Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 5



106 V 5

2. Urteil vom 28. April 1980 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Wüest und Verwaltungsgericht des Kantons Zug Regeste

    Art. 42 Abs. 1 AHVG.

    - Unter dem Begriff "in der Schweiz wohnhaft" ist der Wohnsitz gemäss
Art. 23 ff. ZGB zu verstehen. Bestätigung der Praxis.

    - Bestimmung des Wohnsitzes einer Ehefrau, die mit den Kindern in der
Schweiz lebt, während ihr Ehemann im Ausland tätig ist und dort seinen
Wohnsitz hat.

Sachverhalt

    A.- Maria Corazon Wüest-Sochayseng, geboren 1916, verheiratet mit
Anatole Wüest, der aus geschäftlichen Gründen im Ausland (Philippinen)
Wohnsitz hat, lebt im Einverständnis des Ehemannes seit 1972 mit ihren
Kindern im Kanton Zug. Der Grund für diese Trennung besteht hauptsächlich
im Willen der Ehegatten, die Kinder in der Schweiz in die Schule schicken
zu können. Zudem sei für die Ehefrau das hiesige Klima zuträglicher als
am Wohnsitz des Ehemannes. Anderseits besuche der Ehemann die Familie
regelmässig in der Schweiz und verbringe dort seine Ferien.

    Am 16. Juni 1978 meldete sich Maria Corazon Wüest bei der
Ausgleichskasse des Kantons Zug zum Bezuge einer Altersrente an. Mit
Verfügung vom 8. September 1978 stellte die Ausgleichskasse fest, dass die
Rentenansprecherin als nichterwerbstätige Ehefrau gemäss Art. 3 Abs. 2
AHVG keine AHV-Beiträge geleistet habe und dass deshalb die Zusprechung
einer ordentlichen einfachen Altersrente nicht möglich sei. Die Ausrichtung
einer ausserordentlichen einfachen Altersrente gemäss Art. 42 AHVG lehnte
die Kasse ab, weil Maria Corazon Wüest keinen Wohnsitz in der Schweiz habe.

    B.- Eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wurde vom
Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 2. November
1978 gutgeheissen und Maria Corazon Wüest ab 1. August 1978 eine
ausserordentliche Altersrente zugesprochen.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche
Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 8. September
1978 wiederherzustellen. Maria Corazon Wüest lässt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Einziger Streitpunkt im vorliegenden Verfahren ist die Frage,
ob die Beschwerdegegnerin in der Schweiz einen eigenen Wohnsitz
begründet hat; alle übrigen Anspruchsvoraussetzungen für eine
ausserordentliche Altersrente nach Art. 42 Abs. 1 und 2 lit. c AHVG
(in der hier massgebenden, bis Ende 1978 gültig gewesenen Fassung) sind
unbestrittenermassen erfüllt.

Erwägung 2

    2.- Nach konstanter Rechtsprechung ist der Wohnsitzbegriff, wie er
im Rahmen von Art. 42 AHVG Anwendung findet, mit dem zivilrechtlichen
Wohnsitzbegriff gemäss Art. 23 ff. ZGB identisch; vorbehalten bleibt die
vorliegend keine Rolle spielende Ausnahme in Fällen, in denen sich ein
Versicherter trotz Beibehaltung des zivilrechtlichen Wohnsitzes in der
Schweiz für längere Zeit im Ausland aufhält.

    Gemäss Art. 25 Abs. 1 ZGB gilt als Wohnsitz der Ehefrau derjenige des
Ehemannes. Art. 25 Abs. 2 ZGB sieht indessen vor, dass die Ehefrau einen
selbständigen Wohnsitz haben kann, wenn der Wohnsitz des Ehemannes nicht
bekannt ist oder wenn die Ehefrau berechtigt ist, getrennt zu leben. Daraus
hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze abgeleitet:

    - Um berechtigt zu sein, getrennt zu leben, braucht die Ehefrau nicht
vom Richter dazu ermächtigt zu werden. Es genügt, dass die Bedingungen
von Art. 170 Abs. 1 ZGB tatsächlich erfüllt sind. Danach ist derjenige
Ehegatte, dessen Gesundheit, guter Ruf oder wirtschaftliches Auskommen
durch das Zusammenleben ernstlich gefährdet ist, für so lange berechtigt,
den gemeinsamen Haushalt aufzuheben, als diese Gefährdung andauert.

    - Das Recht der Ehefrau, getrennt zu leben, setzt nicht
notwendigerweise eine Uneinigkeit zwischen den Ehegatten voraus, wenn
dies auch zweifelsohne zumeist der Fall sein wird. Es genügt, dass das
Zusammenleben die Gesundheit eines der Ehegatten ernstlich gefährdet, und
dies selbst dann, wenn dem andern Ehegatten keinerlei Schuld angelastet
werden kann.

    - Die Berechtigung, getrennt zu leben, beinhaltet indessen nicht
automatisch das Bestehen eines eigenen Wohnsitzes. Die Begründung eines
solchen Wohnsitzes erfordert zudem, dass die Bedingungen von Art. 23
Abs. 1 ZGB vollständig erfüllt sind. Als Wohnsitz gilt daher derjenige Ort,
wo sich die Ehefrau mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält und wo
sich der Schwerpunkt - oder der Mittelpunkt - ihrer Beziehungen befindet;
obgleich als Anzeichen für das Bestehen eines Wohnsitzes beachtlich,
kann doch die Hinterlegung der Schriften, die Zahlung von Steuern oder
die Ausübung der politischen Rechte hierfür nicht bestimmend sein. Ein
eigener Wohnsitz der verheirateten Frau ist vor allem in den Fällen nur
mit Vorsicht und Zurückhaltung anzunehmen, wo die familiären und ehelichen
Bande weder zerrissen noch gelockert sind (ZAK 1973 S. 511).

Erwägung 3

    3.- a) Dass für die Begriffsbestimmung des "Wohnens in der Schweiz"
grundsätzlich der zivilrechtliche Wohnsitz in der Schweiz gemäss
Art. 23 ZGB massgebend sein soll, wird von der Beschwerdegegnerin
ausdrücklich anerkannt. Sie macht aber geltend, dass die Anwendbarkeit
der Spezialvorschrift des derivativen Wohnsitzes der Ehefrau gemäss
Art. 25 Abs. 1 ZGB als "Ausnahme von dem allgemeinen Wohnsitz-Begriff"
von der AHV-Gesetzgebung durch ausdrücklichen Vorbehalt hätte bestimmt
werden müssen. - Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Wenn
man praxisgemäss davon ausgeht, dass dem Art. 42 AHVG der zivilrechtliche
Wohnsitzbegriff zugrunde liegt, so ist damit der nicht allein den Art. 23,
sondern auch die Art. 24 und 25 ZGB umfassende Wohnsitzbegriff gemeint.

    b) Die Beschwerdegegnerin argumentiert denn auch vorwiegend
damit, die restriktive Auslegung des Wohnsitzbegriffes mit Bezug auf
die Ehefrau verstosse gegen Sinn und Zweck der AHV-Gesetzgebung. Der
Zweck von Art. 42 AHVG bestehe offensichtlich darin, die in der Schweiz
wohnhaften Schweizerbürger selbst dann - innert gewisser Grenzen - vor
den wirtschaftlichen Folgen von Alter und Tod zu schützen, wenn sie die
Voraussetzungen für eine ordentliche Rente nicht erfüllten, d.h. wenn
sie nach den ordentlichen Voraussetzungen bei Eintritt des Rentenfalles
leer ausgehen müssten. Diese Argumentation läuft sinngemäss darauf hinaus,
einen aus AHV-rechtlicher Sicht modifizierten spezifischen Wohnsitzbegriff
zu verwenden.

    Die Schlussfolgerung, Sinn und Zweck der AHV-Gesetzgebung gebiete es,
jeder "in der Schweiz wohnenden Ehefrau, deren Mann im Ausland lebt, auf
jeden Fall eine Rente auszurichten, wenn sie mindestens 62 Jahre alt ist",
ist in dieser absoluten Form unzutreffend. Die geltende familienrechtliche
Ordnung spricht im Gegenteil für die Einschränkung im Sinne der
bisherigen Praxis. Solange eine Ehefrau freiwillig, ohne gesetzlichen
Grund, wenn auch mit Einwilligung oder sogar auf ausdrücklichen Wunsch
des im Ausland domizilierten Ehemannes "in der Schweiz wohnhaft" ist,
bleibt die Ehe formalrechtlich völlig intakt mit allen damit für die
Ehefrau verbundenen Folgen (z.B. Unterhaltsanspruch gegenüber dem
Ehemann). Es besteht aus dieser Sicht kein Grund, eine solche Ehefrau
anders zu behandeln als diejenige, welche in normaler Weise mit ihrem
im Ausland domizilierten Ehemann zusammenlebt. Wenn gemäss dem von der
Beschwerdegegnerin vorgebrachten Beispiel der Ehemann "aus reiner Schikane"
im Ausland bleiben würde, "nur damit seine Frau keine Rente bekommt", so
wäre ein solches Verhalten unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob es für
die Ehefrau einen Grund zur Aufhebung des gemeinsamen Haushalts (Art. 170
ZGB) oder gar einen Trennungs- oder Scheidungsgrund darstellt, und es
wäre dementsprechend das Recht zur Begründung eines eigenen Wohnsitzes zu
beurteilen. Jedenfalls kann es nicht dem Sinn des Art. 42 AHVG entsprechen,
dass es den Ehegatten ermöglicht wird, durch eine rein faktische Wahl des
Wohnortes in der Schweiz die Voraussetzungen für eine ausserordentliche
Rente zu schaffen. Dies gilt selbst dann, wenn - wie im vorliegenden
Fall angenommen werden darf - die Ehefrau eines im Ausland domizilierten
Schweizers aus objektiv gerechtfertigten Gründen in der Schweiz wohnt,
ohne dass eine missbräuchliche Beanspruchung der AHV beabsichtigt ist. Es
besteht kein Grund, für einen solchen Fall in Abweichung bzw. Ergänzung
der bisherigen Praxis eine Ausnahmeregel vorzusehen, die schwierige
Abgrenzungsprobleme schaffen und dem Missbrauch Vorschub leisten würde.

    Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin spricht auch die
Einführung der Art. 22bis Abs. 2 AHVG und Art. 45 AHVV nicht zu ihren
Gunsten. Denn weder die Auszahlung der Zusatzrente an die Ehefrau statt
an den Ehemann noch die Möglichkeit der direkten Auszahlung der halben
Ehepaar-Altersrente an die Ehefrau kann mit der Frage des grundsätzlichen
Anspruchs auf eine ausserordentliche Rente gleichgesetzt werden.

    Dass die Beschwerdegegnerin im Falle der Erwerbstätigkeit
beitragspflichtig wäre, bedeutet entgegen der von ihr vertretenen These
nicht, dass willkürlich ein anderer Wohnsitzbegriff verwendet wird je
nachdem, ob es um die Beitragspflicht oder den Leistungsanspruch geht,
weil die Beitragspflicht der Erwerbstätigen wohl eine Erwerbstätigkeit in
der Schweiz - eventuell aber auch im Ausland (Art. 1 Abs. 1 lit. c AHVG)
- voraussetzt, aber keinen Wohnsitz in der Schweiz erfordert. Ergänzend
ist darauf hinzuweisen, dass von den Nichterwerbstätigen, zu denen
die Beschwerdegegnerin gehört, Beiträge nur gefordert werden, wenn
sie ihren Wohnsitz in der Schweiz haben. Insoweit besteht also bei
der Beschwerdegegnerin Parallelität zwischen Beitragspflicht und
Leistungsanspruch bezüglich des Erfordernisses des Wohnsitzes.

    Insoweit in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts andere
Wohnsitzregeln gelten, ist das auf die spezifischen Regelungen in jenen
Rechtsbereichen zurückzuführen, weshalb daraus keine direkten Schlüsse
auf den vorliegenden Fall gezogen werden dürfen. Vielmehr geht es hier
um die Frage, ob spezielle sozialversicherungsrechtliche Aspekte zu einem
spezifischen sozialversicherungsrechtlichen Begriff des Wohnsitzes führen
müssen, was im Sinne der bisherigen Praxis verneint werden muss.

Erwägung 4

    4.- Somit ist im Rahmen von Art. 42 AHVG am zivilrechtlichen
Wohnsitz gemäss Art. 23 ff. ZGB festzuhalten. Dass das eheliche
Zusammenleben zu einer ernsthaften Gefährdung des guten Rufes oder
des wirtschaftlichen Auskommens der Beschwerdegegnerin führen würde,
wird von ihr selber nicht behauptet. Ihr Einwand, das hiesige Klima sei
für sie zuträglicher als dasjenige in den Philippinen, wird weder näher
substantiiert, noch wird Beweis dafür offeriert oder auch nur dargetan,
dass ein Aufenthalt am Wohnsitz des Ehemannes ihre Gesundheit "ernstlich"
gefährden würde. Insoweit sind daher die Voraussetzungen zur Aufhebung
des gemeinsamen Haushalts (Art. 170 Abs. 1 ZGB) und damit zur Begründung
eines eigenen Wohnsitzes nicht erfüllt.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Verwaltungsgerichtes des Kantons Zug vom 2. November 1978 aufgehoben.