Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 107



106 V 107

25. Urteil vom 2. Juni 1980 i.S. Nebauer gegen Schweizerische Kranken-
und Unfallkasse "Krankenfürsorge" und Versicherungsgericht des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 26 Abs. 3 KUVG. Statutarische Subsidiärklauseln in der
Unfallversicherung einer Krankenkasse in Konkurrenz mit der Subsidiarität
der Bundesdeckung gemäss Art. 76 Abs. 3 SVG.

Sachverhalt

    A.- Am 23. April 1978 fuhr der 1967 geborene Hans-Rudolf Nebauer
mit dem Velo von B. in Richtung F. Wegen eines auf seiner Fahrbahn
entgegenkommenden Autos musste er auf die angrenzende Wiese ausweichen,
wobei er stürzte und sich einen Schlüsselbeinbruch zuzog. Der
Personenwagenlenker setzte seine Fahrt unerkannt fort.

    Die Schweizerische Kranken- und Unfallkasse "Krankenfürsorge"
verfügte am 13. Juni 1978, dass sie für die Unfallheilungskosten nicht
aufkommen könne, da sie gemäss Art. 44 lit. g und Art. 45 Ziff. 2 lit. a
ihrer Statuten bei Kausalhaftungsfällen bzw. bei Haftung Dritter keine
Leistungen zu erbringen habe. Im Falle des Versicherten Hans-Rudolf Nebauer
decke die Eidgenossenschaft die Ersatzansprüche für Personenschäden.

    B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Zürich am 27. Februar 1979 mit der
Begründung ab, die Bundesdeckung nach Art. 76 SVG sei als Haftung
Dritter im Sinne der erwähnten statutarischen Bestimmungen zu
qualifizieren. Zur Deckung dieser Haftpflicht habe der Bund bei der
Zürich-Versicherungsgesellschaft eine Versicherung abgeschlossen.

    C.- Mit vorliegender Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert Hans-Rudolf
Nebauer das Begehren, die streitigen Unfallheilungskosten seien von der
Kasse zu übernehmen. Die Begründung wird, soweit erforderlich, in den
nachfolgenden Erwägungen wiedergegeben.

    Die Kasse lässt sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht
vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt Gutheissung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 45 Ziff. 1 ihrer Statuten übernimmt die
Beschwerdegegnerin Unfallheilungskosten im gleichen Rahmen wie
bei Krankheit. Keine Leistungspflicht besteht jedoch bei Krankheit
und Unfällen, die "Kausalhaftungsfälle darstellen, wenn ein Dritter
ohne eigenes Verschulden und ohne vertragliche Verpflichtung nach
Gesetzesvorschrift haftbar ist" (Art. 44 lit. g der Statuten). Im
weiteren sind Kassenleistungen von der Versicherung "ausgeschlossen,
soweit eine Haftung Dritter besteht. Die auf Subsidiärhaftung beruhenden
Versicherungsleistungen der Kasse werden nur dann von ihr erbracht, wenn
das Mitglied gegenüber einem anderweitigen Versicherungsinstitut bzw.
einem Drittleistungspflichtigen auch ohne Bestehen der Kassenmitgliedschaft
keinen Entschädigungsanspruch besitzt..." (Art. 45 Ziff. 2 lit. a der
Statuten).

    Die als Subsidiärklauseln zu verstehenden Art. 44 lit. g und
Art. 45 Ziff. 2 lit. a der Statuten bezwecken, die Kasse vom Kreis der
Einstandspflichtigen auszunehmen, soweit anderweitige Ersatzpflichtige für
Heilungskosten und Erwerbsausfall aufkommen müssen. Die Kasse soll nicht
vor oder gleichzeitig mit andern Ersatzpflichtigen haftbar werden können.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 76 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den
Strassenverkehr (SVG; SR 741.01) deckt der Bund nach den Grundsätzen
über die Halterversicherung die Ersatzansprüche für die von unbekannten
Motorfahrzeugen oder Radfahrern verursachten Personenschäden sowie für
Sachschäden, die einen vom Bundesrat festzusetzenden Selbstbehalt des
Geschädigten übersteigen. Gemäss Abs. 3 dieser Bestimmung deckt der Bund
nur den Teil des Schadens, für den der Geschädigte nicht anderweitig Ersatz
beanspruchen kann. Leistungen aus privaten Lebensversicherungsverträgen
sowie die in Form einer Kapitalabfindung oder eines Taggeldes geleisteten
Entschädigungen aus privaten Unfallversicherungsverträgen werden indessen
auf die Ansprüche des Geschädigten gegen den Bund nicht angerechnet.

    Die Ersatzpflicht des Bundes tritt demnach erst dann ein, wenn der
Betroffene alle andern Möglichkeiten der Schadensdeckung ausgeschöpft
hat. Mit andern Worten besitzt der Geschädigte so lange keinen
Anspruch auf Leistungen des Bundes, als eine Entschädigungspflicht
Dritter besteht. Nicht anrechenbar sind lediglich Ansprüche aus
Summenversicherungen. Daraus folgt, dass die Bundesdeckung gemäss Art. 76
SVG als (absolut) subsidiär gegenüber anderweitigen Ersatzpflichtigen zu
betrachten ist (H. OSWALD, Revision des Strassenverkehrsgesetzes, in ZBJV
1975, S. 229; DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, S. 150).

Erwägung 3

    3.- Es stellt sich somit die Frage, ob den statutarischen
Subsidiärklauseln der Kasse gegenüber Art. 76 Abs. 3 SVG der Vorrang
eingeräumt werden kann.

    In der bundesrätlichen Botschaft betreffend Änderung des Bundesgesetzes
über den Strassenverkehr vom 14. November 1973 (BBl 1973 II 1204/5)
wird die Subsidiarität der Bundesdeckung wie folgt begründet:

    "Die soziale Begründung dieser Norm und der Umstand, dass der Bund für
   seine Leistungen keine Prämien bezieht, sondern aus öffentlichen Mitteln
   aufzukommen hat, charakterisiert die Bundesdeckung als subsidiär
   gegenüber andern Versicherungsträgern, an die sich der Geschädigte
   halten kann. In der praktischen Anwendung des Art. 76 SVG wurde in
   verschiedenen Fällen die

    Subsidiarität der Bundesdeckung bestritten und die Ansicht vertreten,
dass
   der Bund solidarisch mit den Haftpflichtversicherern der übrigen
   an einem

    Unfall beteiligten Fahrzeuge hafte (ebenso Bussy/Rusconi, Code suisse
de la
   circulation, S. 292; Wehrli, Solidarität mit andern Haftpflichtigen
   oder absolute Subsidiarität der Bundesdeckung? in SVZ 1972, S. 97
   ff.; Oftinger

    II/2 S. 826 ff.) oder sogar eine primäre Leistungspflicht des Bundes
   bestehe.

    Um inskünftig Auslegungsschwierigkeiten zu vermeiden, sehen wir in
Abs. 3
   eine Subsidiärklausel vor. Darnach hat der Geschädigte keinen Anspruch
   gegen den Bund, soweit z.B. Haftpflichtversicherungen anderer am Unfall
   beteiligter Fahrzeuge für den Schaden oder Krankenkassen oder

    Unfallversicherungen für schadenabhängige Kosten (z.B. Arzt- und

    Heilungskosten) aufkommen; einen allenfalls die Leistung dieser

    Versicherungsträger übersteigenden Schadenteil hat jedoch der Bund zu
   übernehmen."

    Schon bei den Vorarbeiten zum Bundesgesetz über den Motorfahrzeug-
und Fahrradverkehr vom 15. März 1932 (MFG) liess sich deutlich die Tendenz
erkennen, den im Strassenverkehr Geschädigten einen möglichst lückenlosen
Versicherungsschutz zu bieten. Besondere Probleme stellten sich dabei für
die Deckung von Schäden, die von Strolchenfahrern und nichtversicherten
oder unbekannt gebliebenen Fahrzeugen verursacht wurden. Man erachtete
es als mit dem sozialen Empfinden unvereinbar, in solchen Fällen - im
Vordergrund stand damals namentlich die Strolchenfahrt - das schuldlose
Verkehrsopfer den Schaden selber tragen zu lassen (P. PORTMANN,
Strolchenfahrt und Strolchenfahrtenversicherung, Diss. Bern 1952, S. 7;
P. STAUB, Die Ergänzung der Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung
nach Art. 75 und 76 SVG, Diss. Bern 1968, S. 36). Eine Lösung
hinsichtlich der unbekannten Schädiger brachte allerdings erst das neue
Strassenverkehrsgesetz (SVG). Da sich der im Entwurf vom Januar 1952 zum
SVG gemachte Vorschlag, die Gesamtheit der Haftpflichtversicherer und
damit indirekt die Motorfahrzeughalter zu behaften, nicht durchzusetzen
vermochte und sich keine andere realisierbare Lösungsmöglichkeit bot, wurde
in Anlehnung an die frühere Regelung für die Strolchenfahrtenschäden
die Hilfseinrichtung des Art. 76 SVG geschaffen. Daraus erhellt,
dass der Gesetzgeber mit Art. 76 SVG eine als sozial nicht vertretbar
empfundene Lücke in der Schadensdeckung schliessen wollte (BBl 1973 II S.
1204). Die Zurechnung des von einem unbekannten Fahrzeug verursachten
Schadens an den Bund erfolgt ausschliesslich aus dieser Begründung
heraus. Entgegen der von Kasse und Vorinstanz vertretenen Auffassung
hat der Bund für die Deckung dieser Schäden nicht eine Versicherung
abgeschlossen. Vielmehr erledigt gemäss einem Abkommen des Bundes
mit den UDK-Versicherungsgesellschaften die jeweils geschäftsführende
Gesellschaft lediglich die Schadenregulierung. Der Bund zahlt dieser
Gesellschaft die von ihr erbrachten Schadenersatzleistungen zuzüglich einer
Erledigungsgebühr und der Barauslagen, vermindert um den Regressertrag,
in vollem Umfange zurück. Prämien entrichtet der Bund nicht.

    Anders verhält es sich mit der von der Beschwerdegegnerin
übernommenen Verpflichtung, den Beschwerdeführer auch gegen Unfall
zu versichern. Dafür bezieht sie vom Versicherten Prämien und kommt
überdies in den Genuss von Subventionen. Es handelt sich um eine vom
Prinzip der Gegenseitigkeit beherrschte Versicherung. Diese im Verhältnis
zu der aus Billigkeit erfolgenden Einstandspflicht des Bundes engere
und stärker verpflichtende Beziehung zwischen Beschwerdegegnerin und
Beschwerdeführer rechtfertigt es, der Subsidiarität gemäss Art. 76 Abs. 3
SVG den Vorrang einzuräumen. Demzufolge hat die Leistungspflicht der Kasse
der Bundesdeckung vorzugehen. Die Beschwerdegegnerin wird deshalb die zu
erbringenden gesetzlichen und statutarischen Leistungen zu bestimmen und
gegebenenfalls eine neue Verfügung darüber zu erlassen haben.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Februar 1979 und die
Verfügung der Schweizerischen Kranken- und Unfallkasse "Krankenfürsorge"
vom 13. Juni 1978 aufgehoben. Die Sache wird an die Schweizerische Kranken-
und Unfallkasse "Krankenfürsorge" zurückgewiesen, damit sie im Sinne der
Erwägungen verfahre.