Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 81



106 V 81

19. Urteil vom 2. Juli 1980 i.S. Kaufmann gegen Ausgleichskasse des
Kantons Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 21 Abs. 2 IVG und Ziff. 15.02 HVI Anhang. Individuelle Abgabe
eines kostspieligen Hilfsmittels, wenn ein solches bereits in einem Heim
zur Verfügung steht (Präzisierung der Rechtsprechung; hier in bezug auf
automatische Schreibgeräte).

Sachverhalt

    A.- Die 1970 geborene Regula Kaufmann ist seit der Geburt körperlich
stark behindert. Sie leidet an einer schweren Athetose mit Spastizität
und kann grob- und feinmotorische Bewegungen nicht kontrollieren. Ferner
besteht eine Dysarthrie schwersten Grades; die zum Sprechen erforderliche
Kontrolle der Lippen sowie Kiefer- und Schluckbewegungen gelingen nicht. Im
Oktober 1975 wurde die Versicherte ins Schulheim Mätteli (Sonderschule
für das cerebral gelähmte Kind) in Emmenbrücke aufgenommen, wo sich bald
zeigte, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit gut entwickelt ist. Seit
Herbst 1977 besucht die Versicherte im Schulheim die Einführungsklasse. Vom
gleichen Zeitpunkt an wurden erste Versuche zur Bedienung des heimeigenen,
elektronisch gesteuerten Carba-Schreibgerätes durchgeführt.

    Im Februar 1979 ersuchte die Heimleitung um die leihweise individuelle
Abgabe eines Carba-Schreibgerätes (Steuerungsgehäuse, Monitor, Drucker
sowie pneumatischer Detektor) zum Preise von Fr. 15'515.--. Sie wies
darauf hin, dass die Versicherte an diesem Gerät selbständig arbeiten
könne und imstande sei, schriftlich am Unterricht teilzunehmen, Aufgaben zu
lösen, Texte von der Tafel abzuschreiben, Diktate niederzuschreiben sowie
eigene Gedanken festzuhalten; ohne eigenes Gerät wären die Förderungs-
und Kommunikationsmöglichkeiten auf die reine Schulzeit beschränkt, was
- insbesondere im Hinblick auf die relativ langen Schulferien - nicht
genüge. Nach Rückfrage beim Bundesamt für Sozialversicherung lehnte die
Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Luzern das Begehren mit
Beschluss vom 28. Mai 1979 ab. Sie führte dazu aus, dass eine individuelle
Abgabe frühestens nach der Schulentlassung in Betracht gezogen werden
könne; zur Zeit würde ein eigenes Gerät - gemessen am relativ geringen
erreichbaren Nutzen - zu hohe Kosten verursachen; überdies bedürfe
die Bedienung der Apparatur während des Lernprozesses fachkundiger
Anleitung, die zu Hause nicht möglich sei. Diesen Beschluss eröffnete
die Ausgleichskasse des Kantons Luzern dem Vater der Versicherten mit
Verfügung vom 7. Juni 1979.

    B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern mit Entscheid vom 20. Dezember 1979 ab. Da das
beantragte Schreibgerät ein kostspieliges Hilfsmittel sei, welches zur
notwendigen Ausrüstung des Schulheimes gehöre, könne eine individuelle
Abgabe nach der Rechtsprechung nicht in Betracht kommen.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die
Versicherte die leihweise Abgabe eines Carba-Schreibgerätes beantragen. Sie
macht u.a. geltend, dass sie inzwischen in wesentlichen Punkten
ausgebildet sei und nunmehr lesen und schreiben könne. Sie benötige das
Carba-Kommunikationsgerät zum persönlichen Gebrauch, da einzig damit eine
den intellektuellen Fähigkeiten entsprechende Selbständigkeit möglich sei.

    Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen und
festzustellen, dass der Versicherten ein Anspruch auf leihweise Abgabe
eines Carba-Schreibgerätes zustehe.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 21 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 14 lit.  a IVV
sowie Art. 2 Abs. 1 HVI und Ziff. 15.02 des Anhangs zur HVI gibt die
Invalidenversicherung automatische Schreibgeräte ab, sofern der Versicherte
infolge Lähmung sprech- und schreibunfähig ist und nur mit Hilfe eines
solchen Gerätes mit der Umwelt in Kontakt treten kann. Kostspielige
Hilfsmittel, die ihrer Art nach auch für andere Versicherte Verwendung
finden können, werden nur leihweise abgegeben (Art. 3 HVI).

    In BGE 100 V 45 hat das Eidg. Versicherungsgericht festgehalten,
dass es nicht Aufgabe der Invalidenversicherung ist, den Insassen von
Invalidenheimen kostspielige Hilfsmittel individuell abzugeben, wenn
diese zur notwendigen Ausrüstung des betreffenden Heimes gehören. An
dieser Rechtsprechung, welche im unveröffentlichten Urteil vom 9. Juni
1978 i.S. Blaser bestätigt wurde, ist grundsätzlich festzuhalten.

Erwägung 2

    2.- a) Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführerin -
seit Beginn der Schulausbildung im Herbst 1977 - während der Schulzeit
ein heimeigenes Carba-Schreibgerät zur Verfügung steht. Ferner ist
davon auszugehen, dass das zur individuellen Abgabe beantragte Gerät ein
kostspieliges Hilfsmittel ist, belaufen sich doch die Anschaffungskosten
gemäss Offerte der Lieferfirma auf insgesamt Fr. 15'515.--. Es fragt
sich indessen, ob im vorliegenden Fall überhaupt von der "Abgabe an einen
Heiminsassen" gesprochen werden kann.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung hat - wie es in seiner
Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde einlässlich darlegt -
die Problematik der individuellen Abgabe von automatischen Schreibgeräten
unter Beizug massgebender Fachleute einer eingehenden generellen Prüfung
unterzogen. Es hält fest, dass im einzelnen Fall unterschieden werden
müsse, ob das automatische Schreibgerät ausschliesslich zur Schulung
verwendet werde oder ob es in beträchtlichem Masse auch der allgemeinen
Kommunikation, also der Pflege des Kontaktes mit der Umwelt diene. Die
individuelle Abgabe könne dann in Betracht kommen, wenn die folgenden
Bedingungen erfüllt seien:

    1. Der Ansprecher muss während längerer Zeit erfolgreich in der
Anwendung des Geräts geschult worden sein.

    2. Es muss erwiesen sein, dass das Gerät zu einem grossen Teil für
die Pflege des Kontaktes mit der Umwelt, und zwar im Wohnbereich des
Versicherten, effektiv Verwendung findet.

    3. Von der Leitung der jeweiligen Sonderschule müssen verlässliche
Angaben über die Intelligenz des Versicherten vorliegen, die einen
sinnvollen Einsatz des Gerätes in der Freizeit und einen erheblichen
Gewinn an Kontaktmöglichkeiten und damit eine intensive Förderung der
geistigen Entwicklung garantieren.

    4. Es muss mit grosser Wahrscheinlichkeit belegt sein, dass der
Versicherte das entsprechende Gerät nach der Schulentlassung weiterhin
zur Pflege des Kontaktes mit der Umwelt benützen kann.

    Damit spricht sich das Bundesamt bei Erfüllen dieser Bedingungen selbst
dann für die individuelle Abgabe eines automatischen Schreibgerätes aus,
wenn im Rahmen der Sonderschulung ein heimeigenes Gerät an sich bereits
zur Verfügung steht. Das Eidg. Versicherungsgericht pflichtet diesen
Überlegungen bei. Da in den vom Bundesamt anvisierten Fällen das vorrangige
Ziel nicht in der Schulung, sondern in der Pflege des Kontaktes mit der
Umwelt im Wohnbereich besteht, handelt es sich nicht um eine "Abgabe an
einen Heiminsassen". Die in Erw. 1 hievor erwähnte Rechtsprechung steht
unter diesen besonderen Umständen einer individuellen Abgabe eines solchen
Hilfsmittels nicht entgegen.

    b) Laut Bericht der Logopädin des Schulheims Mätteli vom 5. Juli 1979
ist die Beschwerdeführerin im schwersten Grade behindert; sie kann grob-
und feinmotorische Bewegungen nicht kontrollieren und ihre Sprache ist für
einen Aussenstehenden nicht verständlich; da die Beschwerdeführerin seit
Jahren therapeutisch optimal betreut worden sei, könne erfahrungsgemäss
mit einer wesentlichen Verbesserung der Situation nicht mehr gerechnet
werden. Somit ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin im
Schulunterricht und bei der Pflege des Kontaktes mit der Umwelt voll und
ganz auf ein automatisches Schreibgerät angewiesen ist.

    Seit Herbst 1977 konnte die Beschwerdeführerin ein heimeigenes
Carba-Schreibgerät benützen. Sie wurde in der Zwischenzeit damit vertraut
gemacht und in die Handhabung eingeführt. Allein dank dieses Gerätes konnte
ihr überhaupt Lesen und Schreiben beigebracht werden. Das Bundesamt für
Sozialversicherung stellt deshalb zutreffend fest, die Phase der Ausbildung
und des Trainings am Gerät könne als abgeschlossen betrachtet werden;
weiterer Anleitung bedürfe die Beschwerdeführerin nicht.

    Dem Bericht der Logopädin lässt sich ferner entnehmen, dass
die Beschwerdeführerin über eine gut entwickelte intellektuelle
Leistungsfähigkeit verfügt; insbesondere im sprachlichen (schriftlichen)
Bereich seien ihre Leistungen mit denen eines nicht behinderten Kindes
unbedingt vergleichbar; die Beschwerdeführerin verfüge über einen grossen
Wortschatz, über ein gut entwickeltes Sprachverständnis und auch über
ein erstaunliches Sprachgefühl, weshalb es ihr möglich sei, mit Hilfe
des Schreibgerätes sich klar zu verständigen und mit gleichaltrigen
Kindern dem Schulunterricht zu folgen. Mit steigender Leistungsfähigkeit
benötige die Beschwerdeführerin nun aber ein individuelles Gerät, damit
sie das in der Schule erworbene Wissen schriftlich festhalten und durch
regelmässiges Üben selbständig vertiefen könne; zudem müsse sie auch
ausserhalb der Schule über zuverlässige Kommunikationsformen verfügen
können, um mit der intellektuellen Leistungsfähigkeit Nichtbehinderter
Schritt halten zu können; andernfalls wäre eine progressive Verarmung
der Sprache bzw. des Denkens zu befürchten, und eine gesunde geistige
Entwicklung wäre verunmöglicht. Die Logopädin hält auch fest, dass die
Eltern grosses Verständnis für ihr Kind haben und es in optimaler Weise
unterstützen und fördern. Ein sinnvoller Einsatz des beantragten Gerätes
im Wohnbereich zur Kontaktpflege mit Eltern und Geschwistern ist unter
diesen Umständen gewährleistet.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung bemerkt in seiner
Stellungnahme, die Beschwerdeführerin werde nach der Schulentlassung die
Anspruchsvoraussetzungen für ein Carba-Schreibgerät mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit erfüllen und ein solches Gerät zu
Kommunikationszwecken benötigen. Im vorliegenden Fall spreche nichts
gegen eine vorzeitige Abgabe dieses Hilfsmittels zu einem Zeitpunkt, in
welchem es bereits zu einem erheblichen Teil zum Zwecke der Kommunikation
verwendet werden könne.

    Damit ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin die vier vom Bundesamt
aufgestellten Kriterien erfüllt, weshalb eine individuelle Abgabe möglich
ist ohne Rücksicht darauf, dass die Beschwerdeführerin während der
Schulzeit ein heimeigenes Gerät benützen kann. Im übrigen ist vorliegend
klarerweise auch die Grundvoraussetzung der Ziff. 15.02 des Anhangs zur
HVI erfüllt. Die Invalidenversicherung hat deshalb der Beschwerdeführerin
das verlangte Carba-Schreibgerät leihweise individuell abzugeben.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Verwaltungsgerichtes des Kantons Luzern vom 20. Dezember 1979 und
die Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Luzern vom 7. Juni 1979
aufgehoben und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie über
das Carba-Schreibgerät im Sinne der Erwägungen neu verfüge.