Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 183



106 IV 183

53. Urteil des Kassationshofes vom 26. Juni 1980 i.S. F. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 42 Ziff. 5 StGB. Aufhebung der Verwahrung vor Ablauf der normalen
Mindestdauer.

    1. Gegen richterliche Entscheidungen über Vollzugsfragen ist die
Nichtigkeitsbeschwerde gegeben.

    2. Materielle und formelle Voraussetzungen der vorzeitigen Aufhebung
der Verwahrung. Dem Verwahrten zustehende Rechtsbehelfe.

Sachverhalt

    A.- 1. Am 16. Mai 1978 verurteilte das Bezirksgericht Kulm F. wegen
wiederholten Diebstahls, Hausfriedensbruchs, wiederholter falscher
Anschuldigung und wegen Widerhandlung gegen das SVG zu zehn Monaten
Gefängnis, abzüglich 109 Tagen Untersuchungshaft, und zu Fr. 100.--
Busse. Anstelle des Strafvollzugs wurde gemäss Art. 42 Ziff. 1 StGB
die Verwahrung angeordnet. Das Obergericht des Kantons Aargau wies am
31. August 1978 eine Berufung des F. ab, und gleicherweise wurde eine
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde vom Bundesgericht am 23. Oktober
1978 abgewiesen, soweit auf sie einzutreten war.

    2. Die Justizdirektion des Kantons Appenzell A.Rh. verfügte am
27. November 1978 den Widerruf der F. am 3. Mai 1977 gewährten bedingten
Entlassung und die Verbüssung des Strafrestes von 198 Tagen Gefängnis
innerhalb des laufenden Massnahmevollzuges.

    3. Am 19. Juni 1979 wurde F. vom Bezirksgericht Wil wegen Nötigung zu
einer anderen unzüchtigen Handlung, wegen wiederholter Entwendung eines
Motorfahrzeuges zum Gebrauch, wiederholten Fahrens ohne Führerausweis,
Nichtbeherrschens des Fahrzeuges und Missbrauchs eines Ausweises zu acht
Wochen Gefängnis, abzüglich 29 Tagen Untersuchungshaft, verurteilt. Das
Gericht ordnete an, dass die Strafe in der laufenden Verwahrung des
Bezirksgerichtes Kulm aufgehe.

    B.- Am 6. November 1979 stellte F. bei der Justizabteilung des
Kantons Aargau das Gesuch, die Verwahrung nach Art. 42 Ziff. 5 StGB
auf Bewährung auszusetzen und ihm die Entlassung auf den 31. Januar
1980 zu bewilligen. Nach Einholung eines Berichtes bei der kantonalen
Strafanstalt Lenzburg überwies die Justizabteilung das Gesuch an die
Staatsanwaltschaft zur Antragstellung an das Bezirksgericht Kulm. Die
Staatsanwaltschaft stellte bei diesem am 26. November 1979 den Antrag
auf Abweisung des Gesuchs.

    Das Bezirksgericht Kulm beschloss am 8. Januar 1980, nachdem es
eine Verhandlung mit Befragung des Gesuchstellers durchgeführt hatte,
das Gesuch um vorzeitige Aufhebung der Verwahrung abzuweisen.

    Am 17. April 1980 wies das Obergericht des Kantons Aargau eine
gegen diesen Entscheid eingereichte Berufung des F. ab, hob jedoch den
angefochtenen Beschluss auf und berichtigte ihn dahin, dass auf das Gesuch
des F. nicht eingetreten werde.

    C.- F. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichts sei bezüglich der Ziffern 1 und 2 des Dispositivs aufzuheben
und die Sache zur materiellen Überprüfung der Voraussetzungen für eine
vorzeitige Aufhebung der Verwahrung gemäss Art. 42 Ziff. 5 StGB an die
zuständige richterliche Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 152 OG.

    Der Staatsanwalt des Kantons Aargau hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 42 Ziff. 5 StGB kann die Verwahrung auf Antrag
der zuständigen Behörde vom Richter ausnahmsweise schon vor Ende der
Mindestdauer von drei Jahren aufgehoben werden, wenn kein Grund zur
Verwahrung mehr besteht und zwei Drittel der Strafdauer abgelaufen sind.

    Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, das Gesetz verlange
ausdrücklich einen Antrag der zuständigen Behörde und räume somit dem
Verurteilten selber kein entsprechendes Antragsrecht ein. Hätte der
Gesetzgeber ihm ein solches zubilligen wollen, so hätte er den Satzteil
"auf Antrag der zuständigen Behörde" weggelassen. Aus den Materialien
ergebe sich nichts anderes. Der Gesetzgeber habe die ausnahmsweise
vorzeitige Aufhebung der Verwahrung sehr einschränkend interpretiert wissen
wollen; er habe nur an Fälle gedacht, in denen ein Verwahrter infolge
physischer oder psychischer Erkrankung deliktsunfähig werde. Wollte man dem
Verwahrten ein Antragsrecht einräumen, würde das gegen den Wortlaut des
Gesetzes und den Willen des Gesetzgebers verstossen. Das Bezirksgericht
Kulm hätte deshalb richtigerweise auf das Gesuch des F. überhaupt nicht
eintreten sollen.

    Der Beschwerdeführer erblickt in diesem Entscheid eine Verletzung
von Art. 42 Ziff. 5 StGB und macht geltend, die Vorinstanz habe mit
ihrer Weigerung, einen materiellen Entscheid über die Voraussetzungen
der vorzeitigen Aufhebung der Verwahrung zu fällen, sich einer
Rechtsverweigerung schuldig gemacht und indirekt gegen Art. 4 BV
verstossen. Die Auslegung des Obergerichtes setze einen materiellen
Vorentscheid der zuständigen Behörde voraus, weil der Richter seinen
Entscheid nur dann zu treffen habe, falls die antragsberechtigte Behörde
überhaupt einen bzw. einen befürwortend en Antrag stelle. Weigere sie
sich, es zu tun, so liege darin ein materieller negativer Entscheid
über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 42 Ziff. 5 StGB. Selbst
wenn man dem Verwahrten ein Antragsrecht nicht zubilligen wolle, so
könne doch überhaupt nicht zweifelhaft sein, dass ihm jedenfalls ein
Anspruch auf richtige Anwendung und Berücksichtigung der Kriterien
der vorzeitigen Aufhebung der Verwahrung für den Fall eines negativen
Entscheides zustehe. Es könne auf keinen Fall der Sinn des umschriebenen
Satzteils jener Bestimmung sein, den Entscheid über die Antragsstellung
vollständig dem nicht überprüfbaren Belieben der zuständigen Behörde zu
überlassen. Da nach begründeter Auffassung der Charakter der Vorschrift
als Ausnahmeregelung nicht dazu führen könne, dass dem Verurteilten
schlechthin jedes Recht auf Überprüfung des Entscheides bezüglich der
Rechtsanwendung abgesprochen werde, so sei auf dessen Gesuch hin stets
ein Antrag von der zuständigen Behörde zu stellen, und es habe in jedem
Fall der Richter über diesen zu entscheiden.

Erwägung 2

    2.- Die angefochtene Entscheidung betrifft zwar nicht die
Strafverfolgung, sondern den Straf- bzw. Massnahmevollzug. Doch
betrachtet die Rechtsprechung Entscheide, die gemäss Strafgesetzbuch
(vgl. z.B. Art. 41 Ziff. 3, 43 Ziff. 5, 44 Ziff. 3 StGB) vom Richter
gefällt werden, als Urteile im Sinne von Art. 268 Ziff. 1 BStP, weil sie
nach Auffassung des Gesetzgebers das ursprüngliche Urteil nicht bloss
im normalen Gang vollziehen, sondern es vielmehr nachträglich inhaltlich
abändern bzw. wesentlich mitgestalten und aus diesem Grunde dem Richter
vorbehalten sind. Aus praktischen Gründen ist diese Linie, von der
einzig der Art. 45 Ziff. 6 StGB betreffende BGE 101 Ib 157 abweicht,
ohne aber zur Frage Stellung zu nehmen, weiterhin zu befolgen. Da nach
Art. 42 Ziff. 5 StGB der Richter zur vorzeitigen Aufhebung der Verwahrung
zuständig ist, wird die Verletzung dieser Bestimmung richtigerweise
mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde und nicht mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gerügt.

Erwägung 3

    3.- In der Sache selbst ist davon auszugehen, dass es sich - wie
schon aus dem Wortlaut des Gesetzes erhellt - bei Art. 42 Ziff. 5 StGB um
eine Ausnahmebestimmung handelt, die den Fall einer ausserordentlichen
Beendigung der Verwahrung regelt. Anders als bei der ordentlichen
Beendigung dieser Massnahme gemäss Art. 42 Ziff. 4 StGB geht es hier
darum, schon vor Ablauf der normalen Mindestdauer von drei Jahren die
Verwahrung ohne Ansetzung einer Probezeit schlechthin aufzuheben, sofern
zwei Drittel der Strafdauer abgelaufen sind und kein Grund zur Verwahrung
mehr besteht. Diese Voraussetzung ist jedoch nur erfüllt, wenn mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Verwahrte nach
seiner Entlassung auch ohne weitere Betreuung und Beaufsichtigung keine
weiteren Straftaten mehr verüben wird, d.h. also, wenn er im Gefolge von
Unfällen, Operationen und dergleichen die Deliktsfähigkeit verloren hat
(Botschaft des Bundesrates, BBl 1965 I S. 575; Amtl.Bull. S 1967 S. 60
Votum Zellweger, N 1969 S. 116 Votum Schmid; JÖRG REHBERG, Fragen bei
der Anordnung und Aufhebung sichernder Massnahmen, ZStrR 93/1977, S. 221,
derselbe, Die Behandlung der Rückfälligen nach den revidierten Artikeln
42 und 67 StGB, ZStrR 89/1973, S. 292).

    Den Entscheid darüber hat der Gesetzgeber wegen der Tragweite desselben
dem Richter vorbehalten (Prot. ExpKo 1954-1959, A XI S. 75), ihn jedoch von
einem "Antrag der zuständigen Behörde" abhängig gemacht. Dass es sich dabei
nicht um eine blosse Vernehmlassung oder Meinungsäusserung handelt, die
der Richter von sich aus bei jener Behörde einholen könnte und die somit
nicht Vorbedingung für sein Eingreifen wäre, folgt aus den vom Gesetzgeber
verwendeten Worten. Anders als etwa in Art. 43 Ziff. 5,44 Ziff. 5 und 45
Ziff. 1 Abs. 3 StGB, wo vom Anhören des Arztes, von der Äusserung der
zuständigen Behörde, vom Einholen eines Berichtes der Anstaltsleitung
die Rede ist, spricht Art. 42 Ziff. 5 gleich dem Art. 45 Ziff. 3 Abs. 1-3
StGB vom Antrag der zuständigen Behörde an den Richter und bringt damit
zum Ausdruck, dass dieser mit der Sache nur befasst werden soll, wenn die
"zuständige Behörde", die in der Regel die Vollzugsbehörde ist und die
Verhältnisse des Verwahrten kennt, nach Prüfung der Angelegenheit zum
Schluss gekommen ist, dass bedeutsame Anhaltspunkte für ein Dahinfallen
der Deliktsfähigkeit des Verwahrten bestehen. Diese einschränkende
Auslegung entspricht auch dem Ausnahmecharakter des Art. 42 Ziff. 5
StGB und verhindert, dass die Gerichte schon vor Ablauf der gesetzlichen
Mindestdauer mit Entlassungsgesuchen belastet werden.

Erwägung 4

    4.- Wie die Vorinstanz zutreffend angenommen hat, steht ein
entsprechendes Antragsrecht dem Verwahrten selber nicht zu. Dies schliesst
indessen nicht aus, dass der Verwahrte die zuständige Behörde um die
Stellung eines Antrages im Sinne von Art. 42 Ziff. 5 StGB ersuchen kann,
wenn er zureichende Gründe für eine vorzeitige Aufhebung der Massnahme
geltend zu machen vermag. Auch wird man ihm die Gelegenheit einräumen
müssen, auf dem Rechtsweg seinen Standpunkt zu vertreten, wenn jene
Behörde seiner Meinung nach in Verletzung von Art. 42 Ziff. 5 StGB
untätig bleibt; denn nach dieser Bestimmung hat die zuständige Behörde,
deren positiver Antrag Voraussetzung für das richterliche Eingreifen
ist, von Amtes wegen nach pflichtgemässem Ermessen dafür zu sorgen,
dass die Massnahme rechtzeitig aufgehoben wird, wenn die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür gegeben sind (vgl. BGE 98 Ib 196; O.A. GERMANN,
Grundzüge der Partialrevision des schweizerischen StGB, ZStrR 87/1971,
S. 366).

Erwägung 5

    5.- Im vorliegenden Fall hat das Obergericht die Prüfung der Frage,
ob ausserordentliche Umstände für eine Aufhebung der Verwahrung nach
Art. 42 Ziff. 5 StGB bestünden, abgelehnt, weil die zuständige Behörde
keinen diesbezüglichen Antrag gestellt und dem Beschwerdeführer ein
entsprechendes Antragsrecht nicht zugestanden habe. Letzteres trifft
nach dem Gesagten zu. Auch entspricht es den Tatsachen, dass die
nach kantonalem Recht zuständige Behörde keinen positiven Antrag auf
Aufhebung der Verwahrung gestellt hat. Sie ist anderseits aber nicht
untätig geblieben, sondern hat das Gesuch des F. dem Bezirksgericht
Kulm überwiesen mit dem Antrag, es abzuweisen. Das entsprach bei der
oben gegebenen Auslegung des Art. 42 Ziff. 5 StGB jedoch nicht der
gesetzlichen Ordnung. Nach dieser soll der Richter nur tätig werden,
wenn die zuständige Behörde einen Antrag auf Aufhebung der Massnahme
für angebracht erachtet und auch stellt, nachdem ihre Prüfung sachliche
Anhaltspunkte für ein Dahinfallen der Deliktsfähigkeit des Verwahrten
ergeben hat. Wenn hingegen die zuständige Behörde die Voraussetzungen
einer vorzeitigen Aufhebung der Verwahrung als nicht erfüllt erachtet, hat
sie von einer Antragstellung an den Richter abzusehen; sie muss aber dem
Verwahrten ihren negativen Entscheid mitteilen, damit ihn der Betroffene
allenfalls je nach der Ausgestaltung des kantonalen Verfahrens auf dem
Verwaltungsweg oder dem Verwaltungsrechtsweg und schliesslich mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht anfechten kann. Da im
vorliegenden Fall die Behörde unrichtigerweise einen negativen Antrag
gestellt hat, auf den nicht eingetreten werden konnte, und sie ihre
negative Stellungnahme dem Verwahrten nicht eröffnet hat, bestand für
diesen bisher keine Anfechtungsmöglichkeit. Die zuständige Behörde
hat daher dem Verwahrten nachträglich ihre negative Stellungnahme in
Form einer Verfügung zu eröffnen, damit er dazu gegebenenfalls auf dem
Rechtsmittelweg Stellung nehmen kann.

Erwägung 6

    6.- Dem Gesuch des F. um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
im Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG kann entsprochen werden, da
sein Rechtsbegehren nicht von vornherein aussichtslos war und seine
Bedürftigkeit ausgewiesen ist.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.