Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 112



106 V 112

26. Urteil vom 9. Juni 1980 i.S. A. gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Thurgau
Regeste

    Art. 67 Abs. 3 KUVG. Vollständige Unzurechnungsfähigkeit infolge
Alkoholisierung (in casu verneint) und Tatbegehung aus selbstverschuldetem
Notstand.

Sachverhalt

    A.- Ahmet A. verbrachte am 26. April 1978 von 17 Uhr an den ganzen
Abend im Restaurant Löwen in B. und nahm dort eine grössere Menge
alkoholischer Getränke zu sich. Um etwa 02.30 Uhr begann er plötzlich zu
randalieren und gegen die Anwesenden tätlich zu werden. Der Wirt erlitt
dabei leichtere Verletzungen. Auf dessen Geheiss und auf entsprechenden
Hinweis der telephonisch verständigten Polizei, man werde wohl selber für
Ordnung sorgen können, schafften einige Wirtshausgäste den betrunkenen
Ahmet A. ins Freie und brachten ihn auf die Wiese am gegenüberliegenden
Strassenrand. Die Gäste kehrten ins Lokal zurück. Nach einigen
Minuten erhob sich Ahmet A., rannte zum naheliegenden Postwohnblock
und schlug dort mit den Händen und möglicherweise mit einem Fusstritt
die Glastüre ein. Nach seinen Angaben zog er sich dabei hauptsächlich
Schnittverletzungen am linken Handgelenk zu. Dann kehrte er zum
Restaurant Löwen zurück und zerbrach dort mit dem linken Vorderarm
und der Ellbogenpartie eine Fensterscheibe. Ob er sich dabei weitere
Schnittverletzungen zuzog, weiss Ahmet A. nicht.

    Mit Verfügung vom 21. Juli 1978 verneinte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) ihre Leistungspflicht mit der Begründung,
dass eine Vergehenshandlung vorliege.

    B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Thurgau am 22. März 1979 ab. Es erachtete
den Tatbestand der Vergehenshandlung im Sinne von Art. 67 Abs. 3 KUVG als
erfüllt und erkannte im weiteren, dass das Einschlagen des Türglases und
der Fensterscheibe ein Wagnis bilde.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Ahmet A. beantragen,
es sei die SUVA in Aufhebung der Verfügung vom 21. Juli 1978 und des
Urteils des Versicherungsgerichts des Kantons Thurgau vom 22. März 1979
zu verpflichten, für den streitigen Unfall die gesetzlichen Leistungen zu
erbringen, allenfalls gekürzt gemäss Art. 98 Abs. 3 KUVG. Die Begründung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ergibt sich, soweit erforderlich,
aus den nachstehenden Erwägungen.

    Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gestützt auf die in Art. 67 Abs. 3 KUVG enthaltene Ermächtigung hat
der SUVA-Verwaltungsrat mit Beschluss vom 31. Oktober 1967 unter anderm
"Vergehenshandlungen" von der Versicherung ausgeschlossen. Darunter ist
nach der Rechtsprechung jede mit Strafe bedrohte Handlung zu verstehen,
insbesondere auch Übertretungen. Eine Vergehenshandlung liegt in der Regel
nur dann vor, wenn der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat
(Art. 18 StGB). Der Ausschluss setzt also voraus, dass der Täter nicht
voll urteilsunfähig war. Bei selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit
sind die Art. 12 und 263 StGB anwendbar. Auch diese Tatbestände haben
Ausschluss von der Versicherung der Nichtbetriebsunfälle zur Folge (EVGE
1966 S. 7, 1962 S. 273, 1961 S. 10; nicht veröffentlichte Urteile Imboden
vom 1. Mai 1973, Ammann vom 22. Februar 1972, Minoggio vom 28. Oktober
1969, Mehr vom 5. Mai 1969 und Jallonardi vom 26. Juli 1968; vgl. auch
BGE 98 V 144 Erw. 4; MAURER, Recht und Praxis, 1963, S. 157).

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 145 Abs. 1 StGB wird, auf Antrag, mit Gefängnis
oder mit Busse bestraft, wer eine fremde Sache beschädigt, zerstört oder
unbrauchbar macht. Der Beschwerdeführer hatte am fraglichen Abend die
Glastüre des Postwohnblocks eingeschlagen. Damit erfüllte er den objektiven
Tatbestand der Sachbeschädigung. Unerheblich ist, dass kein Strafantrag
gestellt wurde. Es fragt sich hingegen, ob Schuldausschliessungs- oder
Rechtfertigungsgründe vorlagen.

    In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird erwogen, dass
der Beschwerdeführer in Anbetracht der Tatumstände vollständig
unzurechnungsfähig gewesen sein müsse. Verantwortlich hiefür wird
vor allem die Alkoholisierung gemacht. In der Tat ist anzunehmen,
dass der Beschwerdeführer im Verlaufe des Abends vom 26. April 1978
erhebliche Mengen alkoholischer Getränke zu sich genommen hatte und
daher um 02.30 Uhr betrunken war. Indes ist die Fähigkeit, das Unrecht
einer strafbaren Handlung einzusehen und einsichtsgemäss zu handeln,
auch bei stark Berauschten nur ganz selten vollständig aufgehoben. Das
gilt insbesondere bei Delikten, die einfache Tathandlungen erfordern
und einen so offensichtlichen Unrechtsgehalt zeigen (wie vorliegend das
Einschlagen der Glastüre), dass ihn auch ein getrübtes Bewusstsein noch
wahrnehmen kann. Der Beschwerdeführer hatte sich bis etwa 02.30 Uhr
unauffällig verhalten. Unvermittelt begann er alsdann zu randalieren,
war anschliessend aber vorerst wieder ruhig. Daraus ist zu schliessen,
dass er in diesem Zeitpunkt noch ansprechbar war und seine Aggressionen
zu beherrschen vermochte. Im weiteren ergibt sich aus den Akten, dass
er sich an die späteren Ereignisse ziemlich gut erinnern konnte. Dass
er trotz der Alkoholisierung, der Affekte und der Schmerzen in gewissem
Umfang noch zielgerichtet denken und handeln konnte, geht aus seinem
Verhalten nach dem Einschlagen der Glastüre beim Postwohnblock
hervor, als er auf der Suche nach Hilfe für seine Verletzungen zum
Restaurant zurückkehrte und wegen der verschlossenen Türe das Fenster
einschlug. Angesichts dieser Tatumstände kann nicht mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit eine vollständige Unzurechnungsfähigkeit angenommen
werden. Gegen diese Feststellung nicht aufzukommen vermag die in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretene Auffassung, die völlig
unverständliche Handlungsweise des Beschwerdeführers lasse sich einzig
durch vollständige Unzurechnungsfähigkeit plausibel erklären, es sei
denn, er habe sich in einem Putativnotstand befunden. Abgesehen davon,
dass bisweilen auch voll zurechnungsfähige Personen ganz unvernünftige
Einzelhandlungen begehen, erscheint das Verhalten des Beschwerdeführers
am fraglichen Abend nicht derart uneinfühlbar und abwegig, dass es
als gewichtiges Indiz für vollständige Unzurechnungsfähigkeit gewertet
werden müsste.

    Als Motive für das Zerschlagen der Postblocktüre kommen aufgrund der
Akten aufgestauter Arger wegen familiären und finanziellen Problemen sowie
Wut über die Behandlungsweise durch die Wirtsleute und Wirtshausgäste
in Frage. Ein Gast erwähnte, dass der Beschwerdeführer wegen der
Serviertochter möglicherweise eifersüchtig gewesen sei. Er selber nennt
Verlassenheit und Angstgefühle. Welcher dieser Affekte im Vordergrund
stand, kann offen bleiben. Massgeblich ist, dass in keinem Fall, auch
unter Berücksichtigung der Alkoholisierung, rechtsgenüglich auf einen die
Zurechnungsfähigkeit vollständig aufhebenden psychischen Ausnahmezustand
geschlossen werden kann. Ebenso wenig liegen hinreichende Anhaltspunkte
für einen pathologischen Alkoholrausch vor.

    In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird für den Fall, dass der
Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Tat nicht vollständig unzurechnungsfähig
gewesen sei, hinsichtlich der Beschädigung der Glastüre Putativnotstand
geltend gemacht. Notstandshandlung im Sinne von Art. 34 StGB ist der
sonst strafbare Eingriff in fremde Rechtsgüter, um eigene oder fremde
Rechtsgüter aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu
erretten. Die irrtümliche Annahme einer unmittelbaren Gefahr führt zum
Putativnotstand. Diesfalls wird der Täter nach dem von ihm vorgestellten
günstigeren Sachverhalt beurteilt (Art. 19 Abs. 1 StGB).

    Die Vorinstanz hat in ihrem Entscheid zutreffend begründet,
dass der Beschwerdeführer nach Massgabe der Akten die Glastüre am
Postwohnblock nicht zufolge einer objektiv vorhandenen Gefahr für
seine Person eingeschlagen hatte. Notstand lag somit nicht vor. Zum
Putativnotstand wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ausgeführt,
was sich am fraglichen Abend wirklich abgespielt habe und was der
subjektive Grund des Beschwerdeführers für sein Verhalten gewesen sei,
lasse sich heute nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren. Man könne nur
noch Annahmen treffen. Denkbar sei beispielsweise ohne weiteres, dass
der Beschwerdeführer befürchtet habe, die Gäste kämen zurück, um ihn
noch einmal zu schlagen. Derartige Erklärungsversuche vermögen jedoch
angesichts der Aussagen des Beschwerdeführers nicht zu überzeugen. So
gab der Beschwerdeführer am 28. Juni 1976 zu Protokoll, dass er nicht
verfolgt worden sei. Er habe sich allein und verlassen gefühlt und
Angst verspürt. Dass er sich bedroht wähnte, wird nicht behauptet. Es
lässt sich daher nicht sagen, dass die Beschädigung an der Türe des
Postwohnblocks aus der irrtümlichen Annahme einer unmittelbaren Gefahr
heraus erfolgte. Putativnotstand lag somit aufgrund der Akten nicht vor.

    b) Durch das Einschlagen des Fensters beim Restaurant Löwen hatte
der Beschwerdeführer ein weiteres Mal den objektiven Tatbestand
der Sachbeschädigung gemäss Art. 145 Abs. 1 StGB erfüllt. In der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird diesbezüglich argumentiert, der
Beschwerdeführer habe sich in einer tatsächlichen Notstandslage befunden,
da er verletzt gewesen sei und auch ärztliche Hilfe gesucht habe. Es
kann offen bleiben, ob diese Würdigung des Sachverhalts zutrifft. Denn
selbst wenn es sich bei dieser Sachbeschädigung um eine Nottat gehandelt
haben sollte, könnte der Richter den Beschwerdeführer nicht von Strafe
freisprechen. Die dem Beschwerdeführer drohende Gefahr im Gefolge
seiner Verletzungen ist nach Massgabe der vorstehenden Erwägungen fraglos
selbstverschuldet, was nach Art. 34 Ziff. 1 Abs. 2 StGB in Verbindung mit
Art. 66 StGB lediglich zu einer Strafmilderung nach freiem Ermessen führt.

Erwägung 3

    3.- Aus dem Gesagten folgt, dass der Beschwerdeführer den Tatbestand
der Sachbeschädigung auch in subjektiver Hinsicht gesetzt hatte. Die
allenfalls gegebene verminderte Zurechnungsfähigkeit im Zeitpunkt der
Tat und eine allfällige Notstandslage beim Einschlagen des Fensters beim
Restaurant Löwen vermöchten lediglich eine Strafmilderung (Art. 11 und
Art. 34 Ziff. 1 Abs. 2 StGB in Verbindung mit Art. 66 StGB) zu bewirken,
nicht jedoch völlige Straffreiheit. Bei dieser Sachlage bleibt für die
Anwendung von Art. 263 StGB (Verübung einer Tat in selbstverschuldeter
Unzurechnungsfähigkeit) kein Raum. Es erübrigt sich auch die Prüfung
weiterer Straftatbestände (Hausfriedensbruch und ungebührliches Verhalten
in einem Wirtshaus) sowie des Wagnisses im Sinne von Art. 67 Abs. 3 KUVG.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.