Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 321



106 IV 321

80. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. Dezember 1980
i.S. Walter Stürm gegen Direktion der Justiz des Kantons Zürich
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 40 StGB; Art. 3 EMRK; Garantie der persönlichen Freiheit.

    Pflege und Heilung eines kranken Strafgefangenen sind grundsätzlich im
Rahmen des gegebenenfalls modifizierten Strafvollzugs durchzuführen. Eine
Ausnahme von der Regel ist nur dort geboten, wo die Erkrankung derart
ist, dass eine vollständige Straferstehungsunfähigkeit von unabsehbarer
oder mindestens langer Dauer vorliegt und die Freilassung sich derart
aufdrängt, dass die mit dem Strafvollzug angestrebten Ziele gänzlich
der Notwendigkeit von Pflege und Heilung weichen müssen. Dabei darf bei
schwerer Delinquenz auch dem erhöhten Schutzbedürfnis der Gemeinschaft
Rechnung getragen werden.

Sachverhalt

    A.- Walter Stürm verbüsst zur Zeit in der kantonalen Strafanstalt
Regensdorf eine vom Obergericht des Kantons Zürich am 27. Januar 1972 wegen
bandenmässigen Raubs und weiterer Delikte ausgesprochene Zuchthausstrafe
von achteinhalb Jahren, abzüglich 542 Tage Untersuchungshaft. Von dieser
Strafe sind heute erst ungefähr drei Jahre verbüsst, weil Stürm dreimal
aus der Strafanstalt ausgebrochen war und jeweils nur nach längerer Zeit
wieder hatte verhaftet werden können. Wegen einer Vielzahl auf der zweiten
und dritten Flucht begangener Delikte steht Stürm im Kanton Aargau in
Strafuntersuchung. Stürm hatte bereits bei den 1972 abgeurteilten Delikten
Waffen eingesetzt und auch im Strafvollzug versucht, in den Besitz von
Waffen zu gelangen. Bei seiner letzten Verhaftung im November 1979 war
er mit einer geladenen Pistole betroffen worden.

    B.- Gestützt auf einen Bericht des nebenamtlichen Anstaltspsychiaters
Dr. H. Reller vom 7. Juli 1980 über den Gesundheitszustand Stürms,
demzufolge bei Stürm damals Symptome einer schweren Depression bestanden,
ersuchte dieser am 10. Juli 1980 die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
um einen Strafunterbruch gemäss Art. 40 StGB.

    Das Gesuch wurde am 8. September 1980 aufgrund eines von Dr. Max
Keller am 29. August 1980 erstatteten psychiatrischen Gutachtens, das eine
zumindest teilweise Straferstehungsfähigkeit Stürms bejahte, abgewiesen
und ebenso ein gegen diesen Entscheid bei der Direktion der Justiz des
Kantons Zürich von Stürm eingereichter Rekurs.

    C.- Stürm ficht diesen Entscheid in zwei Eingaben mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Er beantragt, den Vollzug der
Freiheitsstrafe unverzüglich zu unterbrechen und ihn aus der Haft zu
entlassen. Er rügt eine unrichtige Feststellung des Sachverhalts, eine
Verletzung von Art. 40 StGB, von Art. 3 EMRK und des verfassungsmässigen
Rechts auf persönliche Freiheit.

    Gleichzeitig ersucht Stürm, es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege
zu gewähren und Rechtsanwalt Rambert als amtlicher Verteidiger zu ernennen.

    Die Direktion der Justiz des Kantons Zürich beantragt Abweisung der
Beschwerde, soweit auf diese überhaupt einzutreten sei. Das EJPD trägt
ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde an.

    Von der Justizdirektion auf Ersuchen des Instruktionsrichters
nachgereichte Akten wurden dem Anwalt Stürms zur Vernehmlassung zugestellt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 7

    7.- Der Beschwerdeführer rügt schliesslich eine Verletzung von
Art. 40 StGB, von Art. 3 EMRK und einen Verstoss gegen die Garantie der
persönlichen Freiheit. Der in der erstgenannten Bestimmung enthaltene
Begriff der wichtigen Gründe sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen
Inhalt unter Berücksichtigung der erwähnten Freiheitsrechte auszulegen
sei. Im vorliegenden Fall sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass
die Gesundheit des Beschwerdeführers so angeschlagen sei, dass nicht
nur die Gefahr nicht wiedergutzumachender Schäden bestehe, sondern
auch eine Gefahr für das Leben des Beschwerdeführers, indem dieser
infolge der psychischen Schädigung die Kontrolle über sich verlieren und
Selbstmord begehen könnte. Die Weiterführung des Strafvollzugs bedeute
eine Bestätigung dieser Schädigung und verhindere die Heilung. Dann aber
sei der Strafvollzug mit der Garantie der persönlichen Freiheit und
Art. 3 EMRK unvereinbar, und es müsse die Strafe gemäss Art. 40 StGB
unterbrochen werden; darin liege nämlich ein wichtiger Grund im Sinne
dieser Bestimmung. Eine andere Möglichkeit gebe es nicht, so dass auch
das Prinzip der Verhältnismässigkeit einen Strafunterbruch verlange. Die
von der Vorinstanz angeführte Interessenabwägung mit dem Interesse des
Staates nach öffentlicher Sicherheit könne nicht dazu führen, dass ein
Sträfling gesundheitlich "kaputtgeht oder gar stirbt". Im übrigen sei
der Hinweis auf die öffentliche Sicherheit absurd, wenn man bedenke,
dass der Beschwerdeführer wegen seiner angeschlagenen Gesundheit gar
nicht mehr die Kraft habe, die öffentliche Sicherheit zu gefährden.

    a) Art. 40 StGB bestimmt in Absatz 1, der Vollzug einer Freiheitsstrafe
dürfe nur aus wichtigen Gründen unterbrochen werden, und in Absatz 2, der
Aufenthalt in einer Heil- oder Pflegeanstalt, in welche der Verurteilte
während des Vollzuges verbracht werden müsse, sei grundsätzlich auf die
Strafe anzurechnen.

    Den genannten Bestimmungen ist kein Grundsatz zu entnehmen, demzufolge
eine vorhandene Hafterstehungsunfähigkeit zwingend zur Unterbrechung
des Strafvollzugs führen müsste. Es ergibt sich aus ihnen vielmehr,
dass eine Freiheitsstrafe grundsätzlich ohne Unterbruch zu vollstrecken
ist. Der wegen einer während des Strafvollzuges aufgetretenen Erkrankung
in eine Heil- oder Pflegeanstalt verbrachte Strafgefangene wird für die
Dauer seines dortigen Aufenthaltes regelmässig nicht hafterstehungsfähig,
d.h. fähig sein, die Strafe in der bisherigen Weise an sich vollziehen zu
lassen. Die Anrechnung eines solchen Aufenthaltes auf die Strafe macht
somit deutlich, dass Pflege und Heilung eines kranken Strafgefangenen
grundsätzlich im Rahmen eines gegebenenfalls modifizierten Strafvollzuges
durchzuführen sind. Diese gesetzgeberische Tendenz findet folgerichtig
ihren Niederschlag darin, dass der Bundesrat gemäss Art. 397bis Abs. 1
lit. g StGB zum Erlass ergänzender Bestimmungen über den Vollzug von
Strafen und Massnahmen an kranken, gebrechlichen oder betagten Personen
befugt ist und diese Kompetenz nunmehr auch den Kantonen zusteht (Art. 6
Abs. 1 VStGB 1). Es widerspricht deshalb Art. 40 StGB nicht, wenn die
zuständige Behörde ohne Unterbrechung des Strafvollzugs anderweitig
für die Gesundheit eines kranken Strafgefangenen sorgt, z.B. durch
Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt. Eine Ausnahme von der Regel
ist nur dort geboten, wo die Erkrankung derart ist, dass eine vollständige
Straferstehungsunfähigkeit von unabsehbarer oder mindestens langer Dauer
vorliegt und die Freilassung sich derart aufdrängt, dass der Gesichtspunkt
des Strafvollzugs gänzlich der Notwendigkeit von Pflege und Heilung
weichen muss. Wo jedoch neben einer zweckentsprechenden therapeutischen
Behandlung auch die Möglichkeit und Gewähr für eine den Umständen
angemessene Weiterführung der Strafe besteht, hat eine Unterbrechung
ihres Vollzugs zu unterbleiben (BGE 103 Ib 186 und nicht veröffentlichte
Erwägungen; s. auch VEB 26 Nr. 70 und dortige Verweisungen; BBl 1949 I
S. 1275). Diese Voraussetzung hat das Bundesgericht selbst im Falle einer
Strafgefangenen, die an einer lebensgefährdenden Krebserkrankung litt,
bejaht. Dabei darf auch den für den Betroffenen mit der Fortsetzung des
Strafvollzuges verbundenen Risiken das Interesse der Öffentlichkeit an der
Aufrechterhaltung der Haft gegenübergestellt werden. Schwere Delinquenz
ruft einem erhöhten Schutzbedürfnis der Gemeinschaft und verlangt deshalb
besondere Zurückhaltung in der Anwendung von Art. 40 StGB. Wo die
zuständige Behörde nach diesen Grundsätzen verfährt, kann deshalb von
einer Verletzung der Garantie der persönlichen Freiheit, des Prinzips der
Verhältnismässigkeit und des Art. 3 EMRK, dessen Gewährleistung übrigens
über den Schutz der Garantien der BV nicht hinausgeht (BGE 102 Ia 283),
keine Rede sein.

    b) Im vorliegenden Fall ist die Justizdirektion von diesen Grundsätzen
ausgegangen und hat sie auch zutreffend angewendet. Gutachter und
behandelnde Ärzte sind (auch nach dem letzten Stand der Dinge) der
Meinung, dass die Krankheitserscheinungen beim Beschwerdeführer nicht
ein solches Ausmass erreichen, dass der Strafvollzug unterbrochen werden
müsste. Nach den bereits erwähnten vom Bundesgericht erhobenen ergänzenden
Akten schlugen nach Fällung des angefochtenen Entscheides der Anstaltsarzt
Dr. Pestalozzi und der Anstaltspsychiater Dr. Reller zwar Verbesserungen im
Haftregime vor, hielten aber eine völlige Freilassung des Beschwerdeführers
nicht für geboten. Haftverbesserungen sind von der zuständigen Behörde
bereits angeordnet worden, auch wenn diese nicht in einer von den Ärzten
zunächst angeregten Verlegung des Beschwerdeführers in den Verwahrungsbau
der Anstalt bestehen. Indem die Behörde versucht, die Haftbedingungen
Stürms so zu gestalten, dass nicht nur dem Heilungs- sondern auch dem
Sicherungsbedürfnis Rechnung getragen wird, handelt sie sachgemäss und
in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Was in
der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, kommt gegenüber dem Befund
der Ärzte, der eine Weiterführung des Strafvollzugs in einer den
gesundheitlichen Gegebenheiten des Beschwerdeführers und dem öffentlichen
Sicherheitsinteresse angemessenen Form zulässt, nicht auf.