Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 350



106 IV 350

86. Urteil des Kassationshofes vom 24. Oktober 1980 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Graubünden gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 125 Abs. 1, 18 Abs. 3 StGB.

    Vorsichtspflicht des Skifahrers auf einem Gelände, welches funktionell
als Vorplatz einer Station, Warteraum oder Vorbereitungsareal am Beginn
einer Abfahrtsstrecke erkennbar ist (E. 3c).

Sachverhalt

    A.- Am 10. Dezember 1978 befand sich W. als Skifahrer im Gebiet
des Corvatschgletschers in Silvaplana. Um ca. 14.30 Uhr fuhr er über
den Gletscher hinunter gegen die Bergstation. Auf dem plateauartigen
Platz vor der Bergstation befanden sich zwei Gruppen von Skifahrern,
die stillstanden und rund 10 Meter voneinander entfernt waren. W. fuhr
auf das Plateau und wollte zwischen den beiden Gruppen durchfahren. Dabei
kollidierte er mit Frau K., die sich von der einen Personengruppe löste,
um zur zweiten, weiter unten befindlichen Gruppe zu fahren. Durch diesen
Zusammenstoss erlitt Frau K. einen Knöchelbruch am linken Fuss. Sie hat
gegen W. Strafantrag wegen fahrlässiger Körperverletzung gestellt.

    B.- a) Der Kreisgerichtsausschuss Oberengadin sprach W. am 6. März
1980 von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1
StGB) frei, im wesentlichen mit der Begründung, der Angeklagte habe nicht
damit rechnen müssen, dass sich jemand von der am Fusse der Treppe der
Bergstation befindlichen Gruppe bei seinem Herannahen plötzlich lösen
und sich quer zu seiner Fahrbahn in Bewegung setzen werde.

    b) Die vom Staatsanwalt gegen den Freispruch eingelegte Berufung
hat der Ausschuss des Kantonsgerichts am 4. Juni 1980 abgewiesen, da der
Nachweis einer Verletzung der in den FIS-Regeln aufgestellten Richtlinien
im vorliegenden Fall wegen der widersprüchlichen Zeugenaussagen nicht zu
erbringen sei.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt gegen dieses Urteil
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Freispruch sei aufzuheben
und die Sache zur Neubeurteilung und Bestrafung von W. an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    D.- Der Verteidiger des W. hat sich zur Nichtigkeitsbeschwerde
vernehmen lassen. Er beantragt deren Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In der Nichtigkeitsbeschwerde und in der Vernehmlassung des
Verteidigers werden teilweise tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz
nicht in vollem Umfange übernommen oder kritisiert. Der Kassationshof
ist jedoch an den vom Kantonsgericht festgestellten Sachverhalt gebunden
und hat sich nur mit der rechtlichen Subsumtion zu befassen (Art. 269/277
bis BStP).

Erwägung 2

    2.- Auszugehen ist daher in diesem Verfahren von folgenden, für den
Kassationshof verbindlichen, tatsächlichen Feststellungen.

    a) W. ist in ungebremster, "sportlicher" Fahrt auf das Plateau
unterhalb der Bergstation gefahren. Aufgrund der in der Beurteilung
der Geschwindigkeit nicht übereinstimmenden Aussagen der Zeugen kam die
Vorinstanz zum Schluss, der Beweis eines nicht angemessenen Tempos sei
nicht erbracht.

    b) Auf dem Plateau befanden sich im Abstand von ungefähr 10 Metern
zwei grössere Gruppen von Skifahrern. Es handelt sich bei diesem ebenen
Platz um den Vorbereitungsraum, wo sich die mit der Bergbahn ankommenden
Skifahrer zur Abfahrt bereit machen. Wieviele Skifahrer sich zur Zeit des
Unfalls auf dem Plateau befanden, steht nicht genau fest. Selbst nach der
in der Vermehmlassung zitierten tiefsten Schätzung umfassten die beiden
Gruppen zusammen mindestens 20 Personen bzw. etwa 20 bis 40 Personen.

    c) W. wollte nun - immer noch in zügiger Fahrt - den Zwischenraum
zwischen den beiden Gruppen zur Durchfahrt benützen, um nachher anzuhalten.

    d) Frau K. löste sich - in der Fahrtrichtung von W. gesehen - von der
linken Personengruppe, ohne sich zuvor zu vergewissern, ob die Passage
zur andern Gruppe ohne Gefahr möglich sei.

    e) Es kam zu einer Kollision. Dass der Knöchelbruch von Frau K. die
direkte Folge dieser Kollision war, steht ausser Zweifel.

Erwägung 3

    3.- Mit der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird
die Rechtsfrage zur Entscheidung gestellt, ob die Fahrweise des
Beschwerdegegners unter den gegebenen Umständen ein pflichtwidrig
unvorsichtiges Verhalten im Sinne von Art. 18 Abs. 3 StGB darstellt. Die
Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen einer allfälligen Verletzung
der Sorgfaltspflicht und den eingetretenen Folgen wird mit Recht nicht
bestritten.

    a) Nach Auffassung der Vorinstanz liess sich W. u.a. deswegen keine
Sorgfaltspflichtverletzung zuschulden kommen, weil ihm ein Vortrittsrecht
zugestanden habe. Sie berief sich hiebei auf die Verhaltensregeln für
Skifahrer, die seit der starken Zunahme des Pistenfahrens aufgestellt
worden sind und in den FIS-Regeln (Verhaltensregeln der Fédération
Internationale de Ski, beschlossen am Kongress in Beirut 1967)
eine offiziöse Fassung mit Anspruch auf internationale Anerkennung
gefunden haben. Diese FIS-Regeln sind keine Rechtsnormen, sondern
Verhaltensempfehlungen, die sich an Skifahrer richten (J. PICHLER, Pisten,
Paragraphen, Skiunfälle, Wien 1970, S. 38/9). Da sie vom internationalen
Fachverband erlassen worden sind, steht grundsätzlich nichts im Wege, sie
als Massstab für die im Skisport üblicherweise zu beachtende Sorgfalt
heranzuziehen (vgl. hiezu H.K. STIFFLER, Schweizerisches Skirecht,
Derendingen-Solothurn 1978, S. 59 u. 74; M. REINHARDT, Die strafrechtliche
Bedeutung der FIS-Regeln, Zürcher Diss. 1976, S. 69; J. PICHLER, aaO
S. 40).

    b) Den FIS-Regeln lässt sich jedoch keine allgemeine Richtlinie
entnehmen, die auf den vorliegenden Fall direkt anwendbar wäre und als
Umschreibung pflichtgemässer Vorsicht gelten könnte.

    Die FIS-Regel 2 enthält den Grundsatz: "Jeder Skifahrer muss seine
Geschwindigkeit und seine Fahrweise seinem Können und den Gelände- und
Witterungsverhältnissen anpassen."

    In der FIS-Regel 5 wird das Gebot aufgestellt: "Wer in eine
Abfahrtsstrecke einfahren oder ein Skigelände queren (traversieren) will,
muss sich nach oben und unten vergewissern, dass er dies ohne Gefahr für
sich und andere tun kann. Dasselbe gilt nach jedem Anhalten (M. REINHARDT,
aaO, Text der FIS-Regeln S. 55 f.)."

    Setzt man diese beiden Regeln in ein praktikables gegenseitiges
Verhältnis, so führt dies bei analoger Anwendung des im Strassenverkehr
geltenden Vertrauensprinzips (vgl. Art. 26 SVG, BGE 104 IV 30 f.) etwa
zu folgender konkreter Richtlinie:

    Wer auf einer Piste fährt, darf sich in der Regel darauf verlassen,
   dass am Rande stehende oder in der Piste anhaltende Skifahrer ihm den

    Vortritt lassen und nicht plötzlich quer in seine Fahrbahn
hineinkommen.

    Das Vertrauen auf die Einhaltung der FIS-Regel 5 bildet so die
Grundlage dafür, dass der auf der Piste Fahrende seine Geschwindigkeit
ohne Verletzung von FIS-Regel 1 ("Jeder Skifahrer muss sich so verhalten,
dass er keinen anderen gefährdet oder schädigt") nicht auf unvermittelt
vom Pistenrand her einbiegende Querfahrer ausrichten muss, sondern sich
darauf verlassen darf, dass Einbiegende sich durch einen Blick hangaufwärts
über die Gefahrlosigkeit ihres Einbiegemanövers vergewissern.

    c) Diese Richtlinie über das Einbiegen und Querfahren auf eigentlichen
Abfahrtspisten kann in Vorbereitungs- und Warteräumen, insbesondere bei
Berg- und Talstationen von Transportanlagen keine Geltung beanspruchen. Wer
- sei es auch im Auslauf einer Piste - in ein Gebiet kommt, welches
vorwiegend zum An- oder Abschnallen der Skis benützt wird, durch Gruppen
von stillstehenden Skifahrern charakterisiert ist und keine eindeutig
der Abfahrt (Durchfahrt) dienende Piste aufweist, sondern topographisch
(verhältnismässig eben) und funktionell als Vorplatz einer Station,
Warteraum oder Vorbereitungsareal am Beginn einer Abfahrtsstrecke
erkennbar ist, muss damit rechnen, dass die dort befindlichen Personen
sich auf diesem Platz bewegen, ohne stets auf passierende Skifahrer
mit hoher Geschwindigkeit gefasst zu sein. Zwar wird man auch auf einer
solchen Vorbereitungs- oder Wartefläche verlangen müssen, dass jeder, der
sich in Bewegung setzt, die Behinderung anderer Skifahrer vermeidet und
Durchfahrenden den Weg nicht abschneidet. Anderseits hat derjenige, der
zwischen vorhandenen Gruppen durchfahren will, seine Geschwindigkeit und
seinen Weg (Abstand von Personen) so zu wählen, dass er der unvermittelten
Verschiebung eines stillstehenden Skifahrers ausweichen kann. Er darf in
dieser Situation, wenn er sich eben nicht auf einer Piste, sondern auf
einer Wartefläche befindet, nicht darauf vertrauen, dass jeder, der seine
Fahrbahn kreuzen will, ihn rechtzeitig bemerkt und ihm dann den Vortritt
gewährt. Während man auf einer Piste füglich von einem Vortrittsrecht des
von oben mit üblicher Abfahrtsgeschwindigkeit Herankommenden gegenüber
dem vom Pistenrand her Einbiegenden sprechen darf, kann dem von der Piste
in einen Warte- oder Vorbereitungsraum Einfahrenden kein Vortrittsrecht
gegenüber den dort stehenden Skifahrern zuerkannt werden. Erfahrungsgemäss
ist auf einem solchen Platz mit Personen zu rechnen, die sich von einer
Gruppe unvermittelt lösen. Das muss der von der Piste her Kommende bei
seiner Fahrweise berücksichtigen.

Erwägung 4

    4.- a) Im vorliegenden Fall steht fest, dass sich die Kollision nicht
auf einer klar erkennbaren Fortsetzung der Abfahrtspiste, sondern auf einer
zum Vorbereitungsraum gehörenden Fläche ereignete. Im ganzen Verfahren
wurde auch nie geltend gemacht, die Verletzte habe eine eigentliche Piste
überquert, sondern aus allen Aussagen ergibt sich, dass W. von der Piste
her auf ein der Vorbereitung dienendes Gelände fuhr und - wie er selber
sagt - dort anhalten wollte. Der ungenauen Bemerkung im angefochtenen
Urteil, W. habe sich auf einer "öffentlichen Piste befunden, welche
auf dem Plateau endete", lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Es
besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass die Durchfahrt zwischen den beiden
Skifahrergruppen durch die klare Linienführung einer Piste bedingt war.

    Indem W. so schnell auf das Plateau vor der Bergstation fuhr und zur
linken Skifahrergruppe einen so geringen Abstand einhielt, dass er einer
unvermittelt von dort wegfahrenden Person nicht ausweichen konnte, handelte
er nach dem Gesagten pflichtwidrig unvorsichtig. Im Vorbereitungsraum bei
der Bergstation musste er auf eine solche unaufmerksame Bewegung eines
Skifahrers gefasst sein. Ob für die Kollision eher die Geschwindigkeit
oder eher der geringe Abstand kausal war, ist letztlich ohne Belang. Auf
jeden Fall hat W. seine Fahrweise insgesamt - wie die Kollision beweist -
nicht auf eine solche in der gegebenen Situation keineswegs ungewöhnliche
Verschiebung aus einer stillstehenden Gruppe heraus eingestellt,
sondern gewissermassen ein Vortrittsrecht vorausgesetzt. Diese aus den
festgestellten Tatsachen sich ergebende Schlussfolgerung wird durch die
unterschiedliche Beurteilung der Geschwindigkeit durch die Zeugen nicht
in Frage gestellt.

    b) Anders wäre höchstens zu entscheiden, wenn die Kollision
sich ausserhalb des Vorbereitungsraumes ereignet hätte und W. auf
einer eigentlichen Abfahrtspiste talwärts gefahren wäre. Wie es sich
dabei verhält, wenn auf den beiden Seiten einer klar erkennbaren Piste
Skifahrergruppen stehen, kann hier aber offen bleiben. Es braucht nicht
entschieden zu werden, ob und allenfalls unter welchen Voraussetzungen
solche Massierungen am Pistenrand (oder auf der Piste) das erhöhte Risiko
von Traversierungen und plötzlichen Einbiegemanövern erkennen lassen und
(analog Art. 26 Abs. 2 SVG) den auf der Piste Herankommenden zu erhöhter
Vorsicht verpflichten (vgl. BGE 80 IV 52). Im Vorbereitungsraum bei einer
Bergstation jedenfalls kann der von einer Abfahrt her Einfahrende sich
nicht auf ein Vortrittsrecht verlassen, sondern muss seine Fahrweise
den besondern Verhältnissen anpassen und darauf gefasst sein, dass ein
unaufmerksamer Skifahrer in seine (von ihm frei gewählte) Fahrbahn treten
könnte. Diese Vorsichtspflicht in Vorbereitungs- und Warteräumen hat
W. klar missachtet und sich damit eines fahrlässigen Verhaltens schuldig
gemacht. Dass auch die Verletzte ihrer Vorsichtspflicht nicht nachgekommen
ist, hebt das Verschulden von W. nicht auf.