Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 189



106 IV 189

54. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. Juni 1980 i.S. A. und
I. L. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 305 StGB.

    1. Wer einem Gefangenen, der von einem Urlaub nicht in die Strafanstalt
zurückkehrt, durch Beherbergen und finanzielle Unterstützung ermöglicht,
sich dem Strafvollzug auf unbestimmte Zeit zu entziehen, erfüllt den
Tatbestand der Begünstigung (E. 2).

    2. Art. 305 Abs. 2 StGB stellt keinen gesetzlichen
Schuldausschliessungsgrund dar, noch ermöglicht er eine obligatorische
Strafbefreiung. Der Richter ist vielmehr befugt, dort, wo zwischen Täter
und Begünstigtem eine so nahe Beziehung besteht, dass die Tat menschlich
verständlich erscheint, die Strafe nach freiem Ermessen zu mildern oder
gar von einer Bestrafung Umgang zu nehmen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Sohn der Eheleute A. und I. L. hatte wegen Vergehen gegen
das Betäubungsmittelgesetz in der Kantonalen Strafanstalt Regensdorf
eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren zu verbüssen. Aus dem ihm für den
17./18. Juli 1975 bewilligten Beziehungsurlaub kehrte er nicht wieder in
die Anstalt zurück. Er hielt sich in der Folge zeitweise im Ausland und
zeitweise in der Wohnung seiner Eltern in Zürich auf. Am 8. August 1976
wurde er in Bern verhaftet.

    Gegen die Eltern A. und I. L. wurde ein Strafverfahren wegen
fortgesetzter Begünstigung eingeleitet. A. L. wird vorgeworfen, seinem Sohn
in der Zeit vom 4. August 1975 bis ca. 14. Juli 1976 durch Überweisung von
Bargeldbeträgen in unbekannter Höhe die Bestreitung des Lebensunterhaltes
vollumfänglich oder zumindest grösstenteils ermöglicht zu haben. Den
Eheleuten A. und I. L. wird sodann zur Last gelegt, dass sie ihrem Sohn
vom ca. 16. Juli 1976 bis ca. 7. August 1976 an ihrem Wohnort in Zürich
Kost und Logis gewährten und ihm Geld zukommen liessen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Mit der Nichtigkeitsbeschwerde wird geltend gemacht, das
"Beherbergen" des Sohnes in der eigenen Wohnung (Juli-August 1976)
erfülle den Tatbestand der Begünstigung nicht.

    a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 103 IV 98, 104
IV 189 E. 2, vgl. auch 99 IV 277 ff.) fällt unter Art. 305 StGB auch,
wer einem von den Strafverfolgungs- oder Strafvollzugsbehörden Gesuchten
in seiner Wohnung Unterkunft und Verpflegung gewährt und damit wesentlich
dazu beiträgt, dass der Gesuchte nicht gefunden werden kann.

    Diese Praxis ist von SCHUBARTH in der Festgabe Schultz ("Lebendiges
Strafrecht" ZStr 94 S. 158 ff.) kritisiert worden. SCHUBARTH vertritt die
Auffassung, das blosse Beherbergen eines Fliehenden könne nicht strafbar
sein, denn eine solche Hilfeleistung entspreche der christlichen Ethik. Er
begründet seine Forderung nach einer einschränkenden Interpretation
von Art. 305 StGB vor allem unter Hinweis auf die Zwangssituation, in
welcher sich Vertrauenspersonen (Eltern, Fürsorger, Freunde) befinden,
die von einem Geflüchteten um Hilfe angegangen werden. Auf ähnlichen
Überlegungen beruht wohl die Bemerkung von STRATENWERTH (Schweizerisches
Strafrecht, bes. Teil II, 2. A. S. 329), grundsätzlich sei es gerade
keine Begünstigung, "einem Flüchtigen etwa Nahrung oder Obhut zu gewähren,
wenn dadurch nicht seine Flucht gefördert werden soll".

    b) Den Kritikern ist zuzugestehen, dass es seltene Fälle geben kann,
bei denen das kurzfristige Beherbergen eines aus einer Vollzugsanstalt
Entwichenen als elementare, ethisch gebotene Hilfe erscheint und kaum
strafwürdig ist. Ob in all diesen Fällen, in denen ein Geflüchteter für
einige Stunden oder Tage aufgenommen wird, nicht um die Flucht zu fördern,
sondern um eine kriminogene Notsituation zu verhindern und ihm Gelegenheit
zur Besinnung (eventuell zur freiwilligen Meldung bei der Polizei) zu
geben, durch Anwendung der Bestimmungen über die Rechtfertigungsgründe
und die Strafmilderung eine gerechte Lösung gefunden werden kann, braucht
hier nicht untersucht zu werden; denn die Beschwerdeführer haben ihren Sohn
nicht einfach in einer speziellen Notsituation für kurze Zeit aufgenommen,
sondern dessen über ein Jahr dauernde Flucht sowohl durch Überweisung der
nötigen finanziellen Mittel ins Ausland als auch durch das Beherbergen
auf unbestimmte Zeit faktisch in ganz erheblichem Masse gefördert.

    Die Strafdrohung - Minimum 3 Tage Gefängnis - sowie die Möglichkeit
des Strafverzichts gemäss Art. 305 Abs. 2 StGB zeigen übrigens,
dass auch menschlich verständliche, weitgehend oder ganz entschuldbare
Hilfeleistungen unter diese Strafnorm fallen sollen. Nach den angedrohten
Rechtsfolgen besteht kein Anlass zu einer restriktiven Interpretation
des gesetzlichen Tatbestandes.

    c) Mit dem Ausdruck "entzieht" wird in Art. 305 StGB die angestrebte
oder zumindest in Kauf genommene Auswirkung des deliktischen Verhaltens
des Begünstigers umschrieben.

    Nach Lehre und Praxis fällt jede vorsätzlich den tatbestandsmässigen
Erfolg herbeiführende Verhaltensweise unter diese Strafnorm. Wesentlich
ist, dass der Begünstigte tatsächlich mindestens für eine gewisse Zeit der
Strafverfolgung oder dem Strafvollzug entzogen wird (BGE 99 IV 276/277,
104 IV 186 ff.). Die Art der dies bewirkenden Handlung oder Unterlassung
wird durch keine gesetzlichen Kriterien eingeschränkt. Das Beherbergen
eines Flüchtigen ist - auch ohne eigentliches Verbergen - geeignet,
den zuständigen Behörden das Auffinden einer gesuchten Person stark
zu erschweren und so den Betroffenen dem Zugriff über längere Zeit zu
entziehen. Ob für diesen Erfolg zeitweise ein eigentliches "Verstecken"
notwendig ist, hängt vom Ort ab, wo der Geflüchtete untergebracht und mit
Nahrung versorgt wird. Das Beherbergen gehört zweifellos zu den Handlungen,
durch die ein Verdächtiger oder ein entwichener Sträfling vor dem Auffinden
geschützt und so im Sinne von Art. 305 StGB der Strafverfolgung oder dem
Strafvollzug entzogen werden kann. Diese häufige Form der wirkungsvollen
Förderung einer Flucht von der Bestrafung auszunehmen und sie dadurch
gegenüber andern "Begünstigungsarten" (wie insbesondere Unterstützung
mit Geld) zu privilegieren, lässt sich nicht rechtfertigen. Auch das
von SCHUBART (aaO, S. 162) vorgeschlagene Abgrenzungskriterium des
"Verbergens" würde nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen: Die
Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit einer Unterstützung des Geflüchteten
kann nicht davon abhängen, ob ein eigentliches Verbergen innerhalb des
Hauses nicht als notwendig erscheint, z.B. weil das Gebäude an sich
abgelegen ist (Ferienhaus), oder ob ein mehr oder weniger ausgeprägtes
Versteck geschaffen wird, weil nach den Umständen (Wohnung der Eltern,
Wohnung der Freundin) von vornherein damit gerechnet werden muss, dass
die Polizei den Geflüchteten in der Wohnung des Beherbergers suchen werde.

    d) Wer durch Beherbergen das Auffinden eines Geflüchteten erschwert
und so dessen Flucht in entscheidender Weise unterstützt, entzieht den
Geflüchteten der Strafverfolgung bzw. dem Strafvollzug und erfüllt
damit Art. 305 StGB. Indem die Vorinstanz das Gewähren von Unterkunft
und Verpflegung (auf unbestimmte Zeit, nicht nur zur Überbrückung einer
momentanen Notlage) als Begünstigung erfasst hat, verletzte sie keine
bundesrechtliche Bestimmung.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht hat den Beschwerdeführern zugute gehalten, dass
ihre Handlungsweise entschuldbar sei und daher gemäss Art. 305 Abs. 2
StGB von einer Bestrafung Umgang genommen. In der Nichtigkeitsbeschwerde
wird die Auffassung vertreten, die Anwendung dieser Bestimmung müsse
zu einem Freispruch führen; denn Art. 305 Abs. 2 StGB statuiere einen
Schuldausschliessungsgrund.

    a) Der Grundgedanke, der in Abs. 2 von Art. 305 StGB zum Ausdruck
kommt, erlaubt dem Richter die starke Verminderung der Schuld, die sich
aus der nahen Beziehung zwischen Täter und Begünstigtem ergeben kann,
weitgehend zu berücksichtigen und sogar von jeder Bestrafung Umgang zu
nehmen. "Der Richter hat nach freiem Ermessen zu prüfen, ob das Verhältnis
zwischen Täter und Begünstigtem derart ist ..., dass eine begünstigende
Unterstützung menschlich begreiflich ist, ja unter Umständen auch moralisch
gerechtfertigt werden kann" (HAFTER, Schweiz. Strafrecht, Bes. Teil,
2. Hälfte, S. 787/88). Dieser Grundgedanke hätte vom Gesetzgeber als Fall
der Schuldausschliessung und obligatorischen Strafbefreiung ausgestaltet
werden können (so im Entwurf zum StGB Art. 269 Abs. 2, vgl. HAFTER, aaO,
S. 787). Im geltenden Recht aber ist die nahe Beziehung zum Begünstigten
nicht ein obligatorischer Schuldausschliessungsgrund, sondern es wird dem
Richter die Befugnis eingeräumt, von einer Bestrafung Umgang zu nehmen
(fakultativer Schuldausschliessungsgrund, vgl. SCHULTZ, Einführung in den
Allgemeinen Teil des Strafrechts, 1. Band, 3. A., S. 167), was sinngemäss
auch die Strafmilderung nach freiem Ermessen erlaubt (BGE 74 IV 168).

    b) Die Wendung, der Richter könne "von Strafe Umgang nehmen", findet
sich ausser in Art. 305 Abs. 2 StGB noch in Art. 20 (Rechtsirrtum),
Art. 23 Abs. 2 (untauglicher Versuch aus Unverstand), Art. 138 Abs. 2
(Entwendung aus Not) sowie in Art. 214 Abs. 2 StGB. In allen diesen
Fällen ist nach der Konzeption des Gesetzgebers de lege lata der
Straftatbestand an sich erfüllt, und der Täter muss dementsprechend
schuldig gesprochen werden. Die weitgehende subjektive Entlastung des
Täters - die Entschuldbarkeit seines Verhaltens - führt zur Strafmilderung
oder zum vollständigen Verzicht auf eine Bestrafung, jedoch nicht zum
Freispruch (vgl. zu Art. 20 HAFTER, Allgemeiner Teil, 2. A., S. 189;
SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. A., S. 100).

    Was in der Nichtigkeitsbeschwerde über die Entschuldigungswirkung
von Art. 305 Abs. 2 StGB ausgeführt wird, vermag nichts daran zu ändern,
dass das geltende Gesetz mit der Formulierung "von einer Bestrafung
Umgang nehmen" nicht die Möglichkeit eines Freispruchs, sondern - wie
der Wortlaut zum Ausdruck bringt - nur die Möglichkeit eines Verzichts
auf jede Strafe geschaffen hat.

    Der angefochtene Schuldspruch verletzt somit Art. 305 StGB nicht,
sondern entspricht dem Bundesrecht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.