Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 205



106 IV 205

57. Urteil des Kassationshofes vom 19. Juni 1980 i.S. N. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 397 StGB; Bundesgesetz über Ordnungsbussen im Strassenverkehr.

    Gegenüber rechtskräftigen Bussen, die im vereinfachten Verfahren
gemäss Bundesgesetz über Ordnungsbussen im Strassenverkehr ausgefällt
worden sind, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen neuer Tatsachen
und Beweismittel ausgeschlossen.

Sachverhalt

    A.- N. wurde am 21. Juli 1979 von der Stadtpolizei Zürich im
Ordnungsbussenverfahren mit Fr. 60.-- gebüsst, weil er mit übersetzter
Geschwindigkeit gefahren sei. Er bezahlte die Busse an Ort und Stelle.

    Am 17. Oktober 1979 stellte N. ein Wiederaufnahmegesuch mit der
Begründung, er habe im Zeitpunkt der Bussenzahlung wesentliche Tatsachen
nicht gekannt. Hätte er von ihnen Kenntnis gehabt, so hätte er das
ordentliche Strafverfahren beantragt.

    Die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich trat am
1. Februar 1980 auf das Gesuch nicht ein, weil das Ordnungsbussenverfahren
einer nachträglichen Revision nicht zugänglich sei.

    B.- N. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid
des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie auf das Wiederaufnahmegesuch eintrete.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 397
StGB. Er macht geltend, die Vorinstanz habe das fundamentale Postulat
der Gerechtigkeit und objektiven Wahrheit, das dieser Bestimmung
zugrunde liege, aufgrund einer Überbewertung von pragmatischen
Zweckmässigkeitsgründen völlig ausser Acht gelassen.

    Gemäss Art. 397 StGB haben die Kantone gegenüber Urteilen, die
aufgrund dieses oder eines andern Bundesgesetzes ergangen sind, wegen
erheblicher Tatsachen oder Beweismittel, die dem Gerichte zur Zeit des
früheren Verfahrens nicht bekannt waren, die Wiederaufnahme des Verfahrens
zugunsten des Verurteilten zu gestatten. Art. 397 StGB verpflichtet
somit die Kantone, das ausserordentliche Rechtsmittel der Revision in
ihre Strafprozessordnungen einzuführen und näher zu regeln. Kommt ein
Kanton dieser Verpflichtung nicht nach, so kann unmittelbar gestützt auf
Art. 397 die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten
verlangt werden.

    Art. 397 StGB wendet sich einzig an die Kantone, nicht an den Bund. Die
Bestimmung verpflichtet den eidgenössischen Gesetzgeber mithin nicht, in
seine Strafprozessordnungen das Rechtsmittel der Revision einzuführen. Ist
in Strafprozessgesetzen des Bundes die Wiederaufnahme des Verfahrens
zugunsten des Verurteilten nicht vorgesehen, so kann sie auch nicht
unmittelbar gestützt auf Art. 397 StGB verlangt werden.

Erwägung 2

    2.- Das bei der Anwendung der Strafbestimmungen des eidgenössischen
Strassenverkehrsrechts von den kantonalen Behörden einzuhaltende Verfahren
ist zur Hauptsache in kantonalen Erlassen (Strafprozessordnungen,
Gerichtsorganisationsgesetzen) geregelt.

    Der Bund sieht indessen im Bundesgesetz über Ordnungsbussen im
Strassenverkehr vom 24. Juni 1970 (OBG; SR 741.03) für verschiedene genau
bezeichnete Übertretungen von eidgenössischen Strassenverkehrsvorschriften
ein vereinfachtes Verfahren mit Ordnungsbussen bis zu Fr. 100.--
vor (Art. 1 Abs. 1 OBG). Sind die im Ordnungsbussengesetz und in der
dazugehörigen Verordnung vom 22. März 1972 umschriebenen Voraussetzungen
erfüllt, so muss die Strafverfolgung nach diesem vereinfachten Verfahren
erfolgen (BGE 105 IV 138 f.). Insoweit tritt das Ordnungsbussengesetz als
Verfahrensrecht des Bundes (vgl. dazu Botschaft des Bundesrates BBl 1969 I
S. 1 093; Amtl. Bull. N 1969 S. 759 Votum Schürmann, S. 762 Votum Cevey;
S 1969 S. 300 Voten Munz und Grosjean; BGE 103 IV 54) an die Stelle der
kantonalen Strafverfahrensrechte. Das vereinfachte Ordnungsbussenverfahren
bestimmt sich dabei "nach diesem Gesetz" (Art. 1 Abs. 1 OBG). Es fehlen
im OBG jegliche Hinweise und Anhaltspunkte dafür, dass, soweit das Gesetz
keine Bestimmungen enthält, ergänzend die kantonalen Strafprozessrechte
anwendbar seien und dass somit, falls das kantonale Recht die Revision
nicht zulassen sollte, unmittelbar aufgrund von Art. 397 StGB ein Anspruch
auf Wiederaufnahme des Verfahrens bestehe. Das Gesetz regelt im Gegenteil
ausdrücklich und abschliessend die Fälle, in denen das ordentliche
kantonale Strafverfahren Anwendung findet, obschon die Voraussetzungen
des Ordnungsbussenverfahrens an sich erfüllt wären; das ordentliche
Verfahren gemäss kantonalem Prozessrecht wird demnach dann durchgeführt,
wenn der Täter die Busse nicht spätestens innert 10 Tagen bezahlt (Art. 6
Abs. 2 und 7 Abs. 2 OBG), sowie wenn der Täter von der ihm mitzuteilenden
(Art. 10 Abs. 1 OBG) Möglichkeit Gebrauch macht, das vereinfachte Verfahren
abzulehnen (Art. 10 Abs. 2 OBG) und schliesslich, wenn anzunehmen ist, dass
der Täter wegen mehrfacher Wiederholung der Widerhandlung einer strengeren
Strafe bedarf (Art. 10 Abs. 3 OBG). Gegen die solchermassen im kantonalen
Verfahren ausgefällten Bussen können dann gegebenenfalls auch die in der
kantonalen Strafprozessordnung vorgesehenen Rechtsmittel ergriffen werden.
Sind hingegen die Voraussetzungen des Ordnungsbussenverfahrens erfüllt,
wird dieses vom Täter nicht (innert 10 Tagen) abgelehnt (was ohne Angabe
von Gründen geschehen kann), und hat er die Busse innert 10 Tagen bezahlt,
so bleibt für die Anwendung des kantonalen Strafprozessrechts kein Raum. Da
das Ordnungsbussengesetz, auch wenn es an die Stelle des kantonalen
Strafprozessrechts tritt, Bundesrecht darstellt, kann wie eingangs
erwähnt auch nicht unmittelbar aus Art. 397 StGB, der sich lediglich an
den kantonalen Gesetzgeber wendet, ein Anspruch auf Wiederaufnahme des
Verfahrens zugunsten des Verurteilten abgeleitet werden.

Erwägung 3

    3.- Gewiss kann unter Umständen ein Bedürfnis nach Überprüfung
rechtskräftiger Ordnungsbussen bestehen, obschon oder gerade weil sie in
einem vereinfachten Verfahren ausgefällt werden. Die Tatsache, dass die
Bussenverfügung in einem vereinfachten Verfahren ergangen ist, schliesst
die Möglichkeit einer Revision an sich nicht aus (vgl. BGE 100 IV 250 E. 2b
mit Hinweisen). Aus Sinn und Zweck sowie aus der Entstehungsgeschichte des
Ordnungsbussengesetzes ergibt sich aber die Richtigkeit der Auffassung des
Obergerichts, wonach gegen im Ordnungsbussenverfahren ergangene Entscheide
die Revision nicht gegeben ist. So folgt aus Art. 1 OBG und der Verordnung
über Ordnungsbussen im Strassenverkehr (OBV; SR 741.031) mit ihrem Anhang
1 als erstes, dass bestimmte Kategorien leichter Verkehrswidrigkeiten,
deren Feststellung ihrer Natur nach mühelos möglich ist, in einem einfachen
Verfahren geahndet werden sollen (s. BGE 105 IV 141). Zu diesem Zweck wird
nicht nur auf die Anwendung der ordentlichen Strafzumessungsnormen (Art. 48
und 63 StGB) verzichtet, die zwangsläufig Erhebungen über das Vorleben und
die persönlichen Verhältnisse des Täters notwendig machen würden (Art. 1
Abs. 2 OBG; Amtl.Bull. S 1969 S. 300 Votum Munz), sondern es wird auch mit
Einwilligung des Betroffenen das Verfahren ausschliesslich in die Hand der
Polizei gegeben (Art. 4 OBG) und allein deren Feststellungen zur Grundlage
des dem Täter gemachten Vorhalts und des Strafentscheides gemacht, unter
Verzicht auf ein Beweisverfahren. Zudem wird die Sache mit der Bezahlung
der Geldstrafe rechtskräftig beendet (Art. 8 OBG). Daraus erhellt, dass der
Gesetzgeber mit Einführung dieses Verfahrens den Strafentscheid praktisch
auf einen mechanischen Vorgang reduziert hat (Botschaft des Bundesrates,
BBl 1969 I, 2 S. 1 091), und dies u.a. mit dem erklärten Ziele, den
Richter von der Vielzahl leichter Übertretungen von Verkehrsregeln zu
entlasten (Botschaft des Bundesrates, loc. cit.; Amtl.Bull. N 1969 S. 761
Votum Cevey, S. 763 Votum Bratschi; S 1969 S. 300 Votum Grosjean).

    Die Zulassung der Revision würde diesem vom Gesetzgeber verfolgten
Zweck zuwiderlaufen, da auf diesem Weg jeder im Verfahren nach OBG Gebüsste
nachträglich unter Geltendmachung neuer Tatsachen und Beweismittel die
Angelegenheit vor den Richter bringen könnte. Das aber kann nicht der Sinn
des Gesetzes sein. Der Umstand, dass Art. 8 OBG schon jeden ordentlichen
Rechtsmittelweg ausschliesst, stünde zwar der Zulassung der Revision
nicht entgegen, ist aber doch ein Indiz für den Willen des Gesetzgebers,
den Richter nicht mit solchen Bagatellfällen zu befassen. Schliesslich
macht auch die Ausnahmebestimmung des Art. 11 Abs. 2 OBG, welche die
nachträgliche Anrufung des Richters ausdrücklich nur bei Missachtung von
Art. 2 OBG zulässt, deutlich, dass für den Regelfall die Angelegenheit mit
der Bezahlung der Busse endgültig erledigt sein soll und nachher nicht
erneut soll aufgegriffen werden können (s. Botschaft des Bundesrates,
loc. cit.), auch nicht auf dem Weg der Revision.

    Art. 11 Abs. 1 OBG, wonach eine Ordnungsbusse auch im ordentlichen
Verfahren ausgefällt werden kann, bietet ebenfalls keine Grundlage für
die Zulassung der Revision von Ordnungsbussen, die im vereinfachten
Verfahren gemäss OBG ergangen sind. Diese Bestimmung hat einzig die
Bedeutung, dass auch dann, wenn aus den umschriebenen Gründen eine
grundsätzlich dem Ordnungsbussenrecht unterstehende Übertretung im
ordentlichen Verfahren zu beurteilen ist, die Möglichkeit bestehen soll,
ohne Abklärung des Vorlebens und der persönlichen Verhältnisse eine
(kostenfreie) Ordnungsbusse auszufällen (BGE 105 IV 139 E. 3).

Erwägung 4

    4.- Die Auffassung der Vorinstanz, die im vereinfachten Verfahren
gemäss OBG ausgefällte Ordnungsbusse sei nicht revisionsfähig, weshalb auf
das Revisionsgesuch nicht eingetreten werden könne, verstösst somit weder
gegen Art. 397 StGB noch gegen eine andere Bestimmung des Bundesrechts.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.