Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 147



106 V 147

35. Urteil vom 11. September 1980 i.S. Schmid gegen Ausgleichskasse der
Aargauischen Industrie- und Handelskammer und AHV-Rekurskommission des
Kantons Zürich Regeste

    Art. 25 Abs. 2 Satz 2 AHVG. Anspruch auf Waisenrente während der
Ausbildung:

    - Voraussetzung einer ausbildungsbedingten Einkommenseinbusse von
mehr als 25%: massgebende Vergleichseinkommen (Erw. 2).

    - Unerheblich ist, ob die Waise während der Ausbildung ein Einkommen
erzielt, mit welchem sie den Lebensunterhalt zu bestreiten vermag (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Margareta Schmid, Witwe des am 6. Juni 1974 verstorbenen Karl
Schmid, bezog ab 1. Juli 1974 eine Witwenrente sowie Waisenrenten für
ihre Söhne Daniel und Peter Jürg. Daniel Schmid, geboren 1957, schloss
im Oktober 1978 das Wirtschaftsgymnasium der Kantonsschule Zürich mit
der Maturität ab, worauf die Ausgleichskasse die Ausrichtung seiner
Waisenrente auf den 31. Oktober 1978 einstellte.

    Am 20. Dezember 1978 teilte Margareta Schmid der Ausgleichskasse
mit, dass ihr Sohn Daniel ab 1. Januar 1979 als "Allround-Praktikant"
bei der Schweizerischen Bankgesellschaft angestellt sei. Der Mitteilung
legte sie eine Bestätigung der Arbeitgeberin bei, wonach die Ausbildung
18 Monate dauert und das Jahressalär Fr. 22'750.-- beträgt. Auf Anfrage
der Ausgleichskasse bezifferte die Bankgesellschaft den Anfangslohn eines
gleichwertig ausgebildeten Angestellten auf rund Fr. 27'000.-- im Jahr.

    Mit Verfügung vom 10. Januar 1979 lehnte die Ausgleichskasse das
Begehren um Weiterausrichtung der Waisenrente ab mit der Begründung, dass
das Arbeitsentgelt nicht um mehr als ein Viertel unter den ortsüblichen
Anfangslöhnen der entsprechenden Branche liege, weshalb die gesetzlichen
Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt seien.

    B.- Beschwerdeweise machte Daniel Schmid geltend, die Schweizerische
Bankgesellschaft habe der Ausgleichskasse versehentlich das Einkommen
angegeben, das er erzielen würde, wenn er heute ohne bankfachliche
Ausbildung zu arbeiten begänne. Gleichzeitig reichte er ein Schreiben der
Bankgesellschaft ein, worin bestätigt wird, dass er im Anschluss an seine
Ausbildung mit einem Jahresgehalt von Fr. 31'000.-- bis Fr. 32'000.--
rechnen kann.

    Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich wies die Beschwerde im
wesentlichen mit der Begründung ab, dass beim Einkommensvergleich vom
üblichen Anfangslohn und nicht von dem im Anschluss an die Ausbildung
zu erwartenden Lohn ausgegangen werden müsse. Demzufolge mache die
Lohndifferenz weniger als ein Viertel aus, weshalb praxisgemäss kein
Anspruch auf Waisenrente bestehe (Entscheid vom 11. Mai 1979).

    C.- Daniel Schmid lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit
dem Antrag, die Ausgleichskasse sei zu verpflichten, ihm vom 1. November
1978 bis zum 30. Juni 1980 eine Waisenrente auszurichten. Das von
der Bankgesellschaft zunächst genannte Salär entspreche der Entlöhnung
eines schulentlassenen, beruflich nicht ausgebildeten Maturanden. ohne
Zusicherung einer weiteren, von der Arbeitgeberin zu gewährenden
Berufsausbildung. Massgebend für die Beurteilung des Anspruchs auf
die Waisenrente sei indessen der ortsübliche Anfangslohn eines voll
ausgebildeten Erwerbstätigen, somit der von der Arbeitgeberin für die
Zeit nach Abschluss des Praktikums in Aussicht gestellte Lohn von Fr.
31'000.-- bis Fr. 32'000.-- im Jahr.

    Während sich die Ausgleichskasse eines Antrages enthält,
schliesst das Bundesamt für Sozialversicherung auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Es vertritt die Auffassung, dass der
Rentenansprecher im Rahmen der Ausnahmebestimmung, wonach Waisenrenten
über das 18. Altersjahr hinaus ausgerichtet werden könnten, nur dann als
in Ausbildung begriffen erachtet werden könne, wenn er nicht in der Lage
sei, seinen Lebensunterhalt selber zu bestreiten...

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Anspruch auf Waisenrente erlischt mit Ablauf des Monats,
in welchem der Anspruchsberechtigte das 18. Altersjahr vollendet. Ist
die Waise noch in Ausbildung begriffen, so dauert der Anspruch bis zum
Abschluss der Ausbildung, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr
(Art. 25 Abs. 2 AHVG).

    Als in Ausbildung begriffen gelten Waisen, die während einer
bestimmten Zeit Schulen oder Kurse besuchen oder der beruflichen
Ausbildung obliegen. Unter beruflicher Ausbildung ist jede Tätigkeit
zu verstehen, welche die systematische Vorbereitung auf eine künftige
Erwerbstätigkeit zum Ziel hat und während welcher die Waise mit Rücksicht
auf den vorherrschenden Ausbildungscharakter ein wesentlich geringeres
Erwerbseinkommen erzielt, als ein Erwerbstätiger mit abgeschlossener
Berufsbildung orts- und branchenüblich erzielen würde. Das Arbeitsentgelt
gilt dann als wesentlich geringer als dasjenige eines Vollausgebildeten,
wenn es nach Abzug der besonderen Ausbildungskosten um mehr als 25%
unter dem ortsüblichen Anfangslohn für voll ausgebildete Erwerbstätige
der entsprechenden Branche liegt (BGE 104 V 67 mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Der Bestätigung der Schweizerischen Bankgesellschaft vom
14. Dezember 1978 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer als
"Allround-Praktikant" angestellt ist und in Form einer 18 Monate dauernden
Ausbildung in die verschiedenen Abteilungen der Bank eingeführt wird. In
Übereinstimmung mit der Vorinstanz kann im Hinblick darauf, dass er in der
vorangegangenen Zeit das Gymnasium besucht hat, davon ausgegangen werden,
dass das Bankpraktikum die systematische Vorbereitung auf die künftige
Erwerbstätigkeit zum Ziele hat und der Ausbildungscharakter der Anstellung
im Vordergrund steht. Zu prüfen bleibt, ob das Erwerbseinkommen zufolge des
vorherrschenden Ausbildungscharakters um mehr als 25% unter dem Einkommen
liegt, wie es ein Erwerbstätiger mit abgeschlossener Berufsbildung der
gleichen Art orts- und branchenüblich erzielen würde.

    b) Der Beschwerdeführer bezieht während der Ausbildung ein
Jahressalär von Fr. 22'750.--. Demgegenüber beträgt nach den Angaben
der Arbeitgeberin der "Anfangslohn eines gleichwertig ausgebildeten
Angestellten" rund Fr. 27'000.-- und der Lohn im Anschluss an die vom
Beschwerdeführer gewählte Ausbildung Fr. 31'000.-- bis Fr. 32'000.--
im Jahr. Die Vorinstanz erachtet den Betrag von Fr. 27'000.-- als
massgebend mit der Begründung, dass auf den Anfangslohn eines gleichwertig
ausgebildeten Angestellten und nicht auf den Lohn abzustellen sei, welchen
der Beschwerdeführer im Anschluss an seine Ausbildung beziehen werde.
Sie geht dabei von einer unzutreffenden tatsächlichen Annahme aus,
denn die erste Bestätigung der Arbeitgeberin ist richtigerweise so
zu verstehen, dass es sich beim angegebenen Lohn um denjenigen eines
beruflich nicht ausgebildeten Maturanden bei sofortiger Arbeitsaufnahme
handelt. Entscheidend ist indessen der Anfangslohn eines Erwerbstätigen
mit abgeschlossener gleichwertiger Berufsausbildung, somit das Einkommen,
welches der Beschwerdeführer als beruflich Vollausgebildeter erzielen
würde. Dabei ist im Sinne der vorinstanzlichen Erwägungen nicht auf
das Erwerbseinkommen abzustellen, welches der Beschwerdeführer nach
Abschluss der Ausbildung voraussichtlich erzielen wird, sondern auf das
Einkommen, welches er heute als Vollausgebildeter orts- und branchenüblich
erzielen würde. Bei dem von der Arbeitgeberin angegebenen Einkommen
von Fr. 31'000.-- bis Fr. 32'000.-- scheint es sich um das Einkommen
zu handeln, welches der Beschwerdeführer nach Abschluss der Ausbildung
voraussichtlich erzielen wird. Im Hinblick auf die Ausbildungsdauer von
lediglich 1 1/2 Jahren und die weitgehend stabilen Lohnverhältnisse im
massgebenden Zeitraum ist indessen anzunehmen, dass sich der heutige
Anfangslohn bei abgeschlossener Ausbildung der gleichen Art hievon nur
unwesentlich unterscheidet. Damit steht fest, dass das effektive Einkommen
um mehr als 25% unter dem massgebenden Anfangslohn bei abgeschlossener
Ausbildung liegt.

Erwägung 3

    3.- a) Das Bundesamt für Sozialversicherung vertritt die Auffassung,
der Waisenrentenanspruch habe schon deshalb zu entfallen, weil der
Beschwerdeführer während der Ausbildung einen Lohn beziehe, welcher den
vollen Lebensunterhalt decke. Es geht davon aus, dass nach Art. 276
Abs. 3 ZGB die Eltern von der Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind
in dem Masse befreit sind, als dem Kind zugemutet werden kann, den
Unterhalt aus seinem Erwerb oder aus andern Mitteln zu bestreiten. Bei
der Auslegung der Bestimmung, wonach Waisenrenten über das 18. Altersjahr
hinaus an Kinder in Ausbildung ausgerichtet werden könnten, dürfe aber
nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Zweck der Renten darin bestehe,
den ausfallenden Elternunterhalt zu ersetzen. Waisenrenten könnten daher
nicht unabhängig davon ausgerichtet werden, ob die Waise mit dem während
der Ausbildung erzielten Lohn für sich aufkommen könne oder nicht.

    b) Dem Bundesamt für Sozialversicherung ist darin beizupflichten,
dass die Waisenrente einen zumindest teilweisen Ausgleich für entgangenen
Unterhalt bezweckt und dass die zivilrechtlichen Regeln über die
Unterhaltspflicht nicht unbeachtet bleiben können (EVGE 1966 S. 91;
vgl. auch BGE 97 V 178 sowie ZAK 1975 S. 523). Dies bedeutet indessen
nicht, dass der Rentenanspruch davon abhängig zu machen wäre, dass
im Einzelfall tatsächlich eine Unterhaltspflicht bestanden hat. Das
Bundesamt räumt denn auch ein, dass es nach der gesetzlichen Regelung
unerheblich ist, ob die Waisenrente für das noch nicht 18jährige Kind
den Elternunterhalt ersetzt oder nicht. Etwas anderes sieht das Gesetz
für die in Ausbildung stehenden Waisen nach vollendetem 18. Altersjahr
nicht vor. Der Gesetzgeber hat auch anlässlich der Gesetzesnovelle vom
19. Dezember 1963 (6. AHV-Revision), mit welcher die Altersgrenze für
den Rentenanspruch vom vollendeten 20. auf das vollendete 25. Altersjahr
heraufgesetzt wurde, davon abgesehen, den Anspruch mit der Voraussetzung
zu verbinden, dass die elterliche Unterhaltspflicht bei Eintreten des
Versicherungsfalles weiterbesteht. Für den Anspruch auf Waisenrente ist
demnach unerheblich, ob der Rentenansprecher ein Arbeitsentgelt bezieht,
welches die Eltern von der Unterhaltspflicht teilweise oder ganz
befreit. In diesem Sinne hat das Eidg. Versicherungsgericht bereits
im Urteil vom 2. November 1959 i.S. Bregenzer (EVGE 1959 S. 248)
entschieden. Es stellte sich dabei auf den Standpunkt, dass es nicht
darauf ankommen könne, ob das Arbeitsentgelt den Lebensunterhalt des
Rentenberechtigten zu decken vermöge, da Studierende und Werktätige,
die für sich selber sorgten, versicherungsrechtlich nicht schlechter
gestellt werden dürften als andere Versicherte, die - etwa weil sie
über eigenes Vermögen verfügen oder von Verwandten unterhalten werden
- während der Dauer der Ausbildung nicht auf erwerblichen Verdienst
angewiesen seien. An diesen in EVGE 1960 S. 112 bestätigten Überlegungen
haben weder die auf den 1. Januar 1964 in Kraft getretene neue Fassung
von Art. 25 Abs. 2 Satz 2 AHVG noch die Neuregelung der elterlichen
Unterhaltspflicht gemäss der auf den 1. Januar 1978 in Kraft getretenen
Novelle zum Zivilgesetzbuch etwas geändert. Dass die Eltern von der
Unterhaltspflicht befreit sind, soweit dem Kind zugemutet werden kann,
den Unterhalt aus seinem Erwerb oder aus andern Mitteln zu bestreiten,
galt praxisgemäss schon vor Inkrafttreten des neuen Art. 276 Abs. 3 ZGB
(vgl. BGE 54 II 342, 71 IV 203/204). Unerheblich ist dabei, ob das Kind
das 18. Altersjahr zurückgelegt hat oder nicht, weshalb sich auch unter
diesem Gesichtspunkt keine unterschiedliche Beurteilung des Rentenanspruchs
rechtfertigen lässt.

    c) Dem Einwand des Bundesamtes für Sozialversicherung, wonach die
geltende Praxis zu unbefriedigenden und stossenden Ergebnissen führe,
indem die Rente auch Waisen ausgerichtet werden müsse, die über ein
hohes, den Lebensunterhalt ohne weiteres deckendes Einkommen verfügten,
ist entgegenzuhalten, dass die ordentlichen Renten der AHV durchwegs
ohne Rücksicht auf die finanziellen Verhältnisse des Rentenbezügers
gewährt werden. Dass im Einzelfall kein wirtschaftliches Bedürfnis nach
der Rente besteht, vermag daher eine gegenüber der bisherigen Praxis
einschränkende Auslegung der Gesetzesbestimmung nicht zu begründen. Es
ist Sache des Gesetzgebers, eine andere Regelung zu treffen, falls dies
aus sozialpolitischen Gründen als notwendig erachtet werden sollte.

Erwägung 4

    4.- Nach dem Gesagten steht der Umstand, dass der Beschwerdeführer
während der Ausbildung ein Erwerbseinkommen erzielt, mit welchem er
seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, dem Bezug der Waisenrente nicht
entgegen. Da er eine ausbildungsbedingte Einkommenseinbusse von mehr
als 25% erleidet und auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt,
steht ihm grundsätzlich eine Rente zu. Diese ist von der Ausgleichskasse
verfügungsweise festzusetzen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
vorinstanzliche Entscheid und die Kassenverfügung vom 10. Januar 1979
aufgehoben und es wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit
sie über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Waisenrente im Sinne der
Erwägungen neu verfüge.