Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 II 304



106 II 304

59. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Mai 1980 i.S. X.
gegen Erben der B. Y. (Berufung) Regeste

    Enterbung wegen schwerer Verletzung familienrechtlicher Pflichten
(Art. 477 Ziff. ZGB).

    Der Enterbungsgrund des Art. 477 Ziff. 2 ZGB ist gegeben, wenn der
Erbe schuldhaft und widerrechtlich in gesinnungs- und wirkungsmässig
schwerer Weise gegen seine familienrechtlichen Pflichten verstossen,
d.h. eine gesetzliche Bestimmung des Familienrechts verletzt hat; die
fragliche Handlung muss eine Untergrabung der Familiengemeinschaft zur
Folge gehabt haben.

Sachverhalt

    A.- Über X., den Sohn der A. Y., wurde am 9. November 1972 der Konkurs
eröffnet. Am 28. Mai 1973 wurde X. wegen wiederholter und fortgesetzter
Veruntreuung im Betrage von rund Fr. 324'000.-- zum Nachteil seines
Arbeitgebers, wiederholter Urkundenfälschung sowie wiederholten Betrugs
im Betrage von etwa Fr. 20'000.-- und Versuchs dazu zum Nachteil zweier
Kreditinstitute und eines Dritten zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt und
zur Schadensdeckung verpflichtet. Am 1. September 1972 hatte er zugunsten
seiner Mutter und deren Schwester, die von ihm Schulden übernommen hatten,
eine Schuldanerkennung unterschrieben.

    A. Y. errichtete am 23. April 1975 die folgende eigenhändige
letztwillige Verfügung:

    "1. Ich enterbe hiemit meinen Sohn... im Sinne von Art. 477, Ziffer
2 ZGB
   da dieser mir gegenüber seine ihm obliegenden familienrechtlichen
   Pflichten schwer verletzt hat durch seine strafbaren Handlungen,
   Veruntreuung,

    Urkundenfälschung u. Betrug gemäss Urteil... vom 28. Mai 1973
(Verurteilung
   zu 21 Monaten Gefängnis) wodurch mir schweres Leid zugefügt wurde.

    2. Hiemit setzte ich als alleinige Erbin für meine reine

    Hinterlassenschaft
   meine Schwester... ein. Ich bestätige, dass diese letztwillige Verfügung

    Ausdruck meines wirklichen Willens darstellt."

    Am 21. Januar 1976 starb A. Y. Als einzigen gesetzlichen Erben
hinterliess sie ihren Sohn. Am 31. Januar 1976 wurde ihr Testament
eröffnet.

    Mit Eingabe vom 25. Januar 1977 leitete X. beim Kantonsgericht gegen
seine durch das mütterliche Testament zur Alleinerbin eingesetzte Tante
B. Y. Klage ein mit dem Antrag, die letztwillige Verfügung seiner Mutter
sei ungültig zu erklären. B. Y. erhob Widerklage und verlangte, der Kläger
sei zu verpflichten, ihr Fr. 80'463. - nebst 5% Zins von Fr. 76'463.-- seit
1. Juli 1972 und 5% Zins von Fr. 4'000.-- seit 1. August 1972 zu zahlen.

    Mit Urteil vom 26. April 1978 wies das Kantonsgericht die Klage ab;
die Widerklage hiess es dagegen gut.

    Eine vom Kläger erhobene Berufung wurde vom Obergericht am 9. Mai 1979
im wesentlichen abgewiesen. Das Gericht änderte den erstinstanzlichen
Entscheid lediglich insofern ab, als es hinsichtlich der Widerklage
den Zinsanspruch bis zum 9. November 1972 (dem Datum der Eröffnung des
Konkurses über den Kläger) beschränkte.

    Am 12. Juli 1979 starb auch B. Y.

    Die vom Kläger gegen den obergerichtlichen Entscheid erhobene Berufung
heisst das Bundesgericht gut, soweit sie die Hauptklage betrifft.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 477 ZGB ist der Erblasser befugt, einem Erben
den Pflichtteil zu entziehen, wenn dieser gegen ihn oder eine ihm
nahe verbundene Person ein schweres Verbrechen begangen (Ziff. 1)
oder ihm bzw. einem seiner Angehörigen gegenüber die ihm, dem Erben,
obliegenden familienrechtlichen Pflichten verletzt hat (Ziff. 2). Das
schwere Verbrechen bildet mithin nur dann einen Enterbungsgrund, wenn
es gegen den Erblasser oder eine diesem nahe verbundene Person gerichtet
war (dazu ESCHER, N. 15, und TUOR, N. 14 und 24 zu Art. 477 ZGB; PIOTET,
Erbrecht, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/1 S. 420).

    Die Verfehlungen, deretwegen der Kläger im Jahre 1973... verurteilt
worden war, richteten sich weder gegen seine Mutter noch gegen deren
Schwester. Sie fallen deshalb, wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, als
Enterbungsgrund im Sinne von Art. 477 Ziff. 1 ZGB ausser Betracht. Soweit
der Kläger in der Berufungsschrift dartut, der Enterbungsgrund des
schweren Verbrechens sei nicht gegeben, sind seine Ausführungen demnach
gegenstandslos und muss auf sie nicht eingetreten werden.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz ging davon aus, dass der Enterbungsgrund der
schweren Verletzung familienrechtlicher Pflichten im Sinne von Art. 477
Ziff. 2 ZGB gegeben sei. Hiegegen wendet der Kläger ein, es liege weder
objektiv noch subjektiv eine schwere Verletzung der familienrechtlichen
Pflichten im Sinne der genannten Bestimmung vor und es fehle überdies an
einer rechtsgenügenden Angabe des Enterbungsgrundes im Testament.

    a) Ein Enterbungsgrund im Sinne von Art. 477 Ziff. 2 ZGB liegt
vor, wenn der Enterbte schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) und
rechtswidrig in gesinnungs- und wirkungsmässig schwerer Weise gegen
seine familienrechtlichen Pflichten verstossen hat (ESCHER, N. 6, 7
und 19, und TUOR, N. 15 und 16 zu Art. 477 ZGB; PIOTET, aaO S. 419 und
421 f.). Widerrechtlichkeit liegt nicht schon dann vor, wenn das dem
Enterbten zur Last gelegte Verhalten sittenwidrig oder den Wünschen des
Erblassers entgegengesetzt war (PIOTET, aaO S. 418) oder bloss moralische
Pflichten verletzte (vgl. ESCHER, N. 16 zu Art. 477 ZGB), sondern nur,
wenn es gegen das Gesetz verstiess; und zwar muss die Gesetzesverletzung
im Bereich des Familienrechts liegen. Wegen Verletzung einer gesetzlichen
Schadenersatzpflicht oder einer Vertragspflicht (zum Beispiel aus
Darlehensvertrag) ist eine Enterbung in der Regel nicht zulässig (TUOR,
N. 26 zu Art. 477 ZGB; PIOTET, aaO S. 418). Pflichtwidrige Handlungen im
Sinne von Art. 477 Ziff. 2 ZGB sind demnach solche, die dazu angetan sind,
die Familiengemeinschaft zu untergraben, und die diese Wirkung im einzelnen
Fall auch tatsächlich gehabt haben (BGE 76 II 272 mit Verweisungen; TUOR,
N. 12 zu Art. 477 ZGB).

    b) Ob eine schwere Verletzung der familienrechtlichen Pflichten
vorliege oder nicht, hängt von den Umständen des konkreten Falles, von
den Sitten und Anschauungen der betreffenden Kreise und auch vom Verhalten
des Erblassers selbst ab. Bei der Beurteilung der verschiedenen Umstände
ist dem richterlichen Ermessen ein weiter Spielraum gewährt (TUOR, N. 12
und 26 zu Art. 477 ZGB; PIOTET, aaO S. 422); das Bundesgericht greift nur
ein, wenn der kantonale Richter sein Ermessen eindeutig überschritten hat,
das heisst, wenn er wesentliche Gesichtspunkte grundlos ausser acht liess
oder Umstände berücksichtigte, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes nicht
hätten in Betracht gezogen werden dürfen (BGE 100 II 194).

    c) Aufgrund der verbindlichen Ausführungen im angefochtenen Urteil
steht fest, dass der Kläger infolge umfangreicher Veruntreuungen,
eines aufwendigen Lebenswandels und betrügerischer Darlehensaufnahmen in
immer grössere Schulden und Schwierigkeiten geriet. In dieser Situation
wandte er sich an seine Mutter und deren Schwester und veranlasste sie,
als Sicherheit für seine Schulden die den beiden zu Miteigentum gehörende
Liegenschaft durch verschiedene Schuldbriefe zu verpfänden. Schliesslich
sahen sich die beiden Frauen gezwungen, die Schulden des Klägers zu
übernehmen, um die Verwertung der Liegenschaft zu verhindern. Sie
gerieten dadurch in eine schwere finanzielle Notlage. Nachdem die
Ersparniskasse... interveniert und die Schulden abgelöst hatte, versuchte
der Kläger 1975, die Liegenschaft um weitere Fr. 15'000.-- zu belasten,
was der Direktor der Ersparniskasse jedoch verhindern konnte. Seine
gegenüber der Ersparniskasse abgegebenen Rückzahlungsversprechen hielt
der Kläger nicht.

    Indem der Kläger die versprochenen Rückzahlungen nicht
leistete, verstiess er primär gegen eine Vertragspflicht. Es ist
indessen zu berücksichtigen, dass seine Mutter dadurch in finanzielle
Schwierigkeiten geriet, verfügten doch sie und ihre Schwester gemäss seiner
Schuldanerkennung zusammen nur über ein monatliches Einkommen von rund
Fr. 1'000.--, wovon sie ungefähr Fr. 600.-- für Hypothekarzinsen aufbringen
mussten, so dass ihnen für die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes
monatlich lediglich noch etwa Fr. 400.-- zur Verfügung blieben. Nach
dem am 1. Januar 1978 in Kraft getretenen Art. 272 ZGB schulden Eltern
und Kinder einander allen Beistand, alle Rücksicht und Achtung, die
das Wohl der Gemeinschaft erfordert. Der frühere Art. 271 ZGB lautete
sinngemäss gleich. Verwandte in auf- und absteigender Linie sind überdies
verpflichtet, einander zu unterstützen, sobald sie ohne diesen Beistand
in Not geraten würden (Art. 328 Abs. 1 ZGB). Indem der Kläger es zuliess,
dass seine Mutter in der geschilderten Weise in finanzielle Not geriet,
verletzte er demnach nicht nur eine vertragliche Zahlungspflicht, sondern
auch seine familienrechtliche Beistands- und Unterstützungspflicht. In
diesem Sinne hat der Kläger gegen familienrechtliche Pflichten
verstossen. Angesichts des Umstandes, dass Mutter und Tante des Klägers
monatlich nur Fr. 400.-- für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung hatten,
erscheint die Pflichtverletzung objektiv als schwer.

    d) Wieweit die beiden Frauen aus eigenem Antrieb handelten und
wieweit ihre finanzielle Unerfahrenheit vom Kläger ausgenützt wurde, kann
dahingestellt bleiben, denn in Not gerieten jene erst dadurch, dass der
Kläger seinen Rückzahlungspflichten nicht nachkam. Die Schuldbriefe waren
ihm bewusst zum Zwecke der Schuldentilgung übergeben worden. Unter diesen
Umständen mussten die beiden Schwestern von vornherein damit rechnen,
dass er seine Schulden ihnen gegenüber nicht von heute auf morgen werde
zurückzahlen können.

    Gemäss der Schuldanerkennung vom 1. September 1972 übernahmen Mutter
und Tante des Klägers Schulden in der Höhe von insgesamt rund Fr. 80'000.--
per 30. Juni bzw. 31. Juli 1972. Dem Strafurteil... vom 28. Mai 1973 ist
zu entnehmen, dass der Kläger sich vom 29. Mai bis zum 13. September 1972,
mithin zur Zeit des Abschlusses der Vereinbarung vom 1. September 1972,
in Untersuchungshaft befand. Von dort aus kann er die beiden Frauen kaum
durch Manipulationen und rücksichtsloses Vorgehen zur Schuldübernahme
gezwungen haben. Jene scheinen sich von selbst zu diesem Schritt veranlasst
gesehen zu haben, um die Verwertung ihres Hauses abzuwenden.

    In der Schuldanerkennung vom 1. September 1972 verpflichtete
sich der Kläger, nach seiner Freilassung seine Schuld mit monatlich
mindestens Fr. 500.-- zu amortisieren. Bis zum 13. September 1972 war er
in Untersuchungshaft. Am 28. Mai 1973 wurde er zu 21 Monaten Gefängnis
verurteilt. Während der Strafverbüssung konnte er nichts gegen die drohende
Verwertung des Hauses unternehmen. Es ist ihm dagegen vorzuwerfen, dass
er in der Folge bis zur Testamentserrichtung am 23. April 1975 keine
Abzahlungen leistete, sondern im Gegenteil versuchte, die Liegenschaft
um weitere Fr. 15'000.-- zu belasten. Andererseits war er aber... zur
Schadensdeckung im Umfang von rund Fr. 345'000.-- verpflichtet worden. Er
behauptet, seinen neuen Arbeitsverdienst vorab zur Schadensdeckung
verwendet zu haben, und die Beklagte stellt dies nicht in Abrede.

    Bei der Beurteilung der subjektiven Schwere des klägerischen
Verhaltens dürfen sodann die persönlichen Verhältnisse nicht ausser
acht gelassen werden. Gemäss Strafurteil vom 28. Mai 1973 geriet
der Kläger schon verhältnismässig früh in Schulden, weil er für
eine Liebhaberei (den Fussball) viel Geld aufgewendet habe. Der
Grund für erste Veruntreuungen seien alsdann eheliche Schulden in
der Höhe von rund Fr. 100'000.-- gewesen, die teils durch Krankheit,
teils durch Misswirtschaft beider Ehegatten verursacht worden seien.
Später habe der Kläger Gelder veruntreut, die er zum grössten Teil für
Frauen ausgegeben habe, denen er in ungewöhnlicher Weise hörig gewesen
sei. Gemäss dem damals erstatteten psychiatrischen Gutachten sei der
Kläger zwar überdurchschnittlich intelligent, doch handle es sich bei ihm
um eine auf infantiler Stufe stehengebliebene, massiv fehlentwickelte,
neurotische Persönlichkeit mit möglicherweise psychopathischem Kern,
die sich durch Willensschwäche, Weichheit, Selbstunsicherheit und eine
gewisse Haltlosigkeit auszeichne. Der Gutachter hielt ihn bezüglich der
begangenen Verfehlungen für in mittlerem Grade vermindert zurechnungsfähig,
während das Obergericht ihm lediglich eine leichte Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit zubilligte. Dieses Persönlichkeitsbild des Klägers
ist im Sinne einer Entlastung mitzuberücksichtigen. Von einer subjektiv
schweren Verletzung familienrechtlicher Pflichten kann nach dem Gesagten
nicht gesprochen werden.

    e) Im übrigen steht nicht fest, dass das Verhalten des Klägers die
Bande zu seiner Mutter schwer beeinträchtigt oder gar zerstört hätte.

    Das Vorliegen eines streitigen Enterbungsgrundes ist vom Erben oder
Bedachten, der aus der Enterbung Vorteil zieht, zu beweisen (Art. 479
Abs. 2 ZGB; dazu auch TUOR, N. 7, und ESCHER, N. 4 zu Art. 479 ZGB). Der
Nachweis erschwerender Umstände obliegt derjenigen Partei, die von der
Enterbung profitiert, der Nachweis entlastender Umstände dagegen dem
Enterbten (PIOTET, aaO S. 422). Dass die familiären Bande zwischen dem
Kläger und seiner Mutter schwer beeinträchtigt oder zerstört gewesen
seien, hätte also die Rechtsvorgängerin der heutigen Beklagten beweisen
müssen. Einen solchen Beweis hat diese jedoch weder angetragen noch
erbracht. B. Y. beschränkte sich darauf, die Vorbringen des Klägers,
wonach die Beziehungen zwischen ihm und seiner Mutter stets gut gewesen
seien und ihm letztere nach der Aufdeckung der Straftaten weiterhin
zugetan gewesen sei, allgemein zu bestreiten. Sie hat weder behauptet
noch zum Beweis verstellt, dass die Erblasserin vom Kläger nichts mehr
habe wissen wollen und die Beziehungen zu ihm abgebrochen habe.

    f) Dass die Erblasserin ihre Verfügung in einem offenbaren Irrtum
über den Enterbungsgrund getroffen habe, ist nicht erstellt. Nach Art. 479
Abs. 3 ZGB hat der Kläger deshalb als auf den Pflichtteil gesetzt zu gelten
(dazu auch ESCHER, N. 3 zu Art. 479 ZGB).

Erwägung 4

    4.- Wird die Enterbung des Klägers aus den genannten Gründen
als ungültig betrachtet, braucht nicht geprüft zu werden, ob sie -
entsprechend der klägerischen Behauptung - auch deshalb ungültig sei, weil
der Enterbungsgrund in der letztwilligen Verfügung nicht rechtsgenügend
angegeben worden sei.