Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 V 1



106 V 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 12. Februar 1980 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Bucher und Kantonale Rekurskommission für die
Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art. 29 Abs. 2 AHVG. Keine Anrechnung von Beitragsjahren der Ehefrau
an die fehlenden Beitragsjahre ihres verstorbenen Ehemannes (Erw. 1).

    Art. 30 Abs. 2 AHVG. Ist bei der Berechnung des durchschnittlichen
Jahreseinkommens Fraueneinkommen mit zu berücksichtigen, so wird das
Erwerbseinkommen nicht mitgezählt, das die Ehefrau bis zum 31. Dezember
des Jahres, in dem sie das 20. Altersjahr zurückgelegt hat, erzielt hat
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Heinrich Bucher starb am 17. Dezember 1978. Mit Verfügung vom
9. März 1979 gewährte die Ausgleichskasse SPIDA der Madelaine Bucher eine
Witwenrente von monatlich Fr. ... und der Tochter eine einfache Waisenrente
von monatlich Fr. ... Als Berechnungsgrundlage diente ein massgebendes
durchschnittliches Jahreseinkommen von Fr. ..., eine Beitragsdauer von
28 Jahren und die Rentenskala 40.

    B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich Madelaine Bucher bei der
Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, mit dem Antrag, es sei
ihr eine Vollrente nach der Rentenskala 44 auszuzahlen. Zur Begründung
führte sie aus, das Konto ihres Ehemannes weise eine Beitragslücke Von
1948 bis 1951 auf, weil er als hoffnungsloser Lungenpatient während
dieser Zeit hospitalisiert gewesen sei. Ihr Ehemann hätte damals als
Nichterwerbstätiger erfasst werden sollen. Ferner sei davon auszugehen,
dass die von ihr in den Jahren 1951 bis 1955, d.h. Vor dem der Vollendung
ihres 20. Altersjahres folgenden Kalenderjahr geleisteten Beiträge
stellvertretend die Beitragslücke ihres Ehemannes ausfüllen können.

    Die Rekurskommission hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 29. Mai
1979 gut. Zur Begründung führte sie aus, das AHVG stelle - unabhängig
von einem allfälligen Verschulden des Versicherten - einzig auf die
geleisteten Beiträge ab, so dass eine Beitragslücke Von 1948 bis 1951
bestehe. Im Fehlen von Vorschriften über die Anrechnung von Beitragsjahren
der Frau an die unvollständigen Beitragsjahre des Verstorbenen Ehemannes
erblickte die Rekurskommission jedoch eine Gesetzeslücke, die sie in dem
Sinne ausfüllte, dass sie die drei fehlenden Beitragsjahre des Ehemannes
durch die Beitragsjahre der Ehefrau ersetzte und damit Skala 44 als
anwendbar erklärte.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche
Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung wiederherzustellen. Auf
die Begründung wird in den Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz erblickt in der gesetzlichen Regelung, wonach
bei der Berechnung von Hinterlassenenrenten einzig die Beitragsdauer des
verstorbenen Versicherten massgebend ist (Art. 29 Abs. 2 AHVG), eine echte
Gesetzeslücke. Eine Vom Richter auszufüllende Lücke im Gesetz darf nach dem
allgemeinen Grundsatz des Art. 1 Abs. 2 ZGB nur dann angenommen werden,
wenn das Gesetz eine sich unvermeidlicherweise stellende Frage nicht
beantwortet (BGE 99 V 21 mit Hinweisen). Ob eine zwingende Notwendigkeit
zur Aufnahme einer Bestimmung über die Anrechnung von Beitragsjahren der
Ehefrau an die unvollständigen Beitragsjahre ihres verstorbenen Ehemannes
besteht und wie bei Annahme einer echten Lücke diese zu füllen sei, hat
der Richter nach anerkannten Auslegungsregeln zu prüfen (MEIER/HAYOZ,
N. 255 ff. zu Art. 1 ZGB).

    Die Umstände, unter denen die bestehende Regelung entstanden ist,
weisen - wie das Bundesamt für Sozialversicherung zutreffend darlegt
- auf ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes hin: Im Rahmen der
6. AHV-Revision trat am 1. Januar 1964 Art. 30 Abs. 6 AHVG (am 1. Januar
1969 durch Art. 30bis AHVG ersetzt) in Kraft. Diese neue Bestimmung
räumte dem Bundesrat die Befugnis ein, besondere Vorschriften über die
ersatzweise Anrechnung von Beitragsjahren und Beiträgen der Ehefrau bei
unvollständiger Beitragsdauer des Ehemannes zu erlassen. Daraus hat das
Eidg. Versicherungsgericht in EVGE 1965 S. 24 geschlossen, die Frage
der Ergänzung einer unvollständigen Beitragsdauer des Ehemannes durch
Beitragsjahre der Ehefrau sei dem Gesetzgeber nicht entgangen, weshalb
in diesem Bereich die Annahme einer durch den Richter auszufüllenden
Gesetzeslücke abzulehnen sei. An dieser Auffassung ist heute auch aus
folgenden Gründen festzuhalten: Von seiner oben erwähnten Befugnis hat der
Bundesrat durch Erlass einer in Art. 54 AHVV (in der vom 1. Januar 1966
bis 31. Dezember 1972 gültigen Fassung) enthaltenen Ausführungsbestimmung
Gebrauch gemacht. Danach war die Anrechnung von Beitragszeiten der Ehefrau
an die unvollständige Beitragsdauer des Ehemannes nur unter ganz bestimmten
Voraussetzungen und lediglich bei der Berechnung von Ehepaar-Altersrenten
und der sie ablösenden Witwenrenten möglich. Im Rahmen der am 1. Januar
1973 in Kraft getretenen 8. AHV-Revision wurden die Art. 30bis AHVG
und Art. 54 AHVV in dem Sinne abgeändert, dass die Vorschriften über die
ersatzweise Anrechnung von Beitragsjahren und Erwerbseinkommen der Ehefrau
bei unvollständiger Beitragsdauer des Ehemannes vollständig aufgehoben
wurden. Diese Tatsache lässt nicht auf das Bestehen einer Gesetzeslücke
schliessen, sondern ist gegenteils als eine negative Stellungnahme des
Gesetzgebers zu werten. Bei der Berechnung von Hinterlassenenrenten
ist somit für die Bestimmung der Rentenskala einzig die anrechenbare
Beitragsdauer des Verstorbenen massgebend (nicht publiziertes Urteil vom
5. April 1978 i.S. Maionali).

    Das individuelle Konto des verstorbenen Heinrich Bucher weist 27 volle
Beitragsjahre auf (von 1952 bis 1978), zu denen gemäss Art. 52bis AHVV ein
zusätzliches Beitragsjahr angerechnet werden kann. Der dem verstorbenen
Versicherten anrechenbaren Beitragsdauer von 28 Jahren (wovon 22 vor
1973 und 6 nach 1973) stehen 31 Beitragsjahre seines Jahrgangs gegenüber,
was gemäss dem vom 1. Januar 1979 an für neu entstehende Renten gültigen
Skalawähler 1979 die Rentenskala 40 ergibt. Die Ausgleichskasse hat deshalb
die mit Verfügung vom 9. März 1979 zugesprochenen Hinterlassenenrenten
zu Recht aufgrund der Rentenskala 40 berechnet.

Erwägung 2

    2.- Gemäss dem seit 1. Januar 1979 geltenden Wortlaut von
Art. 30 Abs. 2 AHVG werden bei der Berechnung des durchschnittlichen
Jahreseinkommens nur die Beiträge angerechnet, die der Versicherte seit dem
1. Januar nach Vollendung des 20. Altersjahres bis zum 31. Dezember vor
der Entstehung des Rentenanspruchs entrichtet hat. Sind bei der Berechnung
einer Rente Fraueneinkommen mit zu berücksichtigen, so werden - wie das
Bundesamt für Sozialversicherung zutreffend ausführt - Erwerbseinkommen
nicht mitgezählt, von denen die Ehefrau bis zum 31. Dezember des Jahres,
in dem sie das 20. Altersjahr zurückgelegt hat, Beiträge entrichtet hat
(Rz 61 des Kreisschreibens IV an die Ausgleichskassen über die Durchführung
der 9. AHV-Revision auf dem Gebiete der Renten Vom 10. November 1978). Mit
dieser Regelung soll vermieden werden, dass bei der Berechnung von Ehepaar-
oder Hinterlassenenrenten Beiträge der Ehefrau angerechnet werden, die
bei der Berechnung der eigenen einfachen Rente der Frau in der Regel
nicht angerechnet werden...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid
der Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel, vom 29. Mai 1979
wird aufgehoben.