Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IV 1



106 IV 1

1. Urteil des Kassationshofes vom 18. April 1980 i.S. L. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 34 Ziff. 2 StGB.

    Welche Fahrweise zum angestrebten Ziel der möglichst raschen Einweisung
eines Patienten ins Spital noch in angemessenem Verhältnis steht, hängt
von den konkreten Umständen ab. Notstandshilfe im vorliegenden Fall bejaht.

Sachverhalt

    A.- Am Abend des 5. Februar 1979 lenkte L. seinen Personenwagen "Toyota
Corolla" auf der Seestrasse von Rapperswil nach Zürich. Beim Lichtsignal
im Zentrum von Küsnacht benützte er die Rechtsabbiegespur, fuhr aber in
der Folge gleichwohl geradeaus. Auf der anschliessenden Fahrt überschritt
er die auf 60 km/h begrenzte Geschwindigkeit streckenweise massiv, indem
er seinen Wagen zeitweise bis auf 120 km/h beschleunigte.

    B.- In Bestätigung des Entscheides des Einzelrichters in Strafsachen
des Bezirksgerichts Meilen vom 29. Mai 1979 verurteilte die I. Strafkammer
des Obergerichts des Kantons Zürich L. am 8. November 1979 wegen grober
Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 90 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 27
Abs. 1 und Art. 32 SVG) zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von
Fr. 80.--.

    C.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde beantragt L., das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zur Freisprechung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Er beruft sich auf Putativnotstandshilfe.

    Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf Gegenbemerkungen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz stellt in tatsächlicher Hinsicht fest, L.  sei am
Abend des 5. Februar 1979 von einer Nachbarin, Frau M., um Hilfe für
deren Ehemann gebeten worden; Herr M. sei plötzlich von unerträglichen
Kopfschmerzen befallen worden und wimmernd und mit schmerzverzerrtem
Gesicht "wie ein Tier im Käfig" in der Wohnung umhergerannt. In Erinnerung
an ähnliche Fälle aus der Verwandtschaft des M. und dem Bekanntenkreis des
L., die tragisch geendet hätten, sei man in Panik geraten. Nachdem sich in
der Umgebung kein Arzt habe finden lassen, habe L. das Universitätsspital
Zürich angerufen; von diesem sei er angewiesen worden, M. sofort als
Notfall nach Zürich zu bringen. Auf der Fahrt nach Zürich habe L. die
ihm zur Last gelegten Widerhandlungen gegen das SVG begangen. In der
Klinik stellte sich das Leiden des M. als ungefährlich heraus.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 34 Ziff. 2 StGB ist die Tat, die jemand begeht, um
das Gut eines andern, namentlich Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Vermögen,
aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu erretten,
straflos. Konnte der Täter erkennen, dass dem Gefährdeten die Preisgabe
des gefährdeten Gutes zuzumuten war, so mildert der Richter die Strafe
nach freiem Ermessen (Art. 66 StGB). Darüber hinaus wird in Anlehnung an
Art. 33 Abs. 2 StGB die Strafe auch dann nach freiem Ermessen gemildert,
wenn der in Notstand oder als Notstandshelfer Handelnde die Grenzen des
Notstandes schuldhaft überschritt (vgl. SCHULTZ, Allgemeiner Teil, Bd. I,
3. Aufl., S. 153, SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Nr. 166,
S. 82).

    Das Obergericht bejahte an sich das Vorliegen einer Notstandssituation,
kam aber in Abwägung der in Frage stehenden Interessen zum Schluss, L. habe
mit seiner Fahrt das Gebot der Verhältnismässigkeit überschritten. Der
Beschwerdeführer macht demgegenüber geltend, die Vorinstanz habe dadurch,
dass sie ihm Notstandshilfeexzess vorwarf und die Strafe lediglich nach
freiem Ermessen milderte, Bundesrecht verletzt.

    a) Angesichts der sich ihm darbietenden Lage und der ihm bekannten
ähnlich gelagerten Fälle durfte L. den Schluss ziehen, rasche ärztliche
Hilfe sei geboten. Dass grosse Schmerzen von Laien bezüglich des Ernstes
der Lage oft überschätzt werden und dass sich die Pforten diverser Spitäler
und Notfallkliniken ohne Vorlage eines Arztzeugnisses oder Einlieferung
durch die Ambulanz auch dann nicht öffneten, wenn der Hilfesuchende über
noch so grosse Schmerzen klage, ist entgegen der Ansicht der Vorinstanz in
diesem Zusammenhang unerheblich. Gerade der medizinische Laie vermag nicht
zu beurteilen, ob die grossen Schmerzen im konkreten Fall auf Lebensgefahr
schliessen lassen oder - wie hier - verhältnismässig harmloser Natur
sind. Es darf ihm daher grundsätzlich kein Vorwurf gemacht werden, wenn er
im Zweifelsfall ihre Gefährlichkeit bejaht. Die Vorinstanz räumt denn auch
selber ein, "dass der Angeklagte gewiss zu raschem Handeln aufgerufen war".

    b) Der Versuch des L., in Rapperswil und Umgebung ärztliche Hilfe zu
erreichen, die Gefahr mithin auf andere Weise abzuwenden, war erfolglos.
Nachdem er auf seinen Anruf hin vom Zürcher Universitätsspital
angewiesen worden war, M. sofort als Notfall nach Zürich zu bringen,
die Klinik also zur notfallmässigen Untersuchung des M. bereit war,
bestand für den Beschwerdeführer weder Anlass noch Gelegenheit, noch
andere Massnahmen zur Abwendung der (vermeintlich) erheblichen Gefahr
für M. in Erwägung zu ziehen; insbesondere war er nicht gehalten,
sich etwa um eine Ambulanz zu bemühen, zumal sehr ungewiss war, ob
eine solche innert nützlicher Frist zur Verfügung gestanden hätte. Die
Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer denn auch nicht vor, er hätte die
für M. bestehende Gefahr mit grundsätzlich andern Mitteln abwenden sollen,
sondern sie führt lediglich aus, trotz des Gebots zu raschem Handeln
habe L. keinesfalls eine derartige Gefährdung der Verkehrssicherheit
schaffen dürfen, wie es das Fahren mit 100 oder 120 km/h unbestreitbar
darstelle. Das Obergericht kommt zum Schluss, "der Angeklagte hätte sich
unter allen Umständen überlegen müssen, die wenigen Minuten Zeitgewinn
stünden in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem durch die verwegene
Fahrweise heraufbeschworenen Gefahren".

    c) Soweit die Vorinstanz damit sagen will, der Faktor Zeit habe im
vorliegenden Fall keine überragende Rolle gespielt, kann ihr nicht gefolgt
werden. Nach allgemeiner Lebenserfahrung können gerade Schmerzen im Kopf
Symptom von Krankheiten sein, die nur bei raschem Eingreifen erfolgreich
behandelt werden können. Dies wird durch das von der Vorinstanz angeführte
Schreiben von Prof. F. vom Stoffwechsellabor der medizinischen Klinik
des Universitätsspitals Zürich bestätigt, wonach vor allem bei akut
auftretenden Kopfschmerzen wegen möglicher Lebensgefahr jede Sekunde von
grösster Wichtigkeit sei und in solchen Fällen nicht rasch genug gehandelt
werden könne.

    d) Welche Fahrweise zum angestrebten Ziel der möglichst raschen
Einweisung des Patienten ins Spital noch in angemessenem Verhältnis steht,
hängt von den konkreten Umständen ab.

    Die Strasse ist auf der fraglichen Strecke gut ausgebaut; sie ist
gegenüber den einmündenden Strassen vortrittsberechtigt. Den Fussgängern
stehen Trottoirs zur Verfügung. Der Beschwerdeführer kennt die Strecke
und ist als guter Automobilist ausgewiesen. Gewiss blieb die Fahrweise des
L. trotzdem gefährlich, zumal es dunkel war und regnete. Nach Auffassung
des Obergerichts waren vor allem Fussgänger, die sich auf der Fahrbahn
befinden konnten, gefährdet. Dass L. einen bestimmten Fussgänger (oder
einen andern Verkehrsteilnehmer) tatsächlich gefährdet habe, wird ihm
nicht vorgeworfen. Indem der Beschwerdeführer im Vertrauen auf sein
fahrerisches Können und seine Kenntnis der örtlichen Verhältnisse die
zulässige Höchstgeschwindigkeit streckenweise, nämlich dort, wo es ihm
vertretbar erschien, erheblich überschritt, ging er ein kalkuliertes Risiko
ein. Eine unter den gegebenen Umständen nicht zu verantwortende Gefahr
führte er nicht herbei. Das nicht markierte Polizeifahrzeug folgte ihm
mit gleicher Geschwindigkeit. Bei der Abwägung dessen, was auf dem Spiel
stand und dessen, was er aufs Spiel setzte, hat L. sich nicht schuldhaft
verhalten. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit
sie den Beschwerdeführer hinsichtlich des Vorwurfs der Überschreitung
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von Schuld und Strafe freispreche.

    e) Da der Beschwerdeführer zwecks Zeitgewinn beim Lichtsignal im
Zentrum Küsnachts trotz Benützung der Rechtsabbiegespur geradeaus fuhr,
wurde er von der ersten Instanz gestützt auf Art. 90 Ziff. 2 SVG auch
wegen Widerhandlung gegen Art. 27 SVG verurteilt. Das Obergericht hat
diese Verurteilung bestätigt. Sein Urteil führt aber keine Tatumstände
an, die den Schluss zuliessen, die Tat stehe in keinem vernünftigen
Verhältnis zum angestrebten Ziel der möglichst raschen Einlieferung des
M. ins Spital. Die Sache wird daher auch in diesem Punkt zur Freisprechung
des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts - I. Strafkammer - des Kantons Zürich vom 8. November 1979
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die
Vorinstanz zurückgewiesen.