Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 264



106 IV 264

68. Urteil des Kassationshofes vom 25. September 1980 i.S. J. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 18 Abs. 3, Art. 117 und 229 Abs. 2 StGB.

    1. Sorgfaltspflicht des Bauschaffenden, der statt der üblichen eine
ungewöhnliche Konstruktionsmethode wählt.

    2. Eine Regel der Baukunde ist anerkannt, wenn sie nach dem Stand
des Erfahrungswissens unbestritten ist.

Sachverhalt

    A.- J. hatte als verantwortlicher Bauleiter der Firma B. AG für
die Sicherung des Hangs oberhalb des Trasses der N 8 und der SBB eine
ungewöhnliche Konstruktionsmethode gewählt: Die ca. 28 t schweren, 5
x 5 x 0,45 m messenden Elemente aus armiertem Beton wurden zunächst in
senkrechter Stellung auf kippbaren Eisenschemeln betoniert und nachher
gegen den Hang gekippt. Gegen vorzeitiges Umkippen wurden Holzabstützungen
angebracht und die Kippschemel durch Eisenbolzen blockiert. Dennoch geriet
am 16. Februar 1976 ein eben fertiggestelltes Element vorzeitig ins Kippen,
die Holzabstützungen und Eisenbolzen hielten nicht stand und der auf dem
Element stehende Arbeiter G. wurde zwischen Element und Wand erdrückt.

    B.- Am 11. Oktober 1979 verurteilte das Kantonsgericht Obwalden
J. wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) und fahrlässiger Gefährdung
durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 Abs. 2 StGB) zu einer
bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 500.--. Die von J. gegen dieses
Urteil eingereichte Berufung wies das Obergericht des Kantons Obwalden
am 29. Mai 1980 ab.

    C.- J. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zu neuem Entscheid an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Aus der Beschwerdebegründung geht hervor,
dass J. Rückweisung zur Freisprechung von beiden Anklagepunkten verlangt.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In den beiden von der Strafkommission Obwalden eingeholten
fachtechnischen Gutachten wird übereinstimmend ausgeführt, dass der labile
Gleichgewichtszustand, in dem sich die Elemente bis zu ihrem Umkippen
an den Hang befanden, leicht durch von aussen wirkende Horizontalkräfte,
mit denen im Tiefbau stets zu rechnen sei, gestört werden könne. Dieses
grosse Gefahrenmoment könne nur durch die Anordnung von dauernd wirksamen,
"narrensicheren" Abstützungen oder Verankerungen sicher ausgeschaltet
werden. Im vorliegenden Fall seien die Regeln der Baukunst missachtet
worden, indem "bei den Überlegungen der Sicherheit des Bauvorganges
die Einwirkung von unvorhergesehenen äussern Kräften ganz ausser acht
gelassen" worden sei (Gutachten Sch.) und somit "die Kippsicherheit des
Elementes nicht bis zum Abschluss des Umlegens bei üblichen Vorkommnissen
dauernd gewährleistet" gewesen sei (Gutachten M.). Der Standsicherheit
des Bauwerkes hätten einzig die nach den Regeln des Stahlbaus untauglich
konstruierten Sicherungsbolzen gedient (Gutachten Sch.). Im Gutachten
M. wird beigefügt, dass die objektive Gefährlichkeit des gewählten
ungewöhnlichen Bauvorganges allerdings nicht offensichtlich und nicht ohne
weiteres erkennbar gewesen sei und dass das zu lösende Problem ausserhalb
des allgemeinen Erfahrungsbereichs eines Bauschaffenden und auch am Rande
dessen liege, was in der Ausbildung gelehrt werde.

    Aus diesen Gutachten schlossen die kantonalen Gerichte auf fahrlässige
Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde und, da der Tod des G.
zweifelsfrei auf das Kippen des Betonelementes mangels genügender Sicherung
zurückzuführen war, was nicht bestritten wird, auf fahrlässige Tötung.

Erwägung 2

    2.- In der Nichtigkeitsbeschwerde wird zur Hauptsache geltend gemacht,
was nicht ohne weiteres erkennbar sei und ausserhalb des allgemeinen
Erfahrungsbereichs und auch am Rande dessen liege, was in der Ausbildung
gelehrt werde, sei für J. nicht voraussehbar gewesen. Der Vorwurf der
Fahrlässigkeit setze aber die Voraussehbarkeit der eingetretenen Folgen
voraus. Was nicht voraussehbar sei, könne nicht bedacht und es könne
darauf nicht Rücksicht genommen werden. Da J. die eingetretenen Folgen
nicht habe voraussehen können, habe er auch nicht die entsprechenden
Sicherheitsvorkehren treffen können und auch keinen Anlass gehabt, einen
Spezialisten beizuziehen.

    Zu prüfen ist somit, ob die Vorinstanz von einem richtigen Begriff der
Fahrlässigkeit ausgegangen ist. Die Würdigung der fachtechnischen Gutachten
durch die kantonalen Gerichte ist eine Frage der Beweiswürdigung, die
im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde, mit der einzig
Bundesrechtsverletzungen gerügt werden können (Art. 269 Abs. 1 BStP),
nicht aufgeworfen werden kann.

    a) Beim Beschwerdeführer handelt es sich nicht um einen untergeordneten
Handlanger, der eine Ungeschicklichkeit beging, über deren Tragweite
er auch bei sorgfältiger Überlegung sich nicht im Klaren sein konnte;
der Beschwerdeführer war der von der mit der Bauausführung beauftragten
Firma eingesetzte Bauleiter, der die Verantwortung für Art und Ablauf
der Arbeiten trug. Er ist diplomierter Baumeister und in seinem
Beruf erfahren. Für die Sicherung des Hangs standen ihm verschiedene
Möglichkeiten zur Verfügung. Er konnte entweder eine Ausführung wählen,
die allgemein üblich und ihm voll vertraut war, so dass er aus eigener
Sachkunde die nötigen Sicherheitsvorkehren treffen konnte. Wählte er statt
dessen eine ungewöhnliche Konstruktion, deren Besonderheiten ihm weder
von seiner Ausbildung her noch aus eigener Erfahrung bekannt waren, so
musste er sich entweder selbst noch vorher diese Kenntnisse verschaffen
oder einen ausgewiesenen Fachmann beiziehen. Er hat weder das eine
noch das andere getan. Dass eine senkrecht auf Kippschemeln errichtete
Betonmauer von 28 t Gewicht und 5 x 5 x 0,45 m Ausmass einer erheblichen
Gefahr des Umkippens infolge der Einwirkung von Horizontalkräften oder des
Nachgebens des Untergrundes ausgesetzt ist, ist sogar für den technischen
Laien offensichtlich und war auch dem Beschwerdeführer bewusst, hat er
doch Sicherheitsmassnahmen gegen ein vorzeitiges Kippen getroffen. Dabei
vernachlässigte er aber die nach Meinung der Experten allgemein (also
auch für J.) bekannte Wahrscheinlichkeit erheblicher Querkräfte und
unterliess es, sich auf irgendeine Art darüber Klarheit zu verschaffen,
ob die getroffenen Sicherungen ausreichten.

    b) Der in der Nichtigkeitsbeschwerde behauptete Widerspruch
zwischen den Erwägungen des Kantonsgerichts und jenen des Obergerichts
ist nur scheinbar. Die 1. Instanz legte das Hauptgewicht darauf, dass
die Sicherheitsmassnahmen offensichtlich in Verletzung der Regeln der
Baukunde ganz ungenügend waren. Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer
dagegen vor allem vor, keinen Fachmann beigezogen zu haben. So oder anders
lautet der Vorwurf dahin, J. habe die ihm als dipl. Baumeister und als
Bauleiter obliegende Sorgfaltspflicht verletzt, indem er das Betonelement
ungenügend sicherte. Ob er bei pflichtgemässer Sorgfalt von sich aus eine
ausreichende Sicherheit hätte einbauen oder mangels genügender eigener
Kenntnisse hätte einen Spezialisten beiziehen sollen, ändert an der
strafrechtlichen Beurteilung nichts. Entweder hat der Beschwerdeführer
trotz ausreichender Kenntnisse zu wenig sorgfältig gesichert, oder dann
hat er, obwohl ihm seine mangelnden Kenntnisse bewusst sein mussten,
ohne Beizug eines Fachmannes nach Gutdünken eine Sicherung getroffen,
die sich in der Folge als völlig ungenügend erwies. In beiden Fällen
trifft ihn der Vorwurf der Fahrlässigkeit.

    c) Der Hinweis auf die summarischen Fachkenntnisse seines
Mitarbeiters G. vermag den Beschwerdeführer nicht zu entlasten. Für
die Planung und Ausführung war J. verantwortlich. Ob ihm auch dann
Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könnte, wenn G. eine bessere fachliche
Ausbildung besessen hätte als er selbst, braucht hier nicht untersucht
zu werden. Gerade auch der Umstand, dass G. über noch weniger Kenntnisse
(in Statik, etc.) verfügte, hätte den Beschwerdeführer im Rahmen seiner
Berufspflichten dazu veranlassen müssen, entweder eine ihm genau bekannte
Konstruktionsmethode zu wählen oder sich die Kenntnisse über die möglichen
Einwirkungen auf ein im labilen Gleichgewicht stehendes Betonelement
dieses Ausmasses und die daraus resultierende Kippgefahr vorerst selber
zu verschaffen oder einen Spezialisten beizuziehen.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer macht schliesslich zu Unrecht geltend, der
Tatbestand von Art. 229 Abs. 2 StGB sei schon in objektiver Hinsicht nicht
erfüllt. Dass nach den Ausführungen des Gutachters M. das gestellte Problem
"ausserhalb dem allgemeinen Erfahrungsbereich eines Bauschaffenden und auch
am Rande dessen, was in der Ausbildung gelehrt wird", liegt (Gutachten M.),
bedeutet entgegen der in der Nichtigkeitsbeschwerde vertretenen Auffassung
nicht, dass die Sicherheitsvorkehren, die nach der übereinstimmenden
Ansicht der Experten zur Vermeidung des Umkippens des Betonelementes
hätten getroffen werden müssen, nicht zu den "anerkannten Regeln der
Baukunde" gehören. In beiden Gutachten wird denn auch eine Missachtung
(Gutachten M.) bzw. gar eine grobe Missachtung (Gutachten Sch.) der Regeln
der Baukunst bejaht. Zu den anerkannten Regeln der Baukunde im Sinne von
Art. 229 StGB gehören nicht nur jene Regeln, die ein Bauschaffender mit
der Ausbildung und Erfahrung des Beschwerdeführers kennt, sondern auch
jene Gesetze und Regeln, die allenfalls nur ein akademisch gebildeter
Ingenieur oder Architekt kennen kann. Entscheidend ist, dass die
betreffende Regel nach dem Stand des Erfahrungswissens feststeht,
d.h. unbestritten ist. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.