Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 355



106 IV 355

87. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. November 1980
i.S. Sch. und W. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden sowie
diese gegen Sch. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.

    Der Beherberger, der die von ihm gemäss einem kommunalen
Fremdenverkehrsgesetz beim Gast erhobene Fremdentaxe nicht an die
zuständige Stelle abliefert, sondern sie widerrechtlich für eigene
Zwecke verwendet, ist nicht wegen Veruntreuung strafbar, da es an einem
Vertrauensverhältnis fehlt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:
III. Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft

Erwägung 1

    1.- In den Jahren 1976 und 1977 kassierte Sch. im Hotel X. in Chur
Fremdentaxen im Betrage von insgesamt Fr. 3'358.-- ein und lieferte
dieses Geld dem Verkehrsverein Chur nicht ab, sondern verwendete es in
seinem Hotelbetrieb.

    Während das Kreisgericht Chur dieses Verhalten gemäss Art. 140 Ziff. 1
Abs. 2 StGB als Veruntreuung bestrafte, kam das Kantonsgericht in diesem
Punkt zu einem Freispruch mit der Begründung, ein Vertrauensverhältnis
liege nicht vor, Einzug und Ablieferung der Taxen beruhten allein auf
der gesetzlichen Vorschrift im Fremdenverkehrsgesetz der Stadt Chur.

Erwägung 2

    2.- Der Bezug von Fremdentaxen ist im Gesetz der Stadtgemeinde Chur
zur Förderung des Fremdenverkehrs vom 16. Oktober 1966 geregelt: Gemäss
Art. 3 erhebt die Stadt von jedem in Chur gegen Entgelt beherbergten Gast
und von jedem Campingplatzbenützer eine Taxe, deren Höhe vom Gemeinderat
im Einvernehmen mit dem Verkehrsverein festgesetzt wird. Beherberger sind
gemäss Art. 5 verpflichtet, die Taxe beim Gast zu erheben. Sie haften
der Gemeinde gegenüber für den richtigen Einzug. Die Abrechnung der
Taxen erfolgt auf Grund der Fremdenkontrolle. Der Stadtpolizei und dem
Verkehrsverein steht das Kontrollrecht zu. Widerhandlungen gegen dieses
Gesetz werden mit Bussen von Fr. 20.-- bis Fr. 500.-- geahndet (Art. 10).

Erwägung 3

    3.- a) Art. 140 StGB setzt voraus, dass das vom Täter unrechtmässig
verwendete Gut ihm anvertraut worden ist.

    Die Rechtsprechung hat sich schon wiederholt mit dem Tatbestandselement
des "Anvertrautseins" befasst:

    - Bejaht wurde das Vertrauensverhältnis bei Lohnabzügen des
Arbeitgebers im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer zur Abzahlung einer
Kaufpreis- bzw. Darlehensschuld (BGE 94 IV 138 f.), ebenfalls hinsichtlich
der Trinkgelder, welche ein Tankwart erhielt und gemäss betriebsinterner
Regelung in eine gemeinsame Kasse legen sollte (BGE 98 IV 22).

    - Verneint hat der Kassationshof das Vorliegen eines
Vertrauensverhältnisses bei den Einnahmen eines Spielautomaten, die der
Eigentümer des Automaten gemäss Abmachung mit der Inhaberin (Wirtin)
des Lokals, in dem der Automat aufgestellt war, zu teilen hatte (BGE
99 IV 201). Ebenfalls kein Vertrauensverhältnis wurde in dem von der
Vorinstanz zitierten BGE 99 IV 206 angenommen bei der widerrechtlichen
Nichtablieferung eines gepfändeten und vom Arbeitgeber zurückbehaltenen
Lohnanteils.

    Die Praxis, wie sie in den beiden erstgenannten Präjudizien zum
Ausdruck kommt, wurde in der Doktrin als zu weitgehend kritisiert
(REHBERG in ZStR 92/1976 S. 40 ff., insbes. S. 47 f. und 50, vgl. auch
STRATENWERTH, Strafrecht, Bes. Teil, Bd. I, S. 181), während die den
Tatbestand einschränkend interpretierenden Urteile BGE 99 IV 201 und 206
Zustimmung fanden (REHBERG, aaO, S. 42, 49).

    b) Der im vorliegenden Fall zu beurteilende Sachverhalt ist im Rahmen
der skizzierten Praxis am ehesten mit BGE 99 IV 206 (Nichtablieferung
eines gepfändeten Lohnanteils) vergleichbar. Hier wie dort fehlt ein
persönliches Anvertrauen des in Frage stehenden Geldbetrages. Nicht
eine Abmachung zwischen den Parteien regelt das Verhältnis zwischen den
Beteiligen, sondern die nicht eingehaltene Verpflichtung des Täters ergibt
sich aus den Vorschriften eines Erlasses (SchKG, Fremdenverkehrsgesetz),
die im Fall BGE 99 IV 206 durch die betreibungsamtliche Lohnpfändung
konkretisiert wurden, im vorliegenden Fall direkt anwendbar sind.

    Ob ein durch Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB geschütztes
Vertrauensverhältnis auch auf gesetzlicher Anordnung beruhen kann, wie
dies die Staatsanwaltschaft in der Nichtigkeitsbeschwerde behauptet,
braucht hier nicht generell entschieden zu werden. Auf jeden Fall schafft
die öffentlichrechtliche Ordnung des Bezugs einer Abgabe nach dem Modell
der Churer Fremdentaxe keine strafrechtlich sanktionierte Treuepflicht
des gegenüber dem Gemeinwesen für die Abgabe haftenden Beherbergers,
der seinerseits die Abgabe beim einzelnen Gast erheben soll. Auch
im Bundesrecht kommt bei Verstössen im Rahmen ähnlicher Bezugssysteme
nicht Art. 140 StGB zur Anwendung, sondern der seine Ablieferungspflicht
nicht Einhaltende wird aufgrund einer speziellen Bestimmung bestraft. So
bedroht Art. 87 Abs. 3 AHVG denjenigen mit Gefängnis bis zu 6 Monaten
oder mit Busse bis zu Fr. 20'000.--, der "als Arbeitgeber einem
Arbeitnehmer Beiträge vom Lohn abzieht, sie indessen dem vorgesehenen Zweck
entfremdet". Dass der Täter nur gemäss dieser Spezialnorm und nicht gemäss
Art. 140 oder 159 StGB zu bestrafen sei, wurde in BGE 82 IV 138 mit dem
Prinzip des Vorrangs des lex specialis begründet, ergibt sich in bezug
auf Art. 140 StGB aber auch daraus, dass die kraft Gesetzes abgezogenen
Sozialversicherungsbeiträge dem Arbeitgeber nicht im Sinn des mit einer
schwereren Strafe bedrohten Tatbestandes der Veruntreuung anvertraut sind
(entgegen dem obiter dictum in BGE 94 IV 139 oben).

    Unterstellt das Bundesrecht den Arbeitgeber bei der Zweckentfremdung
abgezogener Sozialversicherungsbeiträge nicht dem Art. 140 StGB, sondern
bringt es eine mildere spezielle Strafdrohung zur Anwendung, so darf
daraus der Schluss gezogen werden, auch den Beherberger treffe beim
Bezug der Churer Fremdentaxe nicht eine durch Art. 140 StGB sanktionierte
Treuepflicht, sein rechtswidriges Verhalten könne mithin - ohne Verletzung
von Bundesrecht - ausschliesslich nach kantonalem Recht geahndet werden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen.