Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 22



106 V 22

6. Urteil vom 20. März 1980 i.S. Huser gegen Krankenkasse des Personals des
Bundes und der schweizerischen Transportanstalten und Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 3 Abs. 3 KUVG.

    - Ein fünfzehnjähriger Sekundarschüler, der eine noch mit intakter
Zündkapsel versehene Flobertpatronenhülse durch Erhitzen mit einem
Feuerzeug zur Detonation bringt und sich dabei verletzt, handelt
grobfahrlässig (Erw. 2).

    - Leistungskürzungen im Bereiche der sozialen Krankenversicherung
wegen grobfahrlässiger Herbeiführung des Schadens durch den Versicherten
sind grundsätzlich unbefristet zu verfügen. Sinngemässe Anwendung der
Rechtspraxis zu Art. 7 IVG (Erw. 4).

    Art. 128 OG. Voraussetzungen, unter denen eine Streitfrage, die
nicht Gegenstand der angefochtenen Verfügung war, aus prozessökonomischen
Gründen in die Überprüfung einbezogen werden kann (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Der im Jahre 1963 geborene Marius Huser, Schüler der dritten
Sekundarschulklasse, hatte auf der Strasse eine Flobertpatrone gefunden
und mit nach Hause genommen. Seine Eltern setzte er davon nicht in
Kenntnis. Zu Hause trennte er den Projektilteil von der Hülse und legte
vorerst beides in die Schublade seines Schreibtisches. Am 23. April 1978
nahm er das Feuerzeug seines auf Besuch weilenden Grossvaters an sich
und begab sich auf sein Zimmer. Dort erhitzte er mit dem Feuerzeug die
Patronenhülse, wobei er sie mit einer Zange (von sich abgewendet) aus
dem Fenster hielt. Die Zündkapsel explodierte, wobei ein Metallteilchen
in sein rechtes Auge drang. Die ärztlichen Bemühungen im Kantonsspital
Zürich konnten die Erblindung des Auges nicht verhindern.

    Am 21. September 1978 Verfügte die Krankenkasse des Personals des
Bundes und der schweizerischen Transportanstalten (KPT), dass sie die im
Kantonsspital Zürich entstandenen Heilungskosten von Fr. 7'165.10 wegen
groben Selbstverschuldens des Versicherten nur zu 80% übernehme.

    B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. Dezember 1978 ab, indem es
ebenfalls auf schweres Selbstverschulden des Versicherten erkannte.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
der Vater des Versicherten, die KPT sei zu Verpflichten, die Kosten
aus dem Unfall ohne Leistungskürzung zu übernehmen, so die Rechnung
des Kantonsspitals Zürich von Fr. 7'165.10 in vollem Umfang, ebenso die
weiteren aufgelaufenen (ca. Fr. 650.--) und künftig noch entstehenden
Heilungskosten. Sollte die Leistungskürzung geschützt werden, so sei
diese zumindest zeitlich zu limitieren.

    Die KPT und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 40 lit. k der Statuten der KPT werden für Krankheiten
und Unfälle, die auf schweres Selbstverschulden des Versicherten
zurückzuführen sind, keine Versicherungsleistungen gewährt. Sofern diese
Bestimmung in jedem Fall von schwerem Selbstverschulden Leistungen der
Kasse vollständig ausschliessen will, hält sie vor dem Bundesrecht nicht
stand. Wie das Eidg. Versicherungsgericht entschieden hat, entspricht es
einer anerkannten Regel des Privat- wie des Sozialversicherungsrechts,
Versicherungsleistungen zu kürzen, wenn der Anspruchsberechtigte den
Schadenfall grobfahrlässig verursacht hat, wobei die Kürzung in einem
angemessenen Verhältnis zum Verschulden des Versicherten stehen muss. Eine
gänzliche Verweigerung von Leistungen ist hingegen nur zulässig, wenn
das Verschulden als besonders schwer zu betrachten ist (BGE 98 V 9;
RSKV 1977 Nr. 285, 1974 Nr. 191 mit Hinweisen).

    b) Der Begriff des schweren Selbstverschuldens gemäss den Statuten
der KPT deckt sich im vorliegenden Zusammenhang mit dem der groben
Fahrlässigkeit. Grobfahrlässig handelt nach der Rechtsprechung im Gebiet
der Sozialversicherung wer unter Verletzung elementarer Vorsichtsgebote das
unbeachtet lässt, was jedem verständigen Menschen in der gleichen Lage und
unter denselben Umständen hätte einleuchten müssen (BGE 104 V 1, 102 V 23).

Erwägung 2

    2.- a) Munition ist, wie allgemein bekannt, ein besonders
gefahrenträchtiger Gegenstand und erfordert deshalb in der Handhabung
entsprechend erhöhte Sorgfalt. Dass ein solcher Körper nicht mehr
mit Explosivladung versehen sei, darf nicht leichthin angenommen
werden. Namentlich ein mit Waffen und Munition Unvertrauter wird daher bei
gehöriger Sorgfalt jedem Bestandteil eines Munitionskörpers mit Vorsicht
begegnen und ihn als mit Gefahr verbunden betrachten. Allgemein darf sodann
die Tatsache als bekannt vorausgesetzt werden, dass Munition - so auch
eine Flobertpatrone - durch Schläge oder übermässige Hitze explodieren
und schwere Schäden verursachen kann. Eine vernünftig handelnde Person
wird sich deshalb hüten, Munition oder Bestandteile davon, die noch
Explosivladung enthalten könnten, solchen Einwirkungen auszusetzen. Nach
Massgabe dieser Erwägung steht daher ausser Frage, dass einem verständigen
und erwachsenen Menschen die Erhitzung einer Patronenhülse (Flobert) mit
noch intakter Zündkapsel als leichtfertige und gefährliche Handlungsweise
zugerechnet werden müsste. Es läge grobe Fahrlässigkeit vor.

    b) Der Vater des Beschwerdeführers macht indes zu Recht geltend,
dass von Kindern nicht das gleiche Mass an Sorgfalt gefordert werden könne
wie von Erwachsenen. In der Praxis wird das Selbstverschulden von Kindern
generell milder beurteilt als dasjenige von voll urteilsfähigen Erwachsenen
(BGE 102 II 363 mit Hinweisen). Das Mass der Urteilsfähigkeit bei Kindern
bestimmt sich hauptsächlich nach dem Alter, der körperlichen und geistigen
Entwicklung, aber auch nach der Natur der in Betracht kommenden Handlung.

    Bei einem Fünfzehnjährigen im dritten Sekundarschuljahr, also
mit verhältnismässig fortgeschrittenem Schulwissen auch bezüglich
physikalischer Vorgänge, darf angenommen werden, er kenne die spezifischen
Wirkungen von Waffen und Munition, nämlich die Fähigkeit, zu zerstören und
zu verletzen. Dies erlaubt den Schluss, dass sich der Beschwerdeführer nach
seinem Intelligenz- und Bildungsstand der Gefährlichkeit unsachgemässer
Manipulation mit Munition zumutbarerweise hätte bewusst sein können
und offenbar auch war. Indem er nämlich die Hülse, als er sie erhitzte,
von sich weggewendet hielt, bekundete er, dass er in seinem Experiment
ein Gefahrenmoment erblickte. Dem Verhalten nach erwartete er eine
explosionsartige Reaktion als gewiss oder möglich. Die freiwerdende
Energie übertraf indessen seine Erwartung, was offenbar auf das Fehlen
näherer technischer Kenntnisse über Funktion und Reaktionsweise der
verschiedenen Patronenteile zurückzuführen ist. Diese Unkenntnis
vermag den Beschwerdeführer jedoch nicht zu entlasten. Angesichts der
generellen Gefahrenträchtigkeit von Munition und der dadurch gebotenen
elementaren Vorsicht hätte er vielmehr seiner Wissenslücke Rechnung
tragen und sein Experiment als gefährliches Spiel mit dem Unbekannten
betrachten müssen. Dieses Mass an Einsicht und sorgfaltsgerechtem Verhalten
durfte auch vom Beschwerdeführer erwartet werden. Es ist daher nicht zu
beanstanden, dass die Kasse und die Vorinstanz trotz der Jugendlichkeit
des Beschwerdeführers die grobe Fahrlässigkeit bejaht haben. Auch gegen
das Mass der Leistungskürzung ist nichts einzuwenden.

Erwägung 3

    3.- a) Nach der bundesrechtlichen Ordnung kann der
Sozialversicherungsrichter nur solche Rechtsverhältnisse überprüfen, zu
denen die zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich, d.h. in Form
einer Verfügung Stellung genommen hat. Das Eidg. Versicherungsgericht hat
jedoch schon mehrmals erklärt, dass das verwaltungsgerichtliche Verfahren
aus prozessökonomischen Gründen auf eine weitere spruchreife Streitfrage
ausgedehnt werden kann, wenn diese mit dem bisherigen Streitgegenstand
derart eng zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgemeinschaft gesprochen
werden kann, und wenn sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens
in Form einer Prozesserklärung geäussert hat (BGE 103 V 113, 101 V 114,
98 V 33 mit Hinweisen; RSKV 1978 Nr. 314).

    b) Ausschliesslicher Gegenstand der Kassenverfügung vom
21. September 1978 war die Kürzung der Kassenleistungen für die im
Kantonsspital Zürich entstandenen Kosten im Rechnungsbetrage von
Fr. 7'165.10. Die Frage der zeitlichen Begrenzung der Sanktion wurde
nicht aufgeworfen. Anfechtungsobjekt im vorliegenden Verfahren bildet
deshalb grundsätzlich die Leistungskürzung bei den im Kantonsspital
Zürich entstandenen Kosten. Um die Frage der zeitlichen Limitierung
der Sanktion, wie es der Beschwerdeführer für den Fall der Bestätigung
der Leistungskürzung verlangt hatte, entscheiden zu können, ist somit zu
prüfen, ob die Sachurteilsvoraussetzung aus dem engen Sachzusammenhang der
neuen Streitfrage mit dem Gegenstand der Verfügung gewonnen werden kann.

    Es ist durchaus möglich, dass der Beschwerdeführer in naher oder ferner
Zukunft wegen der Unfallverletzung weitere ärztliche Hilfe beanspruchen
muss. Es wird sich damit jedes Mal erneut die Frage der Leistungskürzung
stellen. Es besteht daher zwischen dem Gegenstand der Verfügung und
der grundsätzlichen Frage nach der Dauer der verhängten Sanktion ein so
enger Sachzusammenhang, dass von Tatbestandsgemeinschaft gesprochen werden
kann. Die Beschwerdegegnerin hat sich überdies in der Beschwerdeantwort zur
Frage der zeitlichen Begrenzung der Sanktion - wenn auch sehr summarisch
- geäussert. Ihre Ausführungen sind dahin zu verstehen, dass sie eine
zeitliche Limitierung der Sanktion ablehnt. Da mit der grundsätzlichen
Entscheidung in dieser Frage weitere Rechtsstreitigkeiten zwischen den
Parteien bezüglich der streitigen Sanktion vermieden werden können, liegt
es im Interesse der Prozessökonomie, auf den Antrag des Beschwerdeführers
einzutreten.

Erwägung 4

    4.- a) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte sich mit der Frage der
Dauer einer wegen grober Fahrlässigkeit verhängten Leistungskürzung im
Rahmen der Krankenversicherung noch nicht zu befassen. Hingegen besteht
in der Invalidenversicherung diesbezüglich eine konstante Praxis
(BGE 104 V 1, 99 V 31 mit Hinweisen; ZAK 1977 S. 47). Art. 7 IVG,
auf welchem IV-rechtlich die Leistungskürzung wegen vorsätzlicher oder
grobfahrlässiger Herbeiführung der Invalidität beruht, soll verhüten, dass
die Sozialversicherung über Gebühr mit Schäden belastet wird, welche die
Betreffenden hätten vermeiden können, wenn sie die ihnen zumutbare Sorgfalt
aufgewendet hätten (EVGE 1967 S. 98). Es würde dem Solidaritätsgedanken
widersprechen, wenn die Gemeinschaft der Versicherten für die Folgen
der von einem einzelnen Versicherten vorsätzlich oder grobfahrlässig
verursachten Invalidität vollumfänglich aufkommen müsste. Dieser Zweck
kann nur erreicht werden, wenn die prozentuale Kürzung der Rente so lange
dauert, als die Kausalität des Verschuldens nachwirkt (BGE 104 V 1), mit
andern Worten, solange das Selbstverschulden die Allein- oder Mitursache
der Invalidität bildet. Wegen des aleatorischen Charakters von Höhe und
Dauer der einzelnen Rente muss daher die Rentenkürzung grundsätzlich ohne
Befristung verfügt werden (EVGE 1966 S. 98).

    Allerdings sind im IV-Recht zeitlich begrenzte Kürzungen nicht
schlechthin ausgeschlossen (EVGE 1962 S. 307, 1967 S. 98). Art. 7
IVG sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor. Eine befristete Kürzung
im Rahmen von Art. 7 IVG ist allerdings nur ausnahmsweise und nur dann
zulässig, wenn schon bei der Rentenfestsetzung wahrscheinlich ist, dass das
grobfahrlässige Verhalten des Versicherten als Ursache seiner Invalidität
nach Ablauf einer annähernd bestimmbaren Zeit nicht mehr erheblich sein
wird, weil andere Faktoren in den Vordergrund treten (BGE 104 V 1).

    b) Gleiches gilt für den Bereich der Krankenversicherung. Daher sind
die im Rahmen der Invalidenversicherung entwickelten Grundsätze auf die
Krankenversicherung ohne weiteres übertragbar. Eine Leistungskürzung in
der Krankenversicherung wegen schweren Selbstverschuldens hat demnach so
lange zu dauern, als die Kausalität des Verschuldens nachwirkt. Gleich wie
in der Invalidenversicherung lässt sich auch in der Krankenversicherung
in der Regel nicht mit genügender Gewissheit abschätzen, wie hoch der
Schaden ausfällt, den die Versicherung zu tragen haben wird. So kann
eine vermeintlich geheilte Krankheit oder Unfallverletzung noch nach
Jahren wieder zu ärztlicher Behandlung Anlass geben. Wirkt bei einem
solchen Rückfall die Kausalität des schweren Selbstverschuldens nach,
so kann nach dem oben Gesagten notwendigerweise wiederum nur eine
gekürzte Leistung der Versicherung erbracht werden. Eine Kürzung für
eine bestimmte Zeitspanne würde eine vom wirklichen Schaden unabhängige
einmalige Sanktion bedeuten. Dies liefe darauf hinaus, die Kürzung vor
allem nach strafrechtlichen Gesichtspunkten zu gestalten, was deren Sinn
widerspräche. Der Kürzung wegen groben Selbst-Verschuldens kommt keine
Straffunktion zu (BGE 99 V 31, EVGE 1966 S. 98).

    Wie der Beschwerdeführer einräumt, ist nicht ausgeschlossen, dass die
unfallbedingte Verletzung auch später noch ärztliche Behandlung erfordern
könnte. Nach dem Gesagten ist daher die Voraussetzung für eine zeitliche
Begrenzung der Leistungskürzung nicht gegeben.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.