die
Aufhebung der Rente erfolgte denn auch nicht revisionsweise, sondern im
Verfahren der Wiedererwägung, nachdem die Invalidenversicherungs-Kommission
Kenntnis davon erhalten hatte, dass die SUVA die Invalidität auf
lediglich einen Drittel geschätzt hatte. Die Kommission stützte sich dabei
sinngemäss auf Rz 288.1 der Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit,
gültig ab 1. Januar 1979 wonach in der Invalidenversicherung für den
gleichen Gesundheitsschaden kein höherer Invaliditätsgrad angenommen
werden darf als in der obligatorischen Unfallversicherung oder der
Militärversicherung; gelangt die Invalidenversicherungs-Kommission
zu einem abweichenden Invaliditätsgrad, ohne dass der Unterschied auf
vorbestandene oder begleitende Leiden zurückzuführen ist, die in der
Invalidenversicherung, nicht aber in der Unfallversicherung oder der
Militärversicherung zu berücksichtigen sind, so hat sie den Fall dem
Bundesamt für Sozialversicherung zu unterbreiten.

    b) Wie das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt ausgeführt hat,
stimmt der Invaliditätsbegriff in der Invalidenversicherung mit demjenigen
in der obligatorischen Unfallversicherung und der Militärversicherung
grundsätzlich überein (BGE 98 V 166, EVGE 1967 S. 22). In allen drei
Bereichen bedeutet er die durch einen versicherten Gesundheitsschaden
verursachte durchschnittliche Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten
auf dem für den Versicherten in Betracht fallenden ausgeglichenen
Arbeitsmarkt. Der Grad der Invalidität entspricht somit dem während einer
hinreichenden Dauer bestehenden durchschnittlichen Verhältnis zwischen
dem, was der Versicherte ohne Invalidität verdienen könnte, und dem,
was er trotz der versicherten Gesundheitsschädigung bei ausgeglichener
Arbeitsmarktlage zumutbarerweise zu erwerben fähig ist.

    Daraus folgt, dass die Invaliditätsschätzung in der
Invalidenversicherung, der obligatorischen Unfallversicherung und der
Militärversicherung, bezogen auf den gleichen Gesundheitsschaden, zum
gleichen Ergebnis führen muss. Es ist daher durchaus folgerichtig, wenn
auf dem Wege der Verwaltungsweisungen eine Regelung angestrebt wird, die
geeignet ist, unterschiedliche Beurteilungen des gleichen Sachverhaltes in
den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung zu vermeiden. Dass dabei
der SUVA bzw. der Militärversicherung der Vorrang bei der Feststellung
der Invalidität eingeräumt wurde, erscheint als naheliegend, verfügen
diese Sozialversicherungszweige doch über einen eigenen, gut ausgebauten
Apparat zur Beurteilung dieser Frage, was für die Invalidenversicherung
nicht in gleichem Masse zutrifft. Die Verwaltungsweisung, welche den
Invalidenversicherungs-Kommissionen die Möglichkeit entzieht, von sich
aus für den gleichen Gesundheitsschaden einen von der SUVA oder der
Militärversicherung abweichenden Invaliditätsgrad festzulegen, ist daher
nicht zu beanstanden.

    Damit ist entgegen dem, was die Vorinstanz anzunehmen scheint, nicht
gesagt, dass die Invaliditätsschätzung der SUVA bei ausschliesslich
unfallbedingtem Gesundheitsschaden für die Invalidenversicherung
in jedem Fall verbindlich ist. Ungeachtet des übereinstimmenden
Invaliditätsbegriffes ergeben sich aus der gesetzlichen Regelung
Unterschiede, die bei der Invaliditätsbemessung nicht unbeachtet bleiben
können. So kann sich eine unterschiedliche Beurteilung daraus ergeben,
dass die Renten der SUVA nur beschränkt revidierbar sind (Art. 80 Abs. 2
KUVG), wogegen solche der Invalidenversicherung grundsätzlich jederzeit
in Revision gezogen werden können (nicht veröffentlichtes Urteil vom
30. Mai 1980 i.S. Tamburino). Die Verwaltungsweisungen lassen daher zu
Recht eine von der allgemeinen Regel abweichende Beurteilung (durch die
Aufsichtsbehörde) zu. Im übrigen ist der Sozialversicherungsrichter an
die Verwaltungsweisungen nicht gebunden; doch soll er von gesetzmässigen
Weisungen nur abweichen, wenn ihm das Ergebnis im Einzelfall als fragwürdig
erscheint (vgl. BGE 101 V 87).